L 10 U 4549/12 ER

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4549/12 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Anordnungsverfahren wird abgelehnt.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 03.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2009 wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Statthaft ist das Begehren als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage nach § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Anfechtungsklage entfaltet entgegen der Grundregel des § 86a Abs. 1 SGG nicht schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung, da der angefochtene Bescheid in einer Angelegenheit der Sozialversicherung eine laufende Leistung - hier: Verletztenrente - entzog (§ 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG).

§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG gibt selbst keinen Maßstab vor, wann die aufschiebende Wirkung anzuordnen ist. Das Gericht nimmt also eine eigenständige Abwägung der Beteiligteninteressen vor. Es wägt das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug und das private Aufschubinteresse ab. Dabei sind die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Denn im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sollen keine Positionen eingeräumt werden, die im Hauptsacheverfahren erkennbar nicht standhalten. Bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des Bescheides ist die aufschiebende Wirkung anzuordnen, bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit des Rechtsbehelfs die Anordnung hingegen abzulehnen. Im Übrigen gilt der Grundsatz, je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer sind die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Umgekehrt sind die Anforderungen an die Erfolgsaussichten umso geringer, je schwerer die Verwaltungsmaßnahme wirkt. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Eilentscheidung nicht erginge, die Klage aber später Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, der Klage aber der Erfolg zu versagen wäre (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 86b Rdnr. 12f).

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen. Die Berufung des Klägers gegen das seine Anfechtungsklage abweisende Urteil des Sozialgerichts hat keine Erfolgsaussichten. Die Abwägung der Interessen der Verfahrensbeteiligten spricht gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Das Sozialgericht hat im Urteil vom 19.07.2012 umfassend und zutreffend dargelegt, dass der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 03.03.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.04.2009 rechtmäßig ist. Der Senat schließt sich diesen Ausführungen an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen darauf Bezug.

Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Berufungsverfahren keine Hinweise darauf, dass der Kläger mit seinem Begehren erfolgreich sein könnte. Soweit der Kläger vorträgt, zur Zeit des Erlasses des Bescheids vom 03.03.2009 seien alle Argumente, mit denen das Sozialgericht die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Verletztenrentenbewilligung begründen wolle, bereits bekannt gewesen (Bl. 28 LSG-Akte L 10 U 3750/12, hieraus auch soweit nicht anderweitig gekennzeichnet die nachfolgenden Fundstellen) und es seien nachfolgend keine Umstände aufgetreten, die die frühere (auf das Gutachten von Prof. Dr. Behr gestützte) Zusammenhangsbeurteilung falsch erscheinen lassen (Bl. 35), stellt das die von der Beklagten nach § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) vorgenommene und vom Sozialgericht bestätigte Rücknahmeentscheidung nicht in Frage. Im Gegenteil, der Anwendungsbereich des § 45 SGB X ist im Unterschied zum Anwendungsbereich des § 48 SGB X - Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse - gerade in den Fällen eröffnet, in denen nach dem Erlass des Verwaltungsaktes keine Änderungen eintraten und sich der Verwaltungsakt vielmehr als von Anbeginn rechtswidrig erweist. Für die Annahme der Rechtswidrigkeit eines eine Zusammenhangsbeurteilung enthaltenden Verwaltungsaktes (hier: Bescheid vom 09.05.2008) genügt es daher, wenn sich nachträglich herausstellt, dass der Zusammenhang entgegen der ursprünglichen Annahme nicht hinreichend wahrscheinlich ist (BSG, Urteil vom 20.03.2007, B 2 U 27/06 R in SozR 4-1300 § 45 Nr. 5). Genau darum ging es als die Beklagte die - wie sie in der Berufungserwiderung formuliert hat (Bl. 44) - "Unbrauchbarkeit" des Gutachtens von Prof. Dr. Behr erkannte. Dieses Erkennen stellte einen Umstand dar, der die frühere Zusammenhangsbeurteilung falsch erschienen ließ (BSG, s. eben).

Die Behauptung des Klägers, es gebe kein Gutachten, das darstellen würde, dass andere Ursachen als der Unfall zu seinen "Schäden" geführt habe, ist nicht nachvollziehbar. Dr. S. hat in seinem für das Sozialgericht erstellten Gutachten klar dargestellt, dass allein die aus inneren (unfallunabhängigen) Ursachen bedingten Aufbraucherscheinungen im Bereich der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule den Krankheitsverlauf plausibel begründen können. Speziell im Bereich der unteren Brustwirbelsäule waren - so Dr. S. - zu keinem Zeitpunkt Verletzungsfolgen nachweisbar. Soweit Dr. P. in einer gutachtlichen Stellungnahme für die A. im Januar 2007 (Bl. 49 VA) bezogen auf seine im August 2006 erhobenen Befunde von mit hoher Wahrscheinlichkeit durch "das Unfallereignis" verursachte Bandscheibenvorfällen ausging, datierte er zum einen das Unfallereignis in dieser Stellungnahme falsch auf das Jahr 2006, zum anderen begründete er seine Auffassung in keiner Weise. Ferner fällt auf, dass Dr. P. im April 2008 in dem lediglich kleinen Bandscheibenvorfall BW 11/12 keine Erklärung für die Beschwerden des Klägers sah (Bl. 57 SG-Akte). Hinsichtlich der Interkostalneuralgie hat Dr. S. zum einen nachvollziehbar auf die fehlende Dokumentation eines zeitlichen Zusammenhangs mit dem Unfallereignis und auch auf die Tatsache hingewiesen, dass bereits vor dem Unfall eine Interkostalneuralgie dokumentiert ist (Bl. 86, 253 f. SG-Akte). Dies spricht - wie vom Sozialgericht dargestellt - gegen die Wahrscheinlichkeit eines Unfallzusammenhangs.

Entgegen der Auffassung des Klägers (Bl. 28) bedingt die zwischenzeitlich erfolgte Entfernung der Ausführungen von Dr. J. nicht zwangsläufig die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide. Es trifft zwar zu, dass mit der Entfernung dieser Ausführungen ein wichtiges Element der Begründung der Bescheide nachträglich entfallen ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Beklagte die angefochtenen Bescheide ausführlich und ausreichend gemäß § 35 SGB X begründete - wenn auch unter der damaligen Annahme der Verwertbarkeit der Ausführungen von Dr. J ... Die Bescheide wurden durch die Entfernung dieser Ausführungen nicht im Nachhinein formal rechtswidrig. Im Übrigen ist das Sozialgericht im Klageverfahren nicht nur befugt, sondern im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes auch verpflichtet gewesen, die materielle Rechtmäßigkeit umfassend, beispielsweise auch durch Einholung eines Gerichtsgutachtens eigenständig zu prüfen. Mit der Einholung des Gutachtens von Dr. S. hat sich das Sozialgericht nicht in unzulässiger Weise an die Stelle der Beklagten gesetzt (so die Behauptung des Klägers Bl. 28). Es bestehen keinerlei Bedenken, die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide gestützt auf ein erst später eingeholtes Gutachten zu bestätigen. Die Einholung gerichtlicher Gutachten - ausdrücklich geregelt in § 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG - stellt einen Standardvorgang der sozialgerichtlichen Amtsermittlung dar. Zwangsläufig erfolgt sie immer erst nach dem Erlass der angefochtenen Entscheidungen. Der Senat sieht die Überzeugungskraft des Gutachtens von Dr. S. durch den großen zeitlichen Abstands zwischen dem Unfallereignis im Jahr 2004 und der Begutachtung im Jahr 2011 nicht in Frage gestellt. Dr. S. hat sich bei der Beantwortung der hier vornehmlich interessierenden Frage des Ursachenzusammenhangs auf die vor und zeitnah nach dem Unfall von den behandelnden Ärzten erhobenen Befunde und die insoweit dokumentierten Diagnosen gestützt und daraus eine schlüssige Beurteilung der streitigen Ursächlichkeit hergeleitet. Für diese Beurteilung war der Zeitpunkt seiner Begutachtung von untergeordneter Bedeutung. Im Übrigen sei angemerkt, dass ein nicht unerheblicher Beitrag für die deutlich zeitversetzte Prüfung auf der erst im Jahr 2007 erfolgten Unfallanzeige beruht und damit zum Teil der Sphäre des Klägers zuzurechnen ist.

Das Vorliegen eines "extrem unglücklichen Arztfehlers" (Bl. 31) liegt hier entgegen der Ansicht des Klägers nicht auf der Hand. Der Kläger unterstellt hier, dass eine - traumatische - isolierte Brustwirbelsäulenschädigung zu Unrecht nicht bedacht worden sei. Indes fehlt es hier an jeglichen Anhaltspunkten für eine solche traumatische Schädigung. Die von Dr. S. beschriebenen Aufbraucherscheinungen der Brustwirbelsäule stellen sich als Verschleißerscheinungen und Veränderungen im Sinne von juvenilen Aufbaustörungen dar. Letztere gehören zu dem Krankheitskomplex des Morbus Scheuermann und begünstigen einen vorzeitigen Aufbrauch im Bereich der Wirbelsäule. Medizinisch lassen sich nach den Ausführungen von Dr. S. Folgen des Unfallereignisses - z.B. Spuren verheilter Knochenbrüche, Instabilitäten bei Bänderzerreissungen - nicht nachweisen. Zwar hat Dr. S. die Beurteilung durch das Fehlen eines unfallnahen Erstschadensbefundes als erschwert angesehen, jedoch nachvollziehbar ausgeführt, dass vom beschriebenen Unfallhergang ausgehend durchaus denkbare schwerere Unfallfolgen zu dauerhaft nachweisbaren Verletzungsfolgen hätten führen müssen (Bl. 251 f. SG-Akte).

Soweit der Kläger vorträgt, es könne nicht unterstellt werden, dass der behandelnde Arzt Dr. P. alle seine Angaben niedergelegt habe, ist dem im Ansatz zuzustimmen. In der Tat muss der Arzt bei Abfassung eines Befundberichts eine - wie der Kläger formuliert (Bl. 31) - Filtrierung des Gesagten vornehmen. Allerdings darf regelmäßig davon ausgegangen werden, dass der Arzt das Wesentliche zusammenfasst und nichts Erhebliches weglässt. Dies gilt auch für die Ausführungen von Dr. P ... So stellte dieser im Arztbrief vom 20.11.2004 (Bl. 109 VA) kurz aber doch detailliert die anamnestischen Angaben des Klägers zu dem Unfall mit dem Pferd einschließlich einem Tritt rechts mit thorakalem Bluterguss und einem Sturz auf den Rücken dar. Dies entspricht den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren vom Kläger gemachten Angaben. Der Senat schließt aus, dass Dr. P. bei den weiter wiedergegebenen Beschwerdeangaben - "wieder rechts Schmerzen im Arm in der Beugeseite aufgetreten. Ab und zu einschießendes Ereignis mit Kraftlosigkeit" - Klagen zu "massiven" Beschwerden (Bl. 32) im Brustwirbelsäulen- oder Rippenbereich unterschlug. Angesichts der dokumentierten Störungen im Bereich der Halswirbelsäule (u.a. Z.n. Bandscheibenvorfall C 5/6 und ventraler Fusion 2002, Verschleißerscheinungen C 4/5 und C 3/4, chronisch wiederkehrende Nacken-Arm-Schmerzen recht und sensible Nervenwurzelreizerscheinungen, Bl. 251 SG-Akte) ist es auch nicht einsichtig, dass der Kläger von einer "verfehlten" Therapie die Halswirbelsäule betreffend spricht (Bl. 32).

Auch die erst ab 2006 dokumentierten Hinweise auf eine Intercostalneuralgie vermag der Senat nicht auf eine ärztliche Fehlbeurteilung (so der Kläger Bl. 31) zurückzuführen. Vielmehr ist diese zeitliche Einordnung Folge des Umstands, dass nach den im Laufe der Behandlung erstellten ärztlichen Berichten entsprechende Beschwerden erst ab diesem Zeitpunkt vom Kläger vorgebracht wurden. Im Übrigen ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass beim Kläger bereits vor dem Unfall in den Krankenkassenunterlagen eine Intercostalneuralgie dokumentiert ist (s.o.) und diese - so Dr. S. (Bl. 254 SG-Akte) - beispielsweise auch durch virale Infekte verursacht sein kann. Auch dies spricht gegen einen wahrscheinlichen Unfallzusammenhang.

Zusammengefasst teilt der Senat - wie schon das Sozialgericht - die Auffassung der Beklagten (Bl. 45), dass Dr. S. schlüssig und überzeugend dargelegt hat, dass der Kläger an körpereigenen Aufbraucherscheinungen der Brust-, Hals- und Lendenwirbelsäule leidet, die teilweise schon lange vor dem Unfall bestanden und im Übrigen auch schon vor dem Unfall zum Auftreten ausgeprägter Beschwerden führten. Das Vorliegen lang andauernder Unfallfolgen ist hingegen nicht wahrscheinlich zu machen. Hieran können auch Angaben der benannten Zeugen nichts ändern. Als medizinische Laien können sie insbesondere den fehlenden medizinischen Erstbefund unmittelbar nach dem Unfallereignis nicht ersetzen.

Bei mithin geringen Erfolgsaussichten seines Begehrens ergibt auch die weitere Abwägung der Interessen der Beteiligten, dass die gewünschte Anordnung nicht zu treffen ist. Der Kläger lebt mit seiner Ehefrau nach eigenem Vorbringen in prekären finanziellen Verhältnissen. Würde die Verletztenrente ausbezahlt und würde sich nachfolgend herausstellen, dass kein Anspruch besteht, ist fraglich, ob ein Erstattungsanspruch mit Erfolg durchgesetzt werden könnte. Sollte das Begehren des Klägers doch Erfolg haben, stünde bei einer unterbleibenden Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Rentennachzahlung hingegen nichts im Wege. Zu bedenken ist dabei auch, dass die in Betracht kommende laufende Rentenzahlung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 v.H. (im Jahr 2008 monatlich 178,55 EUR) für sich genommen zur Bestreitung des laufenden Lebensunterhalts nicht ausreichen würde und bei damit ohnehin drohender Bedürftigkeit nach dem Grundsicherungs- bzw. Sozialhilferecht eine evtl. spätere Erstattung nicht durch einer rückwirkende Gewährung von Grundsicherungsleistungen bzw. Sozialhilfe ausgeglichen werden könnte.

Aus den dargestellten Gründen ist auch der Antrag des Klägers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussichten abzulehnen (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung - ZPO).

Dieser Beschluss ist gemäß §177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
Saved