S 6 VE 2/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 6 VE 2/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein minderjähriges Opfer sexuellen Missbrauchs ist nach dem Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit regelmäßig ohne Verschulden gehindert, Beschädigtenversorgung nach dem OEG zu beantragen.

Dem Opfer ist ein Verschulden des gesetzlichen Vertreters, der selbst zwar an den Taten nicht beteiligt war, nicht zuzurechnen, wenn dieser die elterliche Sorge nur formal inne hat, die elterliche Sorge aber de facto grob vernachlässigt und sich erkennbar weigert, sich mit den Taten des ehemaligen Partners auseinanderzusetzen.
Der Bescheid vom 19.09.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17.12.2008 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, festzustellen, dass die Beigeladene in den Jahren 1997 bis 2001 Oper vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 OEG geworden ist und hierdurch eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat, die seit März 2001 mit einem GdS von 60 zu bewerten ist.

Der Beklagte wird des Weiteren verurteilt, der Beigeladenen eine Grundrente auf der Grundlage eines GdS von 60 seit März 2001 zu gewähren.

Der Beklagte und der Kläger haben der Beigeladenen jeweils ½ ihrer notwendigen außergerichtlichen Kosten und der Beklagte dem Kläger zusätzlich ½ seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob und in welchem Umfang und hierbei insbesondere, ab welchem Zeitpunkt der Beigeladenen Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zu gewähren sind.

Die 1990 geborene Beigeladene lebte nach dem Tod ihres leiblichen Vaters in der Zeit von 1993 bis März 2001 gemeinsam mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern mit einem Herrn S. zusammen in einem Haushalt. Herr S. war der neue Lebensgefährte der Mutter der Beigeladenen und wurde vom Landgericht A-Stadt () mit Urteil vom 14.08.2002 wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in 818 Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 737 Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern und dem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen in weiteren 216 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren verurteilt. Aus dem Urteil des Landgerichts geht u.a. hervor, dass die Beigeladene neben ihren Geschwistern über Jahre in Hunderten von Fällen sexuell missbraucht wurde, indem sie sexuelle Handlungen an Herrn S. bzw. auf Veranlassung von Herrn S. an den eigenen Geschwistern ausführen musste. Wegen der Einzelheiten wird auf das rechtskräftige Urteil des Landgerichts A-Stadt Bezug genommen.

Herr S. wurde im März 2001 verhaftet und kam in Untersuchungshaft. Die Beigeladene lebte in der Folgezeit ausweislich eines Vermerks des Klägers und hierbei des Jugendamtmitarbeiters X. zunächst bis zum Jahr 2007 weiter bei ihrer Mutter. Aus dem Vermerk geht hervor, dass die Zusammenarbeit des Jugendamtes, welches seit 2001 auch die ältere Schwester der Beigeladenen betreute, mit der Mutter der Beigeladenen sich als sehr schwierig gestaltete, da diese notwendige Termine nicht wahrnahm. Es sei – offenbar auch im Jahr 2007 - nach wie vor so, dass die Kindsmutter über dieses Thema schweige und ihren Töchtern nicht so recht glauben wolle, was zur Folge habe, dass es zwischen der Kindsmutter, die zunächst weiterhin gesetzliche Vertreterin der Beigeladenen gewesen ist, und der Beigeladenen immer wieder zu heftigen Konflikten komme. Nach der Gesamtbewertung des Jugendamtsmitarbeiters sollte die Beigeladene, die bislang keine Therapie absolviert habe, Hilfe im Rahmen des betreuten Wohnens erhalten, um eine geeignete Therapie zu finden. Die Familie der Beigeladenen sei nicht in der Lage, sie insoweit zu unterstützen. Es habe den Anschein, dass sich die Familie mit dem Missbrauchsthema nicht auseinandersetzen wolle (Bl. 2 Akte des Jugendamtes).

Am 10.07.2007 stellte die Mutter der Beigeladenen als gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung nach dem Kinder- und Jugendhilferecht (Bl. 3 Akte des Jugendamtes), wobei dem Protokoll über eine durchgeführte Erziehungskonferenz vom 14.08.2007 entnommen werden kann, dass sich die Beigeladene selbst beim Jugendamt um Hilfe bemüht hatte.

Mit Bescheid vom 14.08.2007 bewilligte der Kläger der Beigeladenen Leistungen in Form der Hilfe zur Erziehung (Bl. 6 Verwaltungsakte).

Ebenfalls mit Schriftsatz vom 14.08.2007 wandte sich der Kläger an den Beklagten und stellte nach § 97 SGB VIII einen Antrag auf Anerkennung einer Schädigung nach dem OEG. In diesem Schriftsatz gab der Kläger nicht an, welche Taten zulasten der Beigeladenen verübt worden seien, nahm aber Bezug auf ein Parallelverfahren der Schwester der Beigeladenen beim Beklagten (Bl. 1 OEG-Akte).

Auf entsprechende Anfrage des Beklagten überreichte der Kläger dann ein Antragsformular, welches allerdings keine Angaben zu den Taten enthält und auch nicht unterschrieben ist. Der Kläger führte in seinem dem Antragsformular beigefügten Anschreiben aus, dass es keinen Sinn mache, das Antragsformular an die Mutter weiterzuleiten, da diese ihrer Mitwirkung voraussichtlich nicht nachkommen werde (Bl. 3 ff. OEG-Akte).

Mit einem ersten Bescheid vom 18.09.2007 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Leistungen nach dem OEG ab, da der Kläger für die Beigeladene nicht vertretungsberechtigt sei. Demgemäß seien das Antragsformular und die Einverständniserklärung nicht unterschrieben (Bl. 10 Verwaltungsakte).

Mit einem weiteren Bescheid vom 19.09.2007 lehnte der Beklagte den Feststellungsantrag des Klägers nach § 97 SGB VIII ab. Die Feststellung einer Leistung nach § 1 OEG und damit auch die Feststellung einer Sozialleistung nach § 97 SGB VIII setzte voraus, dass ein Tatbestand im Sinne des § 1 OEG nachgewiesen sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall (Bl. 11 Verwaltungsakte).

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 02.10.2007 Widerspruch ein. Man werde den Antrag der Vertretungsberechtigten der Beigeladenen nachreichen. Weiterhin werde man die Feststellung der Schädigung nach § 97 SGB VIII weiter betreiben (Bl. 14 Verwaltungsakte).

Am 15.10.2010 überreichte der Kläger ein entsprechendes von der Mutter der Beigeladenen unterschriebenes Antragsformular, welches allerdings abermals keine Angaben zu den Taten enthält (Bl. 15 ff. Verwaltungsakte).

Der Beklagte forderte sodann die Mutter der Beigeladenen zur Mitwirkung auf, erhielt von dieser aber keine Antwort. Mit Schriftsatz vom 16.04.2008 wandte sich der Beklagte an die Beigeladene persönlich. Die Beigeladene möge die Taten möglichst genau, ausführlich und vollständig schildern (Bl. 23 f. Verwaltungsakte).

Mit Schriftsatz vom 06.05.2008 antworte die Beigeladene (Bl. 25 Verwaltungsakte): "Bezug nehmend auf unser Telefonat, teile ich Ihnen mit, dass die Strafsache bereits verhandelt worden ist und ein Urteil gesprochen wurde. Dennoch bin ich im Moment nicht bereit, Leistungen nach dem OEG zu beantragen."

Mit Schriftsatz vom 02.06.2008 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass er das Schreiben der Beigeladenen als Antragsrücknahme werte und die Angelegenheit daher als erledigt betrachtet werde (Bl. 27 Verwaltungsakte).

Der Kläger teilte dem Beklagten daraufhin mit, dass er das Feststellungsverfahren nach § 97 SGB VIII weiter betreiben wolle. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe trete nach § 97 SGB VIII im Wege einer gesetzlich geregelten Prozessbeistandschaft neben den Leistungsberechtigten und könne die Rechte des Leistungsberechtigten im eigenen Namen vertreten. Die Rücknahmeerklärung der Leistungsberechtigten berühre daher nicht den vom Kläger gestellten Antrag. Der Beklagte möge die benannten Akten beiziehen (Bl. 28 Verwaltungsakte).

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.12.2008 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Da weder der Kläger noch die Beigeladene ein Aktenzeichen genannt hätten, hätten die Akten der Staatsanwaltschaft nicht beigezogen werden können. Ein Tatbestand im Sinne des § 1 OEG sei nicht bewiesen (Bl. 29 f. Verwaltungsakte).

Am 21.01.2009 hat der Kläger gegen den Bescheid vom 19.09.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.12.2008 Klage beim Sozialgericht Kassel erhoben und die Klage mit Schriftsatz vom 23.02.2009 begründet und der Klagebegründung die Akten des Jugendamtes beigefügt.

Aus der Akte des Jugendamtes kann entnommen werden, dass die Beigeladene seit 28.08.2007 im betreuten Wohnen lebt (Bl. 22 Verwaltungsakte) und vom Kläger die Sozialeistung "Hilfe zur Erziehung" in Höhe von monatlich 402,00 EUR erhält (Bl. 27 Verwaltungsakte). In der Verwaltungsakte enthalten sind weiterhin Aufstellungen über die Kosten des betreuten Wohnens, auf die Bezug genommen wird (z.B. Bl. 51 Verwaltungsakte). Einem in der Jugendamtsakte enthaltenen Vermerk über ein Hilfeplangespräch vom 16.01.2008 kann entnommen werden, dass die Beigeladene ein Praktikum im Einzelhandel begonnen hatte, welches sie jedoch nicht bestehen konnte, da sie zeitgleich eine Therapie im Traumazentrum A-Stadt besuche, die sich mit ihrer Vergangenheit beschäftige. Die Themen hätten die Beigeladene derart belastet, dass sie den Alltagsanforderungen nicht gewachsen sei. Sie sei weiterhin auf der Suche nach einem geeigneten Therapeuten (Bl. 55 ff. Jugendamtsakte). In der Akte befindet sich weiterhin ein Antrag auf Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII, dem mit Bescheid vom 05.02.2008 entsprochen wurde (Bl. 63 Verwaltungsakte). Am 30.06.2008 wurde die Beigeladene aus dem betreuten Wohnen entlassen (Bl. 89 Verwaltungsakte). Einer Stellungnahme des Jugendamtsmitarbeiters X. vom 03.07.2008 ist zu entnehmen, dass die Beigeladene den Antrag nach dem OEG laut eigenen Angaben nicht weiter verfolgt habe, da sie sich zur Zeit nicht mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen könne. Sie strebe derzeit an, sich zu einem gegebenen Zeitpunkt mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, was ihr momentan nicht möglich sei. Dies sei aus Sicht des Jugendamtsmitarbeiters X. nachvollziehbar (Bl. 93 Verwaltungsakte). In der Jugendamtsakte befindet sich schließlich das bereits erwähnte Urteil des Landgerichts A-Stadt.

Nach Kenntnisnahme des Urteils des Landgerichts A-Stadt hat der Beklagte das Vorliegen des sexuellen Missbrauchs mit Schriftsatz vom 18.11.2009 anerkannt (Bl. 51 Gerichtsakte).

Mit Beschluss vom 17.02.2010 hat das Sozialgericht Kassel die Beigeladene zum Rechtsstreit beigeladen (Bl. 60 Gerichtsakte).

Der Kläger hat im laufenden Klageverfahren ein Privatgutachten bei der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie Dr. A. vom 11.03.2010 in Auftrag gegeben, dem ambulante Untersuchungen am 09.02.2010, 19.02.2010, 22.02.2010 und 04.03.2010 zugrunde lagen. Dem Gutachten kann zunächst entnommen werden, dass die Beigeladene zum ersten Begutachtungstermin in Begleitung einer Mitarbeiterin des Klägers kam und die Mitarbeiterin des Klägers bat, über den Anlass der Untersuchung bzw. Begutachtung zu berichten. Die Beigeladene habe angegeben, dass es ihr sehr wichtig sei, nicht über den Inhalt der Straftaten ihres Stiefvaters berichten zu müssen. Sie sehe sich nicht dazu in der Lage, persönlich darüber zu berichten. Es belaste sie so stark, dass sie es vermeide, sich mit diesem Thema verbal oder gedanklich auseinanderzusetzen. Bereits bei dem ersten Gespräch sei es der Beigeladenen schwer gefallen, sich emotional zu regulieren; sie sei bei der Nachfrage zu ihrer persönlichen und familiären Situation angefangen, zu weinen. Sie habe angegeben, dass sie auf der Suche nach einem geeigneten Therapieplatz sei, da sie merke, dass sie den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen sei. Sie sei mit ihren Kräften am Ende. Die Beigeladene lebe mit ihrem Freund in einer gemeinsamen Wohnung. Sie absolviere derzeit eine Ausbildung in einem Schuhgeschäft. Sie fühle sich dort wohl, weil die Kollegen nett mit ihren Stimmungsschwankungen umgehen würden. Es falle ihr aber häufig schwer, morgens aufzustehen und zur Arbeit bzw. zur Schule zu gehen. Nach der Arbeit und Schule sei sie am Abend sehr müde und könne sich kaum aufraffen, etwas zu unternehmen. Der Großteil des Haushalts werde vom Freund erledigt. Die Beigeladene habe sodann angegeben, unter Schlafstörungen zu leiden. Sie träume immer wieder von den Missbrauchserlebnissen, wache auf und könne stundenlang nicht wieder einschlafen. Sie habe das Gefühl, über diese Träume und die Gedanken keine Kontrolle zu haben. Diese Erinnerungen und Gedanken würden auch tagsüber unkontrolliert auftreten. Sie fühle sich in solchen Situationen massiv psychisch belastet, zeige körperliche Reaktionen, wie Zittern, Schwindel und Kopfschmerzen (Bl. 79 Gerichtsakte). Gespräche, die mit dem Trauma in Verbindung stünden, vermeide sie soweit als möglich, suche keinen Kontakt zu fremden Leuten, vermeide unbekannte Situationen und fühle sich eigentlich nur in ihrer eigenen Wohnung wohl. Sie gehe nicht ins Kino, da sie Angst habe, dort angesprochen zu werden. Sie versuche, nach außen immer fröhlich zu wirken, um Nachfragen zu ihrem Befinden zu vermeiden. Sie fühle sich oft gereizt, könne dies aber nicht beeinflussen. Auch habe sie Konzentrationsprobleme und müsse sich viel aufschreiben, um nichts zu vergessen. In der Vergangenheit sei es mehrfach zu selbstverletzendem Verhalten gekommen. Insbesondere in der Zeit nach dem Aufdecken des Missbrauchs habe sie Suizidgedanken gehabt. Auf Nachfrage habe die Beigeladene eingeräumt, auch derzeit keine Lebensperspektive zu sehen und über Selbstmord nachgedacht zu haben. Sie versuche dann, an ihren Freund zu denken und sich so abzulenken. Die Gestaltung der sexuellen Kontakte zu ihrem Freund gestalte sich als schwierig, da sie eigentlich kein Interesse habe, aber fürchte, dass sich ihr Freund von ihr trenne, wenn sie sich verweigere. Zu ihren Geschwistern und ihre Mutter vermeide sie jeden Kontakt, da sie sich damit überfordert fühle. Von der Familie ihres Freundes fühle sie sich herzlich angenommen (Bl. 80 Gerichtsakte). Von Frau Dr. A. durchgeführte Testuntersuchungen ergaben erhöhte Werte für Depressionen, manifeste Ängste, Schulunlust und im Bereich der Emotionsregulation einen deutlich erhöhten Interventionsbedarf, mit Gefühlen wie Angst, Trauer und Wut angemessen umzugehen (Bl. 84 Gerichtsakte). Dem Gutachten kann zum psychischen Befund entnommen werden, dass die Klägerin unter einer deutlichen Anspannung und affektiven Betroffenheit hinsichtlich ihrer Vorgeschichte und hinsichtlich der Fragen nach ihrem Stiefvater leide. Sie habe sich nicht in der Lage gesehen, hierauf zu antworten, da sie sich überfordert fühle. Das Gutachten enthält die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese bestehe in einem Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form von wiederkehrenden intrusiven Gedanken, Erinnerungen und Träumen, einem emotionalem und sozialem Rückzug mit ausgeprägtem Vermeidungsverhalten sowie einem Zustand der vegetativen Überreizbarkeit. Die Beigeladene erlebe sich nur wenig oder gar nicht durch ihre Mutter in der Verarbeitung ihres Traumas unterstützt. Sie habe eine intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit Fragen und Hinweisreizen beschrieben, die an das traumatische Ereignis erinnerten bzw. an Aspekte davon. Daher bestehe eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es durch eine Befragung der Betroffenen (z.B. vor Gericht) zu einer Zunahme der psychischen Symptomatik komme, insbesondere von depressiven und ängstlichen Anteilen und somit möglicherweise zu einer Zunahme der Suizidalität. Es sei von einer deutlichen seelischen Behinderung und einer damit einhergehenden Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft auszugehen. Die Beigeladene sei nur unter großer Anstrengung in der Lage, das Haus regelmäßig zu verlassen, um ihrer Ausbildung nachzugehen. Sie scheue soziale Kontakte, sei insgesamt sehr zurückhaltend und misstrauisch. Eine adäquate Gestaltung einer Partnerschaft inklusive des Zulassens körperlicher Nähe sei nur eingeschränkt möglich. Sie sei nicht in der Lage, ihre kognitiven Fähigkeiten auszunutzen und leide unter Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Die Beigeladene habe berichtet, dass sie bereits seit 2001 angefangen habe, die Schule zu schwänzen, ihr sei alles egal gewesen. Sie habe damals und auch im weiteren Verlauf den Eindruck gehabt, dass sie mit der Mutter nicht über die Missbrauchserlebnisse habe sprechen können, da diese überfordert und wenig in der Lage gewesen sei, auf die Bedürfnisse ihrer Kinder einzugehen. Die Kinder hätten z.T. Aufgaben und Verantwortlichkeiten der Mutter übernommen, um nach außen ein gutes Bild der Familie abzugeben. Die Familie sei im Dorf zunehmend isoliert und der Beobachtung durch die Medien ausgesetzt gewesen. Mit dieser Übernahme mütterlicher Verantwortung sei die Beigeladene überfordert gewesen. Die Schulvermeidung sei als Ausdruck einer starken emotionalen Belastung und Überforderung zu werten. Die Betroffene habe angegeben, in dieser Zeit keine psychologische Unterstützung erhalten zu haben, so dass bereits eine Chronifizierung der Symptome, die vor ca. 9 Jahren erstmals aufgetreten seien, erfolgt sei. Ohne eine entsprechende psychiatrische / psychotherapeutische Behandlung sei mit einem Fortbestand der posttraumatischen Belastungsstörung zu rechnen. Dieses Krankheitsbild sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem jahrelangen schweren sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater der Beigeladenen zu sehen. Die Weigerung der Beigeladenen, sich auf Gespräche zum erlebten sexuellen Missbrauch einzulassen, seien Teil der Symptomatik und entsprächen dem beschriebenen Vermeidungsverhalten. Hinzu komme möglicherweise eine Unfähigkeit, bestimmte Aspekte des Traumas zu erinnern. Andere Ursachen, die für das Trauma verantwortlich sein könnten, seien der Gutachterin nicht bekannt. Die psychische Schädigung bestehe seit 2001 und bis heute weiter. Der Beigeladenen sei eine stationäre psychotherapeutische Behandlung zu empfehlen (Bl. 90 Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 30.04.2010 hat die Bevollmächtigte der Beigeladenen im Rahmen des Klageverfahrens einen Antrag auf Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab 01.03.2001 gestellt (Bl. 114 Gerichtsakte).

Der Beklagte hat das Gutachten durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie CW. auswerten lassen, der in seiner gutachterlichen Stellungnahme vom 14.06.2010 ausführt, dass die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt seien und dass dem Gutachten gefolgt werden könne und dass von einer schweren Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten und damit von einem GdS von 60 auszugehen sei (Bl. 125 ff. Gerichtsakte).

Mit Schriftsatz vom 28.06.2010 hat der Beklagte erklärt, dass er eine postraumatische Belastungsstörung mit einem GdS von 60 seit der Antragstellung anerkenne (Bl. 124 Gerichtsakte).

Auf Nachfrage des Klägers hat Herr CW. seine GdS-Bewertung mit einer Stellungnahme vom 19.09.2010 erläutert. Auf die Stellungnahme wird Bezug genommen (Bl. 145 f. Gerichtsakte).

Der Kläger hält das Gutachten von Frau Dr. A. auch hinsichtlich des Beginns der Leistungen nach dem OEG ab 01.03.2001 für schlüssig und ist der Meinung, dass der Beklagte insbesondere die Kosten des Verfahrens einschließlich der Gutachterkosten zu tragen habe.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 19.09.2007 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 17.12.2008 aufzuheben und festzustellen, dass die Beigeladene in den Jahren 1997 bis März 2001 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 OEG wurde und hierdurch eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat, die seit März 2001 mit einem GdS von 60 zu bewerten ist und dass die Beigeladene seitdem einen Anspruch auf eine Grundrente unter Zugrundelegung eines entsprechenden GdS von 60 hat.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen, soweit der Antrag über das Anerkenntnis vom 28.06.2010 hinausgeht.

Nach seiner Auffassung bestehe kein über das abgegebene Anerkenntnis hinausgehender Anspruch, da es im Zeitraum von 3/2001 bis 2/2010 keinerlei medizinische Unterlagen gebe, die die Ausprägung der psychischen Erkrankung beschreiben würden.

Die Beigeladene beantragt,
den Bescheid vom 19.09.2007 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 17.12.2008 aufzuheben und festzustellen, dass sie in den Jahren 1997 bis März 2001 Oper vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 OEG wurde und hierdurch eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat, die seit März 2001 mit einem GdS von 60 zu bewerten ist und dass sie seitdem einen Anspruch auf eine Grundrente unter Zugrundelegung eines entsprechenden GdS von 60 hat.

Sie ist der Auffassung, dass Leistungen nach dem OEG bereits ab März 2001 zu erbringen seien. Es könne ihr kein Verschulden an der späten Antragstellung erst durch den Kläger im Jahr 2007 zur Last gelegt werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakten des Klägers und des Beklagten sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg. Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beigeladene hat einen Anspruch auf die Feststellung, dass sie in den Jahren 1997 bis März 2001 Opfer vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriffe im Sinne des § 1 OEG wurde und hierdurch eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat, die seit März 2001 mit einem GdS von 60 zu bewerten ist. Weiterhin hat die Klägerin seit März 2001 einen Anspruch auf eine Grundrente unter Zugrundelegung eines entsprechenden GdS von 60.

I. Die Klage ist zunächst zulässig. Der Kläger war nach § 97 SGB VIII berechtigt, das Feststellungsverfahren nach dem OEG zu betreiben.

Der erstattungsberechtigte Träger der öffentlichen Jugendhilfe kann gem. § 97 S.1 SGB VIII die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen.

§ 97 SGB VIII regelt einen Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft (Bundessozialgericht (BSG), Urteil v. 11.12.2008, B 9/9a VG 1/07 R, juris, Rn. 23; BSG, Urteil v. 15.02.2000, B 11 AL 73/99, juris). Dem Jugendhilfeträger wird danach das Recht eingeräumt, im eigenen Namen und Interesse gegenüber einem anderen Leistungsträger ein fremdes Recht geltend zu machen und Rechtsmittel einzulegen (Kunkel in: Ders. (Hrsg.), SGB VIII, 2011, § 97 Rn. 1, 9).

Abzugrenzen ist dies von dem Fall, dass der Jugendhilfeträger einen eigenen Erstattungsanspruch gegenüber einem vorrangigen Sozialleistungsträger geltend macht. Eine entsprechende Befugnis kann der Jugendhilfeträger statt oder neben dem Feststellungsverfahren nach § 97 SGB VIII geltend machen (vgl. zur Vorschrift des § 91a BSHG: LSG Niedersachsen, Urteil v. 14.07.2000, L 9 V 70/96, juris, zur Parallelvorschrift des § 95 SGB XII: Armbruster in: Juris-PK-SGB XII, 06.09.2011, § 95 Rn. 17).

Dieses Feststellungsrecht ist von dem vorliegend nicht einschlägigen Fall abzugrenzen, dass das Jugendamt als gesetzlicher Vertreter des Jugendlichen fungiert (vgl. Bayerisches LSG, Urteil v. 13.02.2007, L 15 VG 1/06, juris, Rn. 18).

Der Anspruch selbst verändert sich in seinem Wesen nicht dadurch, dass er im Wege der gesetzlichen Prozessstandschaft betrieben wird (vgl. BSG, Urteil v. 15.02.2000, B 11 AL 73/99, juris, Rn. 14, wo das BSG ausführt, dass dem Jugendhilfeträger auch nicht mehr Rechte als dem Berechtigten zustehen; zur Parallelvorschrift des § 95 SGB XII: Schellhorn in: Ders. u.a. (Hrsg.), SGB XII, 2010, § 95 Rn. 12). Dies hat zur Folge, dass der Jugendhilfeträger also Verfahrens- und Prozesshandlungen vornehmen kann, zu denen der Jugendhilfeempfänger auch selbst berechtigt wäre (Kunkel in: Ders. (Hrsg.), SGB VIII, § 97 Rn. 9).

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat in seinem Urteil vom 14.07.2000 (L 9 V 70/96, juris) zur inzwischen aufgehobenen Parallelvorschrift des § 91a BSHG zutreffend festgestellt, dass sich der Anspruch zugunsten eines Sozialhilfeempfängers durch die gesetzliche Prozessstandschaft auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht ändert, woraus abzuleiten ist, dass die Befugnis des Jugendhilfeträgers, auf eine Sozialleistung zugunsten des Empfängers der Jugendhilfe zu klagen, auch nicht auf den Zeitraum beschränkt ist, in dem ein Erstattungsanspruch des nachrangigen Jugendhilfeträgers in Betracht kommt. Damit übereinstimmend geht die obergerichtliche Rechtsprechung von der Notwendigkeit der Beiladung des Leistungsberechtigten aus, da von einem einheitlichen Rechtsverhältnis auszugehen ist (Armbruster in: Juris-PK-SGB XII, § 95 Rn. 73).

Die Feststellung einer Sozialleistung ist nicht im Sinne eines gerichtlichen Feststellungsurteils zu verstehen. Der Träger der Jugendhilfe kann vielmehr ein Grundurteil erstreiten oder auch auf eine Sozialleistung klagen (vgl. zur Parallelvorschrift des § 95 SGB XII: von Koppenfels-Spies in: Kreikebohm u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Sozialrecht, 2011, SGB XII, § 95 Rn. 3; Wahrendorf in: Grube & Wahrendorf, SGB XII, 2008, § 95 Rn. 11).

Bei diesem Fall der gesetzlichen Prozessstandschaft kommt es nicht auf die Mitwirkung des Leistungsberechtigten oder seine Zustimmung an, denn der Träger ist nicht Vertreter des Leistungsberechtigten (S. zu § 95 SGB XII: Armbruster in: Juris-PK-SGB XII, 06.09.2011, § 95 Rn. 62).

Hier hat der Kläger Leistungen der wirtschaftlichen Jugendhilfe erbracht. Diese stehen als inhaltlich kongruente Leistungen in einem Rangverhältnis mit den Leistungen nach der Erziehungsbeihilfe nach § 27 BVG (vgl. Kunkel in Ders. (Hrsg.); SGB VIII, 2011, § 97 Rn. 3), so dass insoweit ein Erstattungsanspruch in Betracht kommt. Die Voraussetzungen des § 97 S.1 SGB VIII sind somit erfüllt. Der Kläger war vorliegend zur Antragstellung berechtigt.

II. Die Klage ist auch begründet.

1. Zunächst liegen die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG vor.

Gem. § 1 Abs. 1 Operentschädigungsgesetz (OEG) erhält, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), dass auch der sexuelle Missbrauch von Kindern als tätlicher Angriff im Sinne des OEG zu werten ist (vgl. Kunz u.a. (Hrsg.), OEG-Kommentar, 2010, § 1 Rn. 13; Rademacker in: Knickrehm (Hrsg.), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 1 OEG Rn. 43 ff.).

Der sexuelle Missbrauch zum Nachteil der Beigeladenen ist auf Grund des Urteils des Landgerichts A-Stadt vom 14.08.2002 mit Geständnis des Täters nachgewiesen, so dass vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriffe zum Nachteil der Beigeladenen feststehen.

2. Weiterhin besteht zwischen den Beteiligten Einigkeit, dass die Beigeladene unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet.

3. Die posttraumatische Belastungsstörung wurde durch die vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffe zum Nachteil der Beigeladenen hervorgerufen.

Neben dem Vorliegen der Gesundheitsstörungen setzt der Anspruch nach § 1 OEG nämlich voraus, dass die Gesundheitsstörungen Folge des schädigenden Ereignisses gewesen sind.

Bei der Beurteilung der haftungsbegründenden ebenso wie der haftungsausfüllenden Kausalität ist im sozialen Entschädigungsrecht die Theorie der wesentlichen Bedingung heranzuziehen (Hase in: von Maydell / Ruland / Becker (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 4. A. 2008, § 26 Rn. 32; Heinz, Opferentschädigungsgesetz, 1. A. 2007, § 1 Rn. 138). Ursachen sind die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg, zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (Hase in: von Maydell / Ruland / Becker (Hrsg.), a.a.O., § 26 Rn. 9).

Haben mehrere Umstände zum Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber einem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand Alleinursache im Sinne des BVG (Hessisches Landessozialgericht, Urteil v. 28.05.2008, L 4 VG 6/07, Rn. 22; Doering-Striening in: Berchtold / Richter (Hrsg.), Prozesse in Sozialsachen, 2009, § 17 Rn. 90; Gelhausen, Soziales Entschädigungsrecht, 2. A. 1998, Rn. 32; Hase in: von Maydell / Ruland / Becker (Hrsg.), a.a.O., § 26 Rn. 9).

Die festgestellten Gesundheitsstörungen müssen ihre Ursache mit Wahrscheinlichkeit wesentlich im schädigenden Ereignis gehabt haben. Eine solche Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen solchen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. Versorgungsmedizinische Grundsätze, S.105). Es genügt also nicht eine bloße Möglichkeit, sondern vielmehr muss das Gericht zu der Überzeugung gelangen, dass der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich ist.

Die Höhe des Anspruchs bemisst sich nach dem Grad der Schädigung (GdS).

Gem. § 30 Abs. 1 BVG ist der GdS nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der Grad der Schädigungsfolgen ist hierbei nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen. Dabei sind nur vorübergehende Schädigungsfolgen nicht zu berücksichtigen.

Nach § 30 Abs. 17 BVG wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verteidigung und mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen maßgebend sind. Diese Rechtsverordnung ist inzwischen mit den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen geschaffen worden, die sich inhaltlich mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht decken. Mit der Neufassung des § 30 BVG ist der Begriff der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) durch den Begriff "Grad der Schädigungsfolgen" (GdS) ersetzt worden (Röhr / Sträßer / Dahm, BVG Kommentar, Stand Januar 2009, § 30 Nr. 1a). Inhaltlich ergeben sich nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen und der Ersetzung des Begriffs der MdE durch den GdS keine Unterschiede.

Im vorliegenden Fall hat die Privatgutachterin Frau Dr. A. in ihrem Gutachten vom 11.03.2010 völlig einsichtig dargelegt, dass die bei der Beigeladenen festgestellte posttraumatische Belastungsstörung mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die zu ihrem Nachteil verübten tätlichen Angriffe hervorgerufen worden ist. Das Gericht hat an der Richtigkeit dieser Einschätzung angesichts des Ausmaßes der Übergriffe keine Zweifel, zumal Alternativursachen, die geeignet wären, das vorliegende Störungsbild plausibel zu erklären, fehlen.

Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (S.42) sehen bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen folgende Grade der Schädigung vor:

1. Leichtere psychovegetative oder psychische Störungen 0-20
2. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit 30-40
3. Schwere Störungen
mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50-70
mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80-100

Vorliegend hat der medizinische Berater des Beklagten CW. in seinen Stellungnahmen vom 14.06.2010 (Bl. 125 ff. Gerichtsakte) und 19.09.2010 (Bl. 145 ff. Gerichtsakte) nachvollziehbar dargelegt, dass bei der Beigeladenen als Schädigungsfolge eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten vorliegt, die mit einem GdS von 60 zu bewerten ist. Das Gericht hält diese Bewertung für sachgerecht und insbesondere nicht für zu niedrig.

Das Gericht teilt weiterhin die Einschätzung von Frau Dr. A., dass die Schädigungsfolgen (mindestens) in dem jetzt festgestellten Ausmaß mit einem GdS von 60 bereits seit dem Zeitpunkt der Verhaftung des Herrn S. und damit seit März 2001 vorliegen. Hierbei hatte das Gericht zu berücksichtigen, dass es zunächst einmal plausibel ist, dass sich eine posttraumatische Belastungsstörung in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem schädigenden Ereignis ausbildet (vgl. auch: Versorgungsmedizinische Grundsätze, Punkt C 3 Nr. 3c). Auch hält das Gericht die Einschätzung von Frau Dr. A. für überzeugend, dass das Störungsausmaß bei der posttraumatischen Belastungsstörung seit diesem Zeitpunkt im Wesentlichen gleichbleibend war. Es entspricht nämlich dem Stand der Wissenschaft, dass sich posttraumatische Belastungsstörungen auch unter einer intensiven Behandlung nur schwer (vollständig) beheben lassen (vgl. Frommberger u.a. in: Berger (Hrsg.), Psychische Erkrankungen, 2. A. 2004, S. 732 ff. (739)), weshalb die Kammer davon überzeugt ist, dass die aus der posttraumatischen Belastungsstörung resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt im Wesentlichen unbehandelt blieben, seit März 2001 mindestens so stark ausgeprägt waren, wie sie von Frau Dr. A. festgestellt wurden.

4. Die Beigeladene hat dementsprechend einen Anspruch auf die Feststellung, dass sie infolge von rechtswidrigen, tätlichen Angriffen im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG seit März 2001 eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten hat, die seit diesem Zeitpunkt mit einem GdS von 60 zu bewerten ist. Auch hat die Beigeladene seit diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf eine Grundrente (§ 31 BVG) auf der Grundlage eines GdS von 60.

Diesem Anspruch seit März 2001 steht auch nicht § 60 Abs. 1 BVG entgegen.

Die Beschädigtenversorgung beginnt gem. § 60 Abs. 1 S.1 BVG mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat.

Die Versorgung ist gem. § 60 Abs. 1 S.2 BVG auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird.

War der Beschädigte ohne sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist gem. § 60 Abs. 1 S.3 BVG um den Zeitraum der Verhinderung.

Die Kammer geht davon aus, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S.3 BVG erfüllt sind, so dass der Antrag auf den Zeitraum ab März 2001 zurückwirkt.

a) Zunächst trifft die Beigeladene nämlich kein eigenes Verschulden an der Antragstellung erst am 14.08.2007 durch den Kläger.

Bei der Beurteilung, ob dem Geschädigten ein Verschulden an der verspäteten Antragstellung zur Last zu legen ist, ist die subjektive Situation des Betroffenen zu berücksichtigen. Es entspricht hierbei der Einschätzung der obergerichtlichen Rechtsprechung (BSG, Urteil v. 28.04.2005, B 9a/9 VG 1/04 R; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 27.01.2005, L 13 VG 5/03, juris) und des wissenschaftlichen Schrifttums (vgl. Kunz in: ders u.a. (Hrsg.), OEG, 2010, § 1 Rn. 47), dass ein minderjähriges Opfer sexueller Gewalt auch nach Eintritt der sozialrechtlichen Handlungsfähigkeit regelmäßig ohne Verschulden gehindert ist, Versorgung nach dem OEG zu beantragen.

Die Kammer ist vorliegend davon überzeugt, dass dies auch auf die Beigeladene zutrifft. So hat nämlich die Privatgutachterin Dr. A. herausgearbeitet, dass es bei der Beigeladenen Teil der seelischen Behinderung ist, die Taten zu verdrängen, weshalb sich die Beigeladene außer Stande sehe, sich mit den Taten auseinander zu setzen (vgl. Bl. 89 Gerichtsakte).

Vor diesem Hintergrund ist auch die vom Beklagten als Antragsrücknahme bewertete Erklärung der Beigeladenen zu sehen: Die Beigeladene dürfte vom Beklagten damit überfordert worden sein, als sie aufgefordert wurde, die zu ihren Lasten verübten Taten im Detail darzustellen. Legt man den Schriftsatz der Beigeladenen vom 06.05.2008 aus, so dürfte der Schriftsatz nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz dahingehend auszulegen sein, dass es ihr, vor dem Hintergrund der Unfähigkeit, sich ohne fremde Hilfe mit den zu ihren Lasten verübten Taten zu konfrontieren, darum ging, das laufende Verwaltungsverfahren zunächst einmal zum Ruhen zu bringen (Bl. 25 Gerichtsakte).

b) Auch ein Verschulden der Mutter der Beigeladenen steht dem Anspruch der Beigeladenen ab März 2001 nicht entgegen.

Hierbei hatte die Kammer die besondere innerfamiliäre Situation der Beigeladenen zu berücksichtigen.

Zunächst einmal entspricht es der zutreffenden Auffassung des wissenschaftlichen Schrifttums, dass schutzwürdige Interessenkonflikte im Einzelfall dazu führen können, dass ausnahmsweise das Verschulden des gesetzlichen Vertreters nicht dem Beschädigten, insbesondere einem Gewaltopfer, zuzurechnen ist (Knörr in: Knickrehm (Hrsg.), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 60 BVG Rn. 9).

Völlig unstreitig ist dies, wenn die gesetzlichen Vertreter selbst die Täter sind (BSG, Urteil v. 11.12.2008, B 9/9a VG 1/07 R, juris, Rn. 23).

Es gibt aber auch andere Konstellationen, in denen ein Unterlassen des gesetzlichen Vertreters, der selbst an dem sexuellen Missbrauch nicht beteiligt war, nicht zu einer Verschuldenszurechnung führt. Hierbei hat das BSG in seinem Urteil v. 28.04.2005 (B 9a/9 VG 1/04 R, juris, Rn.16) auf die beim anderen Teil bestehenden Interessenkonflikte in der Rolle zur Loyalität zum Partner und der Pflicht zur elterlichen Sorge für das Kind hingewiesen. Dies könne auch dann der Fall sein, weil dann möglicherweise eine Verletzung der eigenen elterlichen Fürsorge- und Aufsichtspflicht ans Licht komme. Am Ende der Randnummer 16 dieses Urteils führt das BSG aus:

"Räumen Eltern in einer solchen Situation ihren eigenen und den damit eng verflochtenen Interessen des Gewalttäters den Vorrang ein, so scheitern sie zwangsläufig bei der Erfüllung ihres, auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art 6 Abs 2 Satz 1 GG), für ihr Kind zu "sorgen". Dem kindlichen Gewaltopfer ist ein solches tatbestimmtes und täterbezogenes Versagen ihrer gesetzlichen Vertreter im Rahmen des § 60 Abs 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten."

Eine solche vergleichbare Sachlage, in der ein Versagen des gesetzlichen Vertreters dem Opfer nicht zugerechnet werden kann, liegt auch vor, wenn sich der nicht an den Taten beteiligte Elternteil weigert, sich mit den Taten auseinanderzusetzen und seine elterliche Sorge insoweit vollständig vernachlässigt, wie es vorliegend aus dem Inhalt der Akte des Jugendamtes dargelegt ist.

Es ist vorliegend bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass sich die Mutter der Beigeladenen aus unterbewussten eigennützigen Motiven nicht um die Versorgungsangelegenheit der Beigeladenen gekümmert hat, weil diese dann erneut mit ihrem eigenen Versagen angesichts der mehr als tausend Taten zu Lasten ihrer Kinder konfrontiert würde. Dies wird für die Kammer auch daran deutlich, dass die Mutter der Beigeladenen eine Zusammenarbeit mit dem Jugendarbeit – wie sich aus der Verwaltungsakte des Klägers entnehmen lässt – wiederholt blockiert hat. In einer solchen Situation, in der die gesetzliche Vertreterin insoweit die elterliche Sorge zwar formal inne hat, ihren vom BSG benannten grundgesetzlichen Auftrag aber grob vernachlässigt, ist eine Veschuldenszurechnung ebenfalls nicht sachgerecht.

Die Klage war damit insgesamt begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es liegt insbesondere kein Fall vor, in dem eine Kostenentscheidung nach § 197a SGG zu erfolgen hatte (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig u.a. (Hrsg.), SGG, 2012, § 183 Rn. 6b). Bei der Kostenentscheidung hatte die Kammer zu berücksichtigen, dass sowohl dem Kläger als auch dem Beklagten Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung vorzuwerfen sind. Der Kläger hatte nämlich ausweislich der Akte des Jugendamtes (Bl. 1 f.) bereits vor Klageerhebung detaillierte Kenntnisse über den sexuellen Missbrauch und hat dies dem Beklagten während des Verwaltungsverfahren nicht mitgeteilt. Der Beklagte wäre hingegen angesichts des Hinweises auf die Schwester Z. und der im Schriftsatz vom 02.10.2007 angegeben Telefonnummer des Jugendamtsmitarbeiters X. (vor Bl. 15 OEG-Akte) gehalten gewesen, beim Kläger weiteren Informationen einzuholen, weshalb es sachgerecht erscheint, sowohl den Kläger als auch den Beklagten an den außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu beteiligten.
Rechtskraft
Aus
Saved