S 11 R 613/11

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Halle (Saale) (SAN)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 11 R 613/11
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Notwendig nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG sind Ermittlungen, die entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Behörde nach §§ 20, 21 SGB X für die Entscheidung der Behörde durchzuführen gewesen wären.
2. "Erkennbare Ermittlungen" sind "erkennbar notwendige" Ermittlungen (Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 192, Rn. 17).
3. Bei seiner Ermessensentscheidung nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG berücksichtigt das Gericht die Schwere des Verstoßes gegen die Amtsermittlungspflicht und das weitere prozessuale Verhalten der Beklagten, entsprechend § 193 Abs. 1 SGG, wonach es Billigkeitsgesichtspunkten entsprechen kann, eine Kostenerstattungspflicht des Verwaltungsträgers zu verneinen, wenn dieser unverzüglich nach Kenntnis der Änderung der Sach- und Rechtslage dieser entspricht und anerkennt oder einen sachgerechten Vergleichsvorschlag macht.
Der Beklagten werden nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG die Kosten des vom Gericht eingeholten Gutachtens von Dr. (Gutachten vom 15. März 2012) in Höhe von 977,40 EUR auferlegt.

Gründe:

Nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.

Notwendig sind nach Ansicht des Gerichts solche Ermittlungen, die entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Behörde nach §§ 20, 21 SGB X für die Entscheidung der Behörde durchzuführen gewesen wären (in Anlehnung an z. B. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. März 2011, L 9 U 1083/10 B, dokumentiert in juris, Rn. 15, dort: im Rahmen der Amtsermittlung "unverzichtbar").

Die Gesetzesformulierung "erkennbare Ermittlungen" hält das Gericht für missglückt. Vom Textverständnis ausgehend liegt bei einer "erkennbaren Ermittlung" eine Ermittlung vor. Zu prüfen wäre, ob diese erkennbar ist. Warum dies zu einer Kostentragungspflicht der Behörde für im Gerichtsverfahren erfolgte Ermittlungen führen soll, erschließt sich dem Gericht nicht. Die Erkennbarkeit kann sich daher sinnvoller Weise nur auf die Notwendigkeit der Ermittlung beziehen (siehe auch Breitkreuz in Breitkreuz/Fichte, SGG, § 192, Rn. 17 "erkennbar notwendige" Ermittlung).

Nach § 20 Abs. 1 SGB X ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. Dabei müssen alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Verwaltungsentscheidung wesentlich und entscheidungserheblich sind (von Wulffen in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 20, Rn. 4). Bei der Frage nach dem Umfang der Nachforschungen soll sich die Behörde allein von der Notwendigkeit des jeweiligen Sachverhalts leiten lassen (a. a. O., Rn. 5). Von Ermittlungen darf sie nur absehen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn sie als wahr unterstellt werden kann oder unerreichbar ist oder wenn Ermittlungen wegen Offenkundigkeit überflüssig sind (a. a. O., Rn. 7).

Die Beklagte hat notwendige Ermittlungen unterlassen.

Voraussetzung für eine Rente wegen Erwerbsminderung ist u. a., dass das zeitliche Leistungsvermögen des Versicherten auf nicht absehbare Zeit (mindestens sechs Monate) auf unter sechs (Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI) bzw. auf unter drei Stunden täglich abgesunken ist (Rente wegen voller Erwerbsminderung, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Entscheidungserhebliche Tatsache ist daher das zeitliche Leistungsvermögen des Versicherten.

Bei phobischen Störungen und sonstigen Angststörungen ist in der Regel nur von einer qualitativen Einschränkung des Leistungsvermögens auszugehen (Leitlinien für die sozialmedizinische Beurteilung von Menschen mit psychischen Störungen, DRV-Schriften, 2006, Seite 39, 40). Bei einer somatoformen Störung kann bei einer weitgehenden Einschränkung der Fähigkeit zur Teilnahme an den Aktivitäten des täglichen Lebens beispielsweise in den Bereichen Mobilität, Selbstversorgung, Kommunikation, Antrieb, Konzentrationsfähigkeit, Interesse oder Aufmerksamkeit das quantitative Leistungsvermögen gemindert sein (a. a. O., Seite 46).

Nach von der Beklagten im Rentenverfahren eingeholten Befundberichten lag bei der Klägerin eine ängstliche Depression, eine multiple psychosomatische Störung, eine Panikstörung und Angst und Depression gemischt vor (Befundberichte vom 21. Mai 2010 und vom 3. August 2010, Seite 20, 22 Gutachtenteil Verwaltungsakte). Das Vorliegen der Erkrankungen des phobischen Formenkreises bzw. die Angsterkrankung allein hätte nach Ansicht des Gerichtes keine psychiatrische Begutachtung erfordert. Allerdings hätte das psychosomatische Krankheitsbild der Klägerin in Hinsicht auf die geschilderten Einschränkungen der Klägerin im täglichen Leben (siehe Eigenanamnese im Gutachten von Dipl.-Med. H. vom 29. August 2010, ab Seite 23 Gutachtenteil Verwaltungsakte, Anamnese Seite 24) weitere Ermittlungen erfordert. Die Klägerin hatte Einschränkungen in der Mobilität, der Selbstversorgung und der Aktivität mitgeteilt. Außerdem hatte die behandelnde Psychiaterin (Befundbericht vom 3. August 2010) auf eine fehlende Belastbarkeit der Klägerin hingewiesen. Ausschlaggebend ist jedoch, dass nach Einschätzung der begutachtenden Orthopädin Dipl.-Med. H. eine psychiatrische Begutachtung erfolgen sollte.

Die Notwendigkeit der Ermittlungen war für die Beklagte erkennbar.

Das Gericht setzt voraus, dass die Beklagte die zitierten Leitlinien kennt und bei ihren sozialmedizinischen Einschätzungen berücksichtigt bzw. zugrunde legt. Außerdem war der Hinweis der Gutachterin deutlich lesbar.

Bei seiner Ermessensentscheidung nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG berücksichtigt das Gericht die Schwere des Verstoßes gegen die Amtsermittlungspflicht und das weitere prozessuale Verhalten der Beklagten, entsprechend § 193 Abs. 1 SGG, wonach es Billigkeitsgesichtspunkten entsprechen kann, eine Kostenerstattungspflicht des Verwaltungsträgers zu verneinen, wenn dieser unverzüglich nach Kenntnis der Änderung der Sach- und Rechtslage dieser entspricht und anerkennt oder einen sachgerechten Vergleichsvorschlag macht.

Der deutliche Hinweis der Gutachterin und der Umstand, dass sich aus der Verwaltungsakte der Beklagten nicht ergibt, dass die Anregung der Gutachterin bedacht worden ist bzw. bei den weiteren Bearbeitungsschritten eine Rolle gespielt hätte, spricht für die Kostenauferlegung. Außerdem hat die Beklagte im gerichtlichen Verfahren keinen Anlass gesehen, auf das Gutachten mit einem Vergleichsangebot bzw. einem Anerkenntnis zu reagieren.

Die Entscheidung ergeht kostenfrei.
Rechtskraft
Aus
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