L 9 U 3397/09

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 7 U 227/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3397/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Juni 2009 abgeändert und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 07. Juni 2005 und 24. Oktober 2005, beide in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. Dezember 2005 verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Unfalles vom 27. November 2002 eine Verletztenrente nach einer MdE um 50 v.H. der Vollrente ab 09. Januar 2003 zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls vom 27.11.2002 streitig.

Die 1959 geborene Klägerin war seit August 2001 bei der Firma A. Transport GmbH, München, als Kraftfahrerin im Fernverkehr beschäftigt. Am 27.11.2002 befand sie sich zusammen mit ihrem Ehemann in Alba, Italien, um dort Waren anzuliefern. Beim Verlassen des Büros der Firma Ferrero war sie auf der Eisentreppe gestürzt und auf das Gesäß gefallen. Am 30.11.2002 stellte sie sich, nachdem sie zusammen mit ihrem Ehemann ins Bundesgebiet zurückgefahren war, beim Chirurgen Dr. B., Krankenhaus C. vor. Er stellte eine Sacrumprellung ohne Anhalt für eine frische knöcherne Verletzung fest. Sensibilitätsstörungen in den unteren Extremitäten bestünden nicht (Durchgangsarztbericht vom 30.11.2002). Der Orthopäde Dr. D. beschrieb unter dem 17.12.2002 eine massive Facettenreizung und ligamentäre Reizung der unteren LWS noch ohne eindeutige Ischialgie, ohne Reflexausfälle und eine wechselhafte Wurzelreizsymptomatik L5/S1 links. Die bisherige computertomographische Abklärung im Krankenhaus C. vom 13.12.2002 habe keinen Hinweis auf einen Bandscheibenvorfall, jedoch auf eine Facettendegeneration, Spondylarthrose mit Neuroforamenstenose L4/L5 ergeben. Röntgenologisch habe sich dort kein Anhalt für eine knöcherne Verletzung ergeben. Unter dem 21.02.2003 teilte er mit, dass trotz ambulanter konservativer Therapie durch Krankengymnastik, Wärmebehandlung sowie lokalisierten Infiltrationen über eine weiterhin erhebliche Schmerzsymptomatik geklagt worden sei. Es sei auch einmal eine peridurale Analgesie durchgeführt worden. Dies habe der Patientin keine wesentliche Linderung erbracht, zusätzlich seien nach Angaben der Patientin Sensibilitätsstörungen der Beine aufgetreten. Die Klägerin befand sich daraufhin in Behandlung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Ludwigshafen. Nach einem stationären Aufenthalt dort vom 11.03.2003 bis 11.04.2003 wurden die Diagnosen eines Belastungsdefizits der Wirbelsäule nach LWS-Stauchung und Sacrumprellung, einer schlaffen Blasenlähmung unklarer Genese, Stressharninkontinenz und Sensibilitätsstörungen Nervus genito-femuralis, Ausbreitungsgebiet rechts, gestellt. Der von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Ludwigshafen hinzugezogene Neurologe G. berichtete unter dem 14.03.2003 über eine Blasenentleerungsstörung, Schmerzen im Steißbeinbereich, zum Teil mit Ausstrahlung (dann auch Kribbelparästhesien) in den rechten Oberschenkel sowie eine Amenorrhoe seit dem Unfall. Als vorläufige Diagnose gab er ein fraglich leichtes Wurzelreizsymptom L5/S1 rechts ohne elektrophysiologisches Defizit an. Unter dem 07.04.2003 beschrieb er zusätzlich Missempfindungen und Gefühlsstörungen im Intimbereich und stellte als vorläufige Diagnose eine Sensibilitätsstörung im Versorgungsbereich des rechten Nervus genito-femuralis unklarer Genese sowie eine neurogene Blasenstörung unklarer Genese. Die Klägerin wurde vom 12.05.2003 bis 28.05.2003 erneut stationär in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Ludwigshafen behandelt (Diagnose: LWS-Prellung unter Sacrumstauchung vom 27.11.2002, schlaffe Blasenlähmung, Stressharninkontinenz und dauerhaft notwendige Selbstkatheterisierung). Auf Anfrage der Beklagten teilte der Neurologe G. unter dem 18.06.2003 mit, dass die Sensibilitätsstörung im Bereich des rechten Nervus genito-femuralis mit Wahrscheinlichkeit auf eine Schmerztherapie im Bereich der LWS zugeführt werden müsse und damit letztlich auf den Unfall vom 27.11.2002.

Die Beklagte hat das Mitglieds- und Leistungsverzeichnis der Deutschen BKK beigezogen und Prof. Dr. E., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik (BGU) Ludwigshafen, mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem zusammen mit Dr. F. erstellten Gutachten führte der Sachverständige aus, dass aus unfallchirurgischer Sicht keine Unfallfolgen bestünden. Ob die Klägerin durch Unfallfolgen in ihrer Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei, müsse von neurologischer Seite aus beurteilt werden. In seinem nervenfachärztlichen Zusatzgutachten vom 08.10.2003 beschrieb der Neurologe G. eine Sensibilitätsstörung im Versorgungsbereich des Nervus genito-femuralis beidseits sowie eine Blasenentleerungsstörung. Die unfallbedingte MdE schätze er mit unter 10 v.H. ein. Er führte aus, dass die angegebene Sensibilitätsstörung im Rahmen der unfallbedingt notwendig gewordenen Schmerztherapie aufgetreten sei, weshalb von nervenärztlicher Seite von einem Unfallzusammenhang ausgegangen werde. Die Blasenentleerungsstörung sei fachurologisch zu beurteilen. Prof. Dr. H. stellte zusammen mit Dr. I. in dem daraufhin veranlassten urologischen Zusatzgutachten vom 09.12.2003 eine Blasendistension und Blasenhyposensibilität mit Detrusorakontraktilität und der Notwendigkeit der Katheterisierung fest, die Ursachenabklärung sei jedoch nicht einwandfrei möglich. Die zum jetzigen Zeitpunkt bestehende Blasenentleerungsstörung und Blasenhyposensibilität und Detrusorakontraktilität könnte auf den Unfall zurückzuführen sein. Ein gleichartiger Befund sei aber auch bei den sog. "lazy bladder" zu sehen, wie man sie teilweise bei Fernfahrern beschrieben sehe. Urologische Befunde könnten erst im Zusammenhang mit dem Nachweis einer im entsprechenden Segment (S2-S4) nachgewiesenen Läsion als neurogen und damit evtl. als unfallbedingte Blasenentleerungsstörung gewertet werden. Aus urologischer Sicht sei somit mit den vorhandenen Befunden eine eindeutige Ursachenklärung nicht möglich. Die Beklagte zog daraufhin den Bericht über eine Computertomographie der Lendenwirbelsäule vom 12.02.2003 bei (Dr. K.: Diskopathie L2/3 und L4/5, in Höhe L5/S1 BS-Dehydrierung und Verdacht auf leichtes Ventralgleiten von LWK 5, assoziiert hier deformierende Spondylarthrosen bilateral ohne nennenswerte Beeinträchtigung der Spinalkanalweite, kein Prolaps, kein Hämatom, Conus und Cauda o.B.). Prof. Dr. H. und Dr. I. führten daraufhin in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 06.09.2004 aus, dass mit dem MRT-Befund eine sichtbare Läsion auf Höhe S2/S4 ausgeschlossen werden könne. Eine Gefühlsstörung von Nabel bis Beinen abwärts sei mit keinem Dermatom zu vereinbaren, ebenfalls habe in den neurologischen Konsilen keine objektivierbare Läsion festgestellt werden können. Eine abweichende Beurteilung ergebe sich daher nicht.

Die Beklagte veranlasste eine weitere Untersuchung der Klägerin in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L ... Der Radiologe Dr. M. stellte in seinen radiologischen Zusatzgutachten vom 01.02. bzw. 02.02.2005 aufgrund einer Kernspintomographie der LWS vom 01.02.2005 einen unauffälligen lumbalen Spinalkanal und Myelon fest, eine Conus- oder Cauda- Kompression sei nicht erkennbar. Die Kernspintomographie des Beckens vom 01.02.2005 habe keinen Anhalt für eine frische/alte Os sacrum-Fraktur ergeben. Es stünden minimale degenerative Veränderungen beider Iliosacralgelenke in den cranialen Anteilen, eine kleine Zyste im medialen Schenkelhalsbereich rechtsseitig, eine ca. 3,4 cm messende Zyste im Adnexenlager links, im Sinne einer Ovarialzyste, vermutlich Uterus myomatosus mit großem Myomknoten cranial und dorsal bis 6,8 cm messend. Im nervenärztlichen Zusatzgutachten führte der Neurologe und Psychiater Dr. N. zusammen mit dem Neurologen und Psychiater Dr. V. aus, dass es zu Verletzungen an den Strukturen des Nervensystems bei dem Unfallereignis vom 27.11.2002 nicht gekommen sei. Es lägen keine Unfallfolgen auf nervenärztlichem Fachgebiet vor. Neben operativen Eingriffen seien degenerative Wirbelsäulenveränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule bekannt. Eine Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit habe aus nervenärztlicher Sicht nach dem Unfallereignis nicht bestanden. Eine MdE wegen Unfallfolgen resultiere nicht. Im unfallchirurgischen Gutachten von Prof. Dr. O., Dr. P. und Dr. Q. wurde von einer Prellung des Beckens und des Sacrums ausgegangen. Auf unfallchirurgischem Fachgebiet seien keine Unfallfolgen verblieben. Im urologischen Gutachten von Dr. R.-. und Dr. S. wurde eine hypotone, deutlich hypokontraktile, unter Messplatz-Bedingungen areflexe Harnblase ohne Entleerung bis zu einer Blasenfüllung von 500 ml, auch nicht unter Einsatz einer allerdings nur leichtgradigen Bauchpresse beschrieben. Unter der Voraussetzung, dass ein neurologisches Korrelat bestehe, sei von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit auf urologischem Fachgebiet von 30 v.H. auszugehen. Die Ursache der Harnblasenmuskelakontraktilität könne von urologischer Seite aus nicht festgestellt werden, sondern müsse neurologisch abgeklärt werden.

Mit Bescheid vom 07.06.2005 lehnte die Beklagte den Anspruch auf Gewährung einer Rente ab. Eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit habe bis zum 08.01.2003 bestanden. Leistungen über den 08.01.2003 hinaus seien daher nicht zu erbringen. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und begehrte die Gewährung von Rentenzahlungen ab dem 08.01.2003. Mit Bescheid vom 24.10.2005 lehnte die Beklagte erneut den Anspruch auf Gewährung einer Rente ab und wies den Widerspruch "gegen die Verwaltungsakte vom 07.06.2005 und 24.10.2005" mit Widerspruchsbescheid vom 09.12.2005 zurück. Die festgestellte Blasenentleerungsstörung könne neurologisch nicht auf den Unfall zurückgeführt werden, weil eine Verletzung an den Strukturen des Nervensystems nicht vorliege. Auch die bei der Klägerin durchgeführte Peridualanästhesie im Januar 2003 sei nicht ursächlich für die Blasenentleerungsstörung, weil nach deren Durchführung keine neurologischen Ausfälle bestanden hätten.

Hiergegen hat die Klägerin am 09.01.2006 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben.

Das SG hat Beweis erhoben durch das Einholen eines urologischen Fachgutachtens bei Prof. Dr. Riedmiller, Universitätsklinikum Würzburg. In dem zusammen mit Dr. T. und Dr. U. erstellten Gutachten haben die Sachverständigen eine hyposensible, hypokontraktile bzw. akontraktile Harnblase mit sekundärer Megazystis festgestellt. Es ergebe sich sowohl anamnestisch als auch nach den durchgeführten Untersuchungen kein Hinweis auf eine etwaige Belastungs- oder Urgeinkontinenz. Es liege eine neurogene Harnblasenentleerungsstörung vor, deren Ursache am ehesten in einer intrapelvinen Läsion der Blaseninnervation zu sehen sei. Eine psychogene Detrusorakontraktilität lasse sich bei negativem Carbachol-Test ausschließen. Die im Gutachten von Prof. H. angeführte "lazy bladder" erscheine unwahrscheinlich. Eine Ursachenklärung bei fehlendem neuroradiologisch-morphologischem Korrelat sei nicht möglich. Eine vormals diagnostizierte Stressharninkontinenz lasse sich anamnestisch und morphologisch nicht nachweisen. Aus urologischer Sicht ergebe sich keine Bedingung außer der des Unfalls als Ursache für die festgestellte Blasenentleerungsstörung. In der Zusammenschau der Befunde sei von einer neurogen bedingten Harnblasenentleerungsstörung infolge des Unfalles vom 27.11.2002 auszugehen. Von urologischer Seite sei bei einer neurogenen Blasenentleerungsstörung mit Notwendigkeit des regelmäßigen Selbstkatheterismus ohne wesentliche Begleiterscheinungen von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 % auszugehen. Hierauf hat die Beklagte ergänzende Stellungnahmen von Dr. V., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik L. und Dr. R.-. vom 03.05.2007 vorgelegt, die daran festgehalten haben, dass Verletzungen an den Strukturen des Nervensystems beim Unfallereignis vom 27.11.2002 nicht eingetreten seien und das allenfalls von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. auszugehen sei.

Das SG hat weiter Beweis erhoben durch das Beiziehen einer sachverständigen Zeugenaussage des Neurologen Dr. W., der die Klägerin ab März 2007 behandelt hat, sowie durch das Einholen eines weiteren Gutachtens beim Neurologen Prof. Dr. X., Universitätsklinikum Würzburg. In dem zusammen mit PD Dr. Y. erstellten Gutachten vom 29.04.2008 und unter Berücksichtigung eines neuroradiologischen Zusatzgutachtens von Prof. Dr. Z., Prof. Dr. Aa. und Dr. Bb. hat er nach einer Begutachtung nach zweitägigem stationären Aufenthalt der Klägerin eine beidseitige inkomplette Schädigung des Plexus lumbosacralis nach dem Unfall vom 27.11.2002 sowie ein organisch nicht begründbares Pseudo-Querschnitt-Syndrom festgestellt. Auch wenn die gravierende Funktionsbeeinträchtigung aller vier Extremitäten funktionell sei und auch ausweislich der vorliegenden MRT-Diagnostik des zentralen Nervensystems vom Gehirn bis in das untere Rückenmark hinein kein strukturelles Substrat habe, sei es dennoch gelungen, durch eine jetzt erstmals vorgenommene, hinreichend ausgiebige und sorgsame elektrophysiologische Untersuchung den organischen Kern der Beschwerden herauszuarbeiten. Die durchgeführten Untersuchungen hätten den zweifelsfreien Nachweis einer stattgehabten Schädigung der lumbosacralen Nervenplexus beidseits ergeben, was auch zum Befund des Würzburger urologischen Gutachtens passe. Um eine ggf. zusätzlich vorliegende, die Befunde am Unterschenkel und Fuß erklärende Nervenwurzelläsion L5 auszuschließen, habe man im Einverständnis mit der Klägerin erneut eine lumbale Computertomographie durchgeführt. Diese habe eine ggf. auch erst sekundär erworbene wie auch immer geartete Wurzelläsion ausgeschlossen, so dass nicht nur aufgrund des urologischen Gutachtens aus Würzburg, sondern auch aufgrund der jetzt durchgeführten elektrophysiologischen Untersuchung der Schädigungsort des Nervensystems im kleinen Becken liege, also den Plexus lumbosacralis betreffend. Mithin seien von Seiten des neurologischen Fachgebiets Blasenstörung, Mastdarmstörung und eine leichte Beinschwäche objektiv zu diagnostizieren. Zusätzlich habe sich im Laufe der Zeit ein funktioneller Überbau in Form einer Pseudo-Querschnitt-Lähmung eingestellt. Die Sachverständigen haben bezweifelt, dass diese Querschnittlähmung so bewusstseinsnah sei, wie dies in L. angenommen werde. Sie werde so wenig trickreich und so inkonsistent, etwas hilflos wirkend vorgetragen, wie es bei Simulanten ungewöhnlich wäre. Näher liege die Annahme, dass es sich um einen innerseelischen Akt der Verdeutlichung eines Leidenszustandes handele, von einer Frau, die sich in ihren Beschwerden nicht richtig eingeschätzt und ernst genommen fühle. Die Angaben der Klägerin zu den ersten Stunden und Tagen nach dem Unfall seien teilweise widersprüchlich gewesen und eine Beobachtung durch unabhängige Zeugen sei nicht aktenkundig. Andererseits gebe es aber auch keinen vernünftigen Grund, am Unfall als solchem zu zweifeln und es gebe aber keinen plausiblen oder gar offenkundigen Grund, eine andere Ursache als den Unfall für die nachgewiesene Schädigung des Plexus im Becken anzunehmen. Zusammengefasst ergebe sich für die durch Unfall vom 27.11.2002 erworbenen Schäden als Minderung der Erwerbsfähigkeit eine Teil-MdE von 50 v.H. für die Blasenstörung, eine additive Teil-MdE um 10 v.H. für die partielle Schließmuskellähmung des Mastdarms, eine additive Teil-MdE um 10 v.H. für die Läsion der beinversorgenden Nerven im kleinen Becken mit leichter distaler Paraparese. Insgesamt also eine MdE um 70 v.H. für die objektiv vorhandenen Körperschäden auf Dauer seit dem Unfall vom 27.11.2002. Darüber hinaus bestehe aus Sicht der Sachverständigen als sekundäre Unfallfolge ein funktionelles Pseudo-Querschnitt-Syndrom mit Rollstuhlpflichtigkeit, welches erstmals im Februar 2004 dokumentiert worden sei und das für sich alleine eine MdE um 100 v.H. bedinge.

Die Beklagte hat eine gutachterliche Stellungnahme von Dr. V. und Dr. Cc., Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik L. vom 17.09.2008 vorgelegt. Sie haben auf massive Diskrepanzen bei den klinischen Untersuchungsbefunden hingewiesen und ausgeführt, dass das nunmehr vorgelegte neurologische Gutachten in seinen Aussagen nicht nachvollzogen werden könne, denn ein Primärschaden an den Strukturen des Nervensystems sei für das Unfallereignis auszuschließen. Außerdem hat die Beklagte eine ergänzende chirurgische Stellungnahme nach Aktenlage von Prof. Dr. O. und Dr. Q.l vorgelegt, die die Auffassung vertreten haben, dass aus unfallchirurgischer Sicht nie Verletzungen des knöchernen Skelettsystems vorgelegen hätten, welche zu solchen neurologischen und urologischen Veränderungen hätten führen können.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 26.02.2009 mitgeteilt, für eine psychiatrische Begutachtung nicht zur Verfügung zu stehen. Sie beklage physische Schäden/körperliche Organschädigungen nach dem Arbeitsunfall.

Mit Urteil vom 23.06.2009 hat das SG unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Unfalles vom 27.11.2002 eine Verletztenrente nach einer MdE von 70 v.H. ab 09.01.2003 zu gewähren. Es hat sich zur Begründung im Wesentlichen der Einschätzung von Prof. Dr. X. angeschlossen, der zweifelsfrei eine stattgehabte Schädigung der lumbosacralen Nervenplexus beidseits nachgewiesen habe. Die hiergegen erhobenen Einwendungen seien nicht geeignet, die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen in Zweifel zu ziehen.

Gegen das der Beklagten am 03.07.2009 zugestellte Urteil hat diese am 27.07.2009 Berufung eingelegt. Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts nicht für überzeugend und verweist insoweit auf die vorgelegten beratungsärztlichen Stellungnahmen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Juni 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise zur weiteren Ermittlung des Sachverhaltes ein neurologisches Sachverständigengutachten einzuholen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Inhalts wird auf die beigezogene Akte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung hat aber nur im tenorierten Umfang Erfolg. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 27.11.2002 eine Verletztenrente zu gewähren. Diese besteht aber nur in der vom Senat ausgeurteilten Höhe.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben gem. § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v. H. mindern.

Versicherungsfälle im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Für einen Arbeitsunfall ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitsschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (BSGE, Urteil vom 2.4.2009 – B 2 U 29/07 R – in Juris m.w.N.).

Voraussetzung für die Berücksichtigung einer Gesundheitsstörung bzw. Funktionseinschränkung als Unfallfolge bei der Bemessung der MdE ist grundsätzlich u. a. ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis bzw. dem dadurch eingetretenen Gesundheitserstschaden und der fortdauernden Gesundheitsstörung (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen - neben der versicherten Tätigkeit - der Gesundheitserstschaden und die eingetretenen fortdauernden Gesundheitsstörungen gehören, mit einem der Gewissheit nahekommenden Grad der Wahrscheinlichkeit erwiesen sein. Für die Bejahung eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Gesundheitserstschaden und den fortdauernden Gesundheitsstörungen gilt in der gesetzlichen Unfallversicherung die Kausalitätstheorie der "wesentlichen Bedingung". Diese hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob das Ereignis nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Auf Grund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen. Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens abgeleitet werden (vgl. die zusammenfassende Darstellung der Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung im Urteil des BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209 und Juris).

Bei mehreren konkurrierenden Ursachen muss die rechtlich wesentliche Bedingung nach dem Urteil des BSG vom 9.5.2006 (a.a.O. Rdnr. 15) nicht "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig" sein. Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben. Kommt einer der Ursachen gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist sie allein wesentliche Ursache und damit allein Ursache im Rechtssinn.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22.6.2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Bei dem Ereignis vom 27.11.2002 handelt es sich um einen Arbeitsunfall, was die Beklagte auch nicht in Abrede stellt und durch den von der Klägerin wegen der Ablehnung einer Rente angefochtenen Bescheid bestandskräftig festgestellt hat. Die Klägerin hat sich bei dem Sturz am 27.11.2002 in Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit als Fernfahrerin auf dem Gelände der Fa. Ferrero nach dem Anmelden von Waren und Verlassen des Büros dieser Firma beim Sturz auf einer Eisentreppe eine Steißbeinprellung zugezogen, die von keinem der gehörten Sachverständigen in Zweifel gezogen und durch den Durchgangsarztbericht von Dr. B. bestätigt worden ist. Dass ein innerer bzw. sachlicher Zusammenhang vorgelegen hat, die Verrichtung der Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Sturz als Unfallereignis – geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitsschaden, die Steißbeinprellung verursacht hat, mithin ein Arbeitsunfall vorgelegen hat, ist auch für den Senat nicht zweifelhaft.

Mit ihrer Berufung macht die Beklagte vielmehr sinngemäß geltend, eine Blasenentleerungsstörung, eine partielle Mastdarmstörung und eine leichte Beinschwäche könnten nicht als Folgen des Arbeitsunfalles bei der Bemessung der MdE berücksichtigt werden. Diese Auffassung teilt der Senat nicht.

Nach den vom SG eingeholten Gutachten sind diese Einschränkungen als Folgen des Arbeitsunfalles zu berücksichtigen. Der Senat schließt sich insoweit ebenfalls den gutachterlichen Feststellungen von Prof Dr. X. und PD Dr. Y. sowie dem Gutachten von Prof. Dr. Riedmiller an. Danach steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die genannten Einschränkungen auf eine neurogene Ursache zurückzuführen sind. Bereits das urologische Gutachten von Prof. Dr. Riedmiller hat nach ausführlicher Untersuchung die Auffassung vertreten, dass eine neurogene Harnblasenentleerungsstörung vorliegt, deren Ursache am ehesten in einer intrapelvinen (also einer innerhalb des Beckens gelegenen) Läsion der Blaseninnervation zu sehen ist. Eine psychogene Detrusorakontraktilität hat er darüber hinaus schon urologisch aufgrund eines negativen Carbachol-Tests ausschließen können und die These von Prof. Dr. H., Ursache der Blasenstörung könne auch ein sog. "lazy bladder" sein, als unwahrscheinlich bezeichnet. Er hat dies schlüssig und überzeugend damit begründet, dass unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin und der relativ kurzen Zeit einer Tätigkeit als Fernfahrerin nicht von einer langfristigen Miktionsvermeidung ausgegangen werden kann und dass der ebenfalls festgestellte erniedrigte Analsphinktertonus ebenfalls für eine neurogene Schädigung im kleinen Becken spricht, weil auch der Analsphinkter aus den Segmenten S2 bis S4 versorgt wird. Den Nachweis einer dort lokalisierten Schädigung hat dann das Gutachten von Prof. Dr. X. und PD Dr. Y. erbracht. Die im Rahmen der zweitägigen stationären Untersuchung durchgeführten elektropysiologischen Untersuchungen haben nach den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen den unzweifelhaften Nachweis einer Schädigung des lumbosakralen Nervenplexus bds. erbracht, welche ursächlich für die diagnostizierte Blasenentleerungsstörung, die partielle Schließmuskellähmung des Mastdarmes und die Läsion beinversorgender Nerven im Becken mit leichter distaler Parese verantwortlich ist.

Die hiergegen von Dr. V. und Dr. Cc. vorgebrachten Einwendungen vermögen den Senat nicht zu überzeugen. Schon deshalb nicht, weil diese nun gerade nicht behaupten, im Rahmen der in L. durchgeführten Untersuchungen den lumbosakralen Nervenplexus selbst als unauffällig befundet zu haben. Vielmehr wird lediglich dargelegt, in der Summe der dort durchgeführten Untersuchungen sei man zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Primärschaden ausgeschlossen werden könne. Unabhängig davon, dass neurologisch ein pathologischer Befund überhaupt nicht erhoben worden war, legt die beratungsärztliche Stellungnahme weder dar noch erläutert sie, dass die Befunderhebungen des gerichtlichen Sachverständigen in ihrer Aussagekraft angreifbar oder gar vom Willen und Verhalten der Klägerin in der Untersuchungssituation abhängig gewesen sind. Hierfür besteht bei den durchgeführten neurologischen Untersuchungen (Elektromyographie) auch kein Anhalt. Soweit die Stellungnahme auf - im Übrigen auch vom gerichtlichen Sachverständigen ausführlich beschriebenen - Ausgestaltungen der Klägerin verweist, vermengt sie neurologisch nachweisbare Schädigungen einerseits und die damit erklärbaren Funktionseinschränkungen mit dem auch von Prof. Dr. X. beschriebenem Pseudo-Querschnittsyndrom ohne organisches Korrelat. Die Ausweitung des Beschwerdebildes muss und kann von den objektiv zu erhebenden Befunden abgegrenzt werden. Dass dies möglich ist, haben die Gutachten von Prof. Dr. Riedmiller und Prof. Dr. X. belegt.

Der Senat geht daher von fortdauernden Gesundheitsstörungen aus, die auf eine infolge des Sturzes auf das Steißbein vom Unfall verursachte Nervenschädigung zurückzuführen sind. Diese sind auch mit der hierfür erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf das Sturzereignis zurückzuführen. Denn die im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallereignis vorliegenden Berichte belegen zur Überzeugung der Kammer eine massive Beeinträchtigung, welche die Notwendigkeit einer Schmerztherapie nach sich zog und sprechen somit für eine Schädigung. So hat der Orthopäde Dr. D. die Beschwerden in Zusammenhang mit der Wirbelsäule gedeutet (Bericht vom 17.12.2002) und eine ambulante konservative Behandlung durch Krankengymnastik, Wärmebehandlung und lokalisisierten Infiltrationen verordnet, welche aber nach seinem Bericht vom 21.02.2003 nicht zu einer Linderung des Beschwerdebildes geführt haben ("erhebliche Schmerzsymptomatik"). Gerade weil Wirbelsäulenverletzungen als Ursache dieser Schmerzen nicht in Betracht kommen (zuletzt Ausschluss einer Wurzelreizsymptomatik durch die im Rahmen des Gutachtens durchgeführte Kernspintomographie), ist für den Senat mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit und nicht nur mit einer theoretischen Möglichkeit belegt, dass es zu einer Schädigung durch den Unfall in Form einer Gewebezerreißung, einer Zerrung oder Blutung (so Prof. Dr. X.) im Bereich des Beckens gekommen sein muss, der die Nervenschädigung verursacht hat. Dabei verkennt der Senat keineswegs die - wie alle Gutachter beschrieben haben - dürftige Aktenlage in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall, insbesondere was die Anamnese und Befunderhebung in den ersten Berichten nach dem Unfall anbelangt und auch nicht die inkonsistenten Angaben der Klägerin im Hinblick auf die bestehenden Beschwerden. Eine erforderliche zeitnah durchzuführende Kernspintomographie des Beckens wurde, worauf Prof. Dr. X. zu Recht hinweist, aber eben gerade nicht durchgeführt. Diese Umstände vermögen eine andere Beurteilung im Ergebnis daher nicht zu rechtfertigen.

Dass am 30.11.2002 keine Sensibilitätsstörungen vermerkt wurden, - bei allerdings fehlender Befundbeschreibung - auch keine äußere Verletzungszeichen angegeben und in den Röntgenbildern knöcherne Verletzungszeichen ausgeschlossen wurden, in der Ambulanz für Anästhesiologie am Hohenloher Krankenhaus ein regelrechter neurologischer Befund an den unteren Gliedmaßen beschrieben wurde, wie Dr. V. und Dr. Cc. meinen, führt insoweit nicht weiter, weil nach Ausschluss einer knöchernen Verletzung im Bereich der Wirbelsäule auch nach dem gerichtlichen Gutachten keine organische Ursache für die geschilderten Sensibilitätsstörungen und Lähmungserscheinungen an der unteren Extremität besteht. Auch hier differenziert die beratungsärztliche Stellungnahme nicht zwischen den zwischenzeitlich nachgewiesenen Gesundheitsschädigungen und den unstreitig nicht auf organische Ursachen zurückführbaren weiteren Einschränkungen. Dieser Verlauf stellt vielmehr ein Beleg für die These von Prof. Dr. X. dar, wonach die zunehmenden Ausgestaltungen der Klägerin ein Akt der innerseelischen Verdeutlichung eines Leidenszustandes einer Frau sind, die sich in ihren Beschwerden nicht richtig eingeschätzt und ernst genommen fühlte. Immerhin wird zugestanden, dass am 28.01.2003 bereits "unsichere Angaben" zu Miktion und Defäkation gemacht worden sind, ohne dass diesen aber ernsthaft nachgegangen worden wäre (vgl. Prof. Dr. X., der insoweit eine Rektaluntersuchung und eine Kernspintomographie des Beckens für erforderlich gehalten hat). Die dann durchgeführte Kernspintomographie umfasste nur den Bereich des 9. Brustwirbels bis zum 3. Sakralwirbel, weshalb wohl die unteren Segmente der LWS nicht befundet worden waren. Über eine massive Schmerzsymptomatik im Sakralbereich war jedoch auch noch im März 2003 in der BGU Ludwigshafen geklagt worden. Eine abschließende Beurteilung von Unfallfolgen erlaubte daher auch dieser bildgebende Befund nicht.

Schließlich steht der Anerkennung und Berücksichtigung der Schädigung des Plexus lumbosakralis nicht entgegen, dass der genaue Schädigungsmechanismus, wie Prof. Dr. X. und PD Dr. Y. ausgeführt haben, nicht im einzelnen belegt ist. Damit wird der ursächliche Zusammenhang nicht unwahrscheinlich. Denn zunächst ist festzuhalten, dass keiner der urologischen Sachverständigen einen solchen ursächlichen Zusammenhang ausgeschlossen hat. Er wurde letztlich vielmehr vom Nachweis einer neurologischen Schädigung abhängig gemacht. Der Sturz mit dem Gesäß auf eine Eisentreppe über mehrere Stufen hinweg, ist auch von keinem Sachverständigen als grundsätzlich ungeeigneter Schädigungsmechanismus bezeichnet worden. Soweit Prof. Dr. O. auf den fehlenden Nachweis von Verletzungen des knöchernen Skelettsystems hinweist, die solche neurologischen oder urologischen Veränderungen hätten herbeiführen können, ist dies für den Senat wenig überzeugend, denn damit begründet er weder, dass dies damit grundsätzlich ausgeschlossen wäre noch setzt er sich mit der Argumentation von Prof. Dr. X. im Hinblick auf eine fehlende zeitnahe bildgebende Diagnostik des Beckens auseinander und dass der fehlende Nachweis an der Wirbelsäule unstreitig ist. Eine nachvollziehbare und zwingende Begründung, weshalb deshalb eine Schädigung grundsätzlich und von Vornherein nicht in Betracht kommen kann, ergibt sich aus dieser Stellungnahme nicht. In Übereinstimmung mit Prof. Dr. Riedmiller und Prof. Dr. X. ist auch der Senat der Überzeugung, dass die Schädigung des Plexus lumbosacralis mit dem Unfallereignis eingetreten und die Klägerin gezwungen war - wie sie mehrfach angegeben hat - die Blase mittels Bauchpresse zu entleeren.

Ist damit aber nach Überzeugung des Senats eine durch den Unfall bedingte Verursachung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit belegt, fehlt es am Nachweis einer konkurrierenden Ursache, die rechtlich wesentlich verantwortlich für eine durch die Nervenplexusschädigung vermittelte Blasenentleerungsstörung sein könnte. Keiner der gehörten Sachverständigen hat insoweit konkurrierende Ursachen nachgewiesen. Prof. Dr. Riedmiller hat nachvollziehbar und überzeugend dargelegt, dass die im Bereich der LWS festgestellte deutliche Degeneration (Spondyloarthrosen) zu einer andersartigen Blasenentleerungsstörung hätten führen müssen, die aber wegen der nachgewiesenen Akontraktilität des Detrusors hier nicht vorliegt. Andere Auffassungen hierzu wurden nicht vertreten. Soweit Prof. Dr. H. eine "lazy bladder" als mögliche Ursache bezeichnet hat, ist diese schon nicht nachgewiesen und unter Berücksichtigung der Ausführungen von Prof. Dr. Riedmiller sogar unwahrscheinlich, wozu oben bereits ausgeführt wurde. Im Übrigen ist nunmehr die Lokalisation der neurogenen Schädigung durch das Gutachten von Prof. Dr. X. nachgewiesen. Darüber hinaus hat Prof. Dr. Riedmiller ebenso überzeugend und nachvollziehbar das Vorliegen einer Stressinkontinenz als auch relevante Vorerkrankungen (Diabetes mellitus, Multiple Sklerose, Morbus Parkinson) als Ursache für eine neurogene Blasenstörung ausschließen können. Schließlich fehlt es für die Annahme einer Verursachung durch die Peridualanästhesie an einem morphologischen Korrelat, wie der Sachverständige unter weiterem Hinweis darauf, dass von der Klägerin Blasenentleerungsstörungen auch schon für die Zeit davor angegeben wurden, ausgeführt hat.

Eine Erörterung, welcher Ursache von mehreren der wesentliche Verursachungsbeitrag zukommt, erübrigt sich daher.

Ob die von Prof. Dr. X. als Pseudo-Querschnittsyndrom bezeichnete Gesundheitsstörung als weitere (mittelbare) Unfallfolge zu berücksichtigen wäre, kann dahin stehen, da sich die Klägerin zur Klärung einer psychischen Ursache dieser Gesundheitsstörung und deren unfallbedingte Verursachung einer weiteren Begutachtung nicht zur Verfügung gestellt hat. Ihre Klage hat sie auf die Anerkennung und Berücksichtigung physischer Schädigungen beschränkt. Nur hierüber hat das SG entschieden. Eine nachvollziehbare organische Ursache für Sensibilitätsstörungen unterhalb des Nabels sowie für Einschränkungen der Motorik und Sensibilität der Extremitäten und damit für einen Zusammenhang mit dem Unfall besteht nach den ebenso überzeugenden Ausführungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen nicht.

Weiterer Ermittlungen, insbesondere auf neurologischem Fachgebiet, wie die Beklagte beantragt hat - ohne hierfür allerdings ein konkretes Beweisthema zu benennen - bedarf es unter Berücksichtigung der gemachten Ausführungen zum Nachweis einer neurologischen Schädigung und des Verursachungszusammenhanges nicht.

Abweichend von der Entscheidung des SG und der Empfehlung von Prof. Dr. X. und PD Dr. Y. hält der Senat eine MdE um 70 v.H. aber nicht für gerechtfertigt.

Dabei teilt der Senat zunächst die Auffassung des SG, dass über die Dauer unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bereits bestandskräftig entschieden ist, da die Beklagte dies zuletzt im Bescheid vom 24.10.2005 so verfügt hat, ohne dass dies im Widerspruchsverfahren oder Klageverfahren angegriffen worden war. Ein Antrag auf Gewährung von Verletztengeld liegt dementsprechend auch nicht vor.

Der Rentenbeginn richtet sich nach § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII. Danach werden Renten an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet. Das Verletztengeld endet u.a. mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit (§ 46 Abs. 3 Nr. 1, 1. Alt. SGB VII). Eine von der Klägerin nicht angefochtene Entscheidung über die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit liegt mit den angefochtenen Bescheiden vor, in denen die Beklagte unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit (und Behandlungsbedürftigkeit) nur bis 08.01.2003 anerkannt und darüber hinaus Leistungen über dieses Datum hinaus auch abgelehnt hatte. Der Rentenbeginn war damit mit dem 09.01.2003 festzustellen.

Der Senat stützt sich bei der Bemessung der MdE zunächst auf die von Prof. Dr. Riedmiller vertretene Einschätzung und hält für die beschriebene Blasenlähmung ebenfalls eine MdE um 50 v.H. der Vollrente für gerechtfertigt. Die vom Sachverständigen genannten Literaturstellen (Marx, Medizinische Begutachtung, 1992, S. 436; Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 6. Auflage 2001, S. 873) beschreiben differenziert urologisch relevante Einschränkungen, die in anderen Standardkommentierungen so nicht zu finden sind (vgl. etwa Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Auflage, welche nur im Zusammenhang mit Querschnittslähmungen zu Blasenentleerungsstörungen Stellung nehmen, ohne allerdings eine - neurogene - Lähmung gesondert zu bewerten; ebenso: Bereiter-Hahn/Mehrtens, Stand Mai 2012, Anhang 12, J 025; Ricke in Kasseler Kommentar, Stand April 2012, § 56 Rz 58 u. 62). So werden insbesondere bei Fritze (a.a.O.) neurogene Blasenstörungen in Abgrenzung zu anderen Störungen und in Abhängigkeit ihrer Auswirkungen eigenständig beurteilt und im Falle der Notwendigkeit regelmäßiger Katheterisierung und ohne wesentliche Begleiterscheinungen mit einer MdE um 50 v.H. bewertet. Der Senat sieht keinen Grund hiervon abzuweichen. Allerdings ist in der Gesamtschau der vorliegenden unfallbedingten Schädigungen, also unter zusätzlicher Berücksichtigung des erniedrigten Analsphinktertonus und der leichten Fußheberschwäche eine additive Berücksichtigung dieser nur diskreten Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit nicht gerechtfertigt. Dies schließt der Senat aus den herangezogenen Vergleichswerten in der Rentenliteratur, die im Bereich von Querschnittslähmungen vergeben werden. Nach Schönberger/Mehrtens/Valentin (a.a.O., S. 474f.) wird eine unvollständige Brustmark-, Lendenmark- oder Kaudaschädigung mit mäßiger Teillähmung beider Beine sowie mit Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung mit einer MdE von 40 bis 60 v.H. bewertet. Sind darüber hinaus ausgeprägte Teillähmungen beider Beine zu berücksichtigen, erhöht sich die MdE auf 60-80 v.H. Ein besonderer Einfluss auf die MdE kommt in diesem Zusammenhang aber, wie Schönberger/Mehrtens/Valentin (a.a.O., S. 474) entnommen werden kann, dem Umfang der Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung zu. Unter Berücksichtigung dessen und der über 60 v.H. hinausgehenden Einschätzung nur dann, wenn ausgeprägte Teillähmungen vorliegen, ist nach Auffassung des Senats eine Erhöhung der MdE für die vollständige Blasenlähmung, die zwar der Katheterisierung bedarf, aber im Wesentlichen ohne Begleiterscheinungen besteht, nicht gerechtfertigt. In dieser MdE gehen die darüber hinaus von Prof. Dr. X. bestehenden Teil-MdE-Werte von 10 v.H. vollständig auf. Die vorliegend bestehenden Lähmungen an den Extremitäten sind, worauf bereits oben eingegangen wurde, keine Unfallfolgen und damit auch nicht zusätzlich zu berücksichtigen. Der Senat hat schließlich keinen Zweifel, dass diese MdE ab dem 09.01.2003 festzustellen ist. Denn nach den Ausführungen des Sachverständigen und den Berichten von Dr. Keller sowie der BGU Ludwigshafen besteht für den Senat kein Zweifel, dass die Blase damals bereits nur mittels Bauchpresse entleert werden konnte, deshalb grundsätzlich einer Katheterisierung bedurfte und die Defäkation ebenfalls bereits ab dem Unfalltag beeinträchtigt war.

Im Übrigen war die Berufung der Beklagten jedoch zurückzuweisen. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung. Aufgrund des nur geringfügigen Obsiegens im Berufungsverfahren hält es der Senat nicht für gerechtfertigt, von einer vollständigen Kostenerstattung abzusehen.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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