Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KR 15/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 189/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Für Dritte ist das Schieben eines Rollstuhls jedenfalls bei einem Gesamtgewicht von zu Schiebendem und
Rollstuhl von 160 kg nur unter Zuhilfenahme einer Brems-und Schiebehilfe zumutbar.
2. Zur Frage, auf wessen körperliche Leistungsfähigkeit abzustellen ist, wenn die zu schiebende Person über ein durchschnittliches Körpergewicht verfügt.
Rollstuhl von 160 kg nur unter Zuhilfenahme einer Brems-und Schiebehilfe zumutbar.
2. Zur Frage, auf wessen körperliche Leistungsfähigkeit abzustellen ist, wenn die zu schiebende Person über ein durchschnittliches Körpergewicht verfügt.
I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 6. September 2010 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit einer Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl.
Der am 1951 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet unter einem Zustand nach intracerebraler Blutung und einem Epilepsiesyndrom. Er lebt in einer vollstationären Pflegeeinrichtung und bezieht Leistungen nach der Pflegestufe II. Seine Ehefrau lebt in derselben Einrichtung, verfügt aber über eine eigene Wohnung. Die Beklagte versorgte den Kläger im Jahre 2007 mit einem Multifunktionsrollstuhl, dessen Eigengewicht 37,5 kg beträgt. Das Körpergewicht des Klägers liegt nach seinen Angaben derzeit bei 120 kg.
Am 08.07.2008 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung des Facharztes für Innere Medizin R vom 01.07.2008 eine Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl. Ausweislich des beigefügten Kostenvoranschlages der Firma Orthopädietechnik M & B GmbH sollten sich die Gesamtkosten für die beantragte Versorgung auf 3.512,29 EUR belaufen.
Mit Bescheid vom 08.07.2008 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für eine Brems- und Schiebehilfe mit der Begründung ab, der Kläger sei Bewohner einer vollstationären Pflegeeinrichtung. Zu deren Leistungen gehöre neben der Pflege auch das Bereitstellen von Hilfsmitteln, sofern diese für den üblichen Pflegebetrieb notwendig seien. Die Brems- und Schiebehilfe solle den Pflegepersonen das Schieben erleichtern. Im Pflegeheim seien die Pflegepersonen die Pfleger des Heimes. Somit falle die Schiebehilfe in die Ausstattungspflicht des Pflegeheimes.
Hiergegen legte die Betreuerin des Klägers am 05.08.2008 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 11.09.2008 begründete. Der Kläger werde regelmäßig mit seinem Rollstuhl ausgefahren. Ohne Brems- und Schiebehilfe sei das Ausfahren mit dem Rollstuhl durch das Pflegepersonal oder durch die Angehörigen sehr schwierig. Zu berücksichtigen seien insoweit das Körpergewicht des Klägers sowie das Gewicht des Rollstuhles, bei dem es sich um eine Sonderanfertigung handele.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, die begehrte Versorgung sei nach dem Hilfsmittelverzeichnis dann angezeigt, wenn normalerweise ein handbetriebener Rollstuhl ausreiche, die Restkräfte des Rollstuhlnutzers aber zu gering seien, sich selbstständig fortzubewegen und die Eigenkräfte der Begleitperson nicht ausreichten, um einen Rollstuhl zu schieben. Da der Kläger in einer vollstationären Pflegeeinrichtung lebe, sei Begleitperson im Sinne des Hilfsmittelverzeichnisses das Pflegepersonal der Pflegeeinrichtung und nicht der Angehörige. Es könne davon ausgegangen werden, dass es sich beim Pflegepersonal um Menschen handele, die körperlich in der Lage seien, die zu pflegenden Personen im Rollstuhl ohne Probleme zu schieben. Zur Erschließung seines körperlichen Freiraumes im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) stehe dem Kläger ein Rollstuhl zur Verfügung. Die Nutzung einer Brems- und Schiebehilfe gehöre nicht mehr zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, für die die gesetzliche Krankenversicherung leistungspflichtig sei. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die beantragte Brems- und Schiebehilfe, um den Radius seiner Fortbewegung über den Nahbereich hinaus erheblich zu erweitern.
Dagegen hat der Kläger am 09.01.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Chemnitz erhoben.
Er hat vorgetragen, aufgrund seines Eigengewichts und des Gewichts des von der Beklagten zur Verfügung gestellten Rollstuhles sei es kaum noch möglich, ihn – den Kläger – durch eine Person fortzubewegen. Er sei rollstuhlmobilisiert. Er werde regelmäßig einmal pro Woche von der Seniorenbetreuung H im Freien ausgefahren. Der Kläger hat eine undatierte Bescheinigung der "Ergotherapie E R " vorgelegt. Darin heißt es:
"In den vorangegangenen und laufenden Behandlungen wurde ein Waschtrainingsprogramm sowie Aufstehtraining an der Haltestange zum einfachen Transfer in den Rollstuhl angelernt. (Der Kläger) ist in der Lage mit wenig Hilfe diese umzusetzen.
Aus hausinternen Gründen sowie aus Zeitmangel des Pflegepersonals wird dies jedoch nicht ausreichend genutzt.
Eigenmotivation des Patienten und Bereitschaft zur Hilfe seitens der Ehefrau bzw. Familienangehöriger sind gegeben, so dass eine Verordnung der elektrischen Schiebehilfe für den Rollstuhl unbedingt nötig ist.
Der Patient möchte nach eigenen Angaben gern raus gefahren werden und frische Luft atmen um damit seine Lebensqualität zu verbessern, wofür auch hier die Notwendigkeit einer solchen Hilfe gegeben ist."
Außerdem hat er ein Schreiben vom 16.03.2010 von Frau R H - Senioren- und Hauswirtschaftsservice - vorgelegt. Dort wird unter anderem ausgeführt:
"Seit August 2008 fahre ich (den Kläger) wöchentlich im Rollstuhl an die frische Luft."
Die Beklagte hat vorgetragen, mit der aktuellen Rechtsprechung sei davon auszugehen, dass der Nahbereich der Häuslichkeit mindestens einen Radius von 500 m umfasse. Mit dem ihm zur Verfügung stehenden Multifunktionsrollstuhl sei es dem Kläger möglich, mithilfe einer dritten Person an die frische Luft zu kommen. Begleitpersonen im Sinne des Hilfsmittelverzeichnisses stellten im alltäglichen Leben des Klägers das Pflegepersonal der vollstationären Pflegeeinrichtung dar. Soweit dem Kläger daran gelegen sei, mit Angehörigen im Rahmen von Besuchen Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, unterfalle dies nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern der Eigenverantwortung des Klägers. Zudem sei angesichts eines durch die Hilfsmittelberaterin H am 24.02.2010 durchgeführten Hausbesuchs festgestellt worden, dass der Kläger überwiegend bettlägerig sei und nicht regelmäßig wöchentlich im Rollstuhl sitze.
Mit Gerichtsbescheid vom 06.09.2010 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.07.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2008 verpflichtet, den Kläger mit einer "Schiebe- und Bremshilfe V-Max einschließlich Rollstuhlhalterung (Standard), Kipp-Stützen und einem Räderpaar mit Trommelbremsen" zu versorgen. Der Kläger habe einen Anspruch auf die begehrte Versorgung, damit er im Rahmen regelmäßiger Spazierfahrten mit seinen Angehörigen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Heimgeländes am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Es sei für das Gericht nachvollziehbar und werde von der Beklagten nicht bestritten, dass ein Gesamtgewicht von etwa 150 kg durch die Ehefrau des Klägers und die Seniorenbetreuerin "so gut wie unmöglich zu schieben" sei. Der Kläger dürfe zur Verwirklichung seines Grundbedürfnisses auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes nicht auf das Pflegepersonal verwiesen werden, da der Zuständigkeitsbereich der Pflegeversicherung und damit des Pflegepersonals allein auf den Bereich des Pflegeheimes selbst begrenzt sei. Das BSG habe unter anderem in seinem Urteil vom 10.02.2000 (B 3 KR 26/99 R – juris) klargestellt, dass ein Versicherter sich nicht darauf verweisen lassen müsse, sich nur im Heimgelände aufzuhalten. Darüber hinaus handele es sich bei der begehrten Versorgung zum einen um ein individuell angepasstes Hilfsmittel, das seiner Natur nach nur für den Kläger selbst bestimmt und grundsätzlich nur für ihn anwendbar sei, und zum anderen um ein Hilfsmittel, das der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes diene, weshalb es nicht der Sphäre des Pflegeheimes zuzurechnen sei (Hinweis auf Sächsisches Landessozialgericht [LSG], Beschluss vom 10.07.2006 – L 1 B 267/05 KR ER – juris). Die Rollstuhlmobilisierung des Klägers werde durch die behandelnde Ergotherapeutin R ... und durch die Seniorenbetreuerin H bestätigt.
Gegen den ihr am 29.09.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 27.10.2010 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, der Kläger sei zum Ausgleich seiner Behinderung und zur Erfüllung allgemeiner Grundbedürfnisse mit einem Multifunktionsrollstuhl ausreichend versorgt. Die begehrte Zurüstung falle in die Leistungspflicht der Pflegeeinrichtung. Das Grundbedürfnis auf Erschließen eines körperlichen Freiraumes sei durch die Pflegeeinrichtung zu erfüllen.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 6. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, der Multifunktionsrollstuhl allein könne den erforderlichen Behinderungsausgleich nicht gewährleisten. Seine Ehefrau und weitere Personen – insbesondere sein Bruder und seine Schwägerin – bemühten sich regelmäßig darum, ihm seinen körperlichen Freiraum zu ermöglichen. Weder seiner Ehefrau noch seinem Bruder und seiner Schwägerin sei es möglich, ihn – den Kläger – ohne Brems- und Schiebehilfe fortzubewegen. Nach wie vor werde er durch Frau R H – Senioren- und Hauswirtschaftsservice – regelmäßig ausgeführt.
Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Der Gerichtsbescheid des SG ist zu Recht ergangen, die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.
Dem Kläger steht ein Anspruch auf Versorgung mit einer Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl zu.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dabei umfasst die Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt (§ 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V).
Versicherte, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen verloren haben, können hiernach zur Erhaltung ihrer Mobilität auch eine Brems- und Schiebehilfe als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, soweit ein Rollstuhl alleine für ihre Fortbewegung nicht ausreicht. Die Brems- und Schiebehilfe ist kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil sie von Gesunden nicht benutzt wird. Sie wird auch nicht von der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB V über den Ausschluss von Heil- und Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis erfasst. Die Versorgung mit einem Multifunktionsrollstuhl allein genügt beim Kläger nicht, denn für seine Fortbewegung außerhalb der Pflegeeinrichtung bedarf er in Anbetracht seines Körpergewichts (120 kg) und desjenigen seines Multifunktionsrollstuhls (37,5 kg) zusätzlich einer Brems- und Schiebehilfe; andernfalls ist es der schiebenden Person unzumutbar, den Kläger fortzubewegen.
Die Brems- und Schiebehilfe ist zum Behinderungsausgleich im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlich. Gegenstand des Behinderungsausgleichs im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind nach der Rechtsprechung des BSG zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Organfunktionen dienen (BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 17.01.1996 – 3 RK 16/95 – SozR 3-2500 § 33 Nr. 20; Urteil vom 17.01.1996 – 3 RK 38/94 – SozR 3-2500 § 33 Nr. 18). Eine Brems- und Schiebehilfe ersetzt nicht die beim Kläger ausgefallene Funktion des Gehens. Sie kompensiert diese ausgefallene Funktion nur teilweise, und zwar nur in Verbindung mit einer dritten Person; es handelt sich um einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Dies reicht zur Begründung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung allein nicht aus. Wird eine Organfunktion durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche, sondern nur noch für bestimmte Lebensbereiche weitergehend ausgeglichen, so kommt es nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen (BSG, Urteil vom 03.11.1999 – B 3 KR 3/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 34; Urteil vom 06.08.1998 – B 3 KR 3/97 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 29). Denn der Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst auch Hilfsmittel, welche die direkten und indirekten Folgen der Behinderung ausgleichen, wenn ihr Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 16.09.2004 – B 3 KR 19/03 R – BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7).
Zu derartigen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (vgl. BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 10.11.2005 – B 3 KR 31/04 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 10 Rn. 14; Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 46). Zum körperlichen Freiraum gehört – im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit – die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind, nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (BSG, Urteil vom 17.10.2010 – B 3 KR 13/09 – juris Rn. 18).
Dem Kläger ist es nur möglich, durch die Inanspruchnahme Dritter außerhalb der Pflegeeinrichtung - aber in deren Nahbereich - bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen". Für diese Dritten ist es in Anbetracht des Gesamtgewichts von fast 160 kg nur zumutbar, den Kläger mit seinem Multifunktionsrollstuhl unter Zuhilfenahme einer Brems- und Schiebehilfe fortzubewegen. Dies gilt im vorliegenden Fall aufgrund des fortzubewegenden Gesamtgewichts für jedwede Person und unabhängig von den konkreten tatsächlichen Verhältnissen im Nahbereich (vgl. insoweit BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 13/09 R – juris Rn. 24). Denn das Überwinden von Bordsteinkanten und Rampen ist in jedem Wohnumfeld unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die nur mit einer Brems- und Schiebehilfe beherrscht werden können.
Dessen ungeachtet weist der Senat darauf hin, dass er der Auffassung zuneigt, dass der Kläger sich außerhalb der Pflegeeinrichtung (Heimsphäre), aber innerhalb des Nahbereichs aussuchen kann, mit welcher Person er sein Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes verwirklichen will. Konsequenz dieser Auffassung wäre, dass in Fällen, in denen die Notwendigkeit der Versorgung mit einer Brems- und Schiebehilfe streitig ist und in denen die im Rollstuhl fortzubewegende Person über ein normales Körpergewicht verfügt, auf die körperliche Leistungsfähigkeit der schiebenden Person(en) abgestellt werden müsste. Insoweit wären dann jeweils Ermittlungen auf medizinischem Gebiet erforderlich, um die gesundheitliche Verfassung der schiebenden Person(en) beurteilen zu können.
Der Umstand, dass der Kläger ursprünglich nicht rollstuhlmobilisiert gewesen sein soll, ist inzwischen unbeachtlich geworden, weil es bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (siehe nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 54 Rn. 34). Inzwischen wird der Kläger jedoch einmal pro Woche durch die Seniorenbetreuung H mit dem Multifunktionsrollstuhl geschoben. Darüber hinaus stehen – nach Versorgung mit der Brems- und Schiebehilfe – seine Ehefrau, sein Bruder und sein Schwager regelmäßig zur Verfügung, um sein – des Klägers – Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes zu verwirklichen.
Die Anwendung des § 33 SGB V ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die begehrte Brems- und Schiebehilfe auch der Erleichterung der Pflege des Klägers dient. Die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bezieht sich nur auf die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln im häuslichen Bereich, nicht aber auf diejenige im hier maßgeblichen stationären Bereich (BSG, Urteil vom 10.02.2000 B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 213 f.) und schließt einen Anspruch auf Hilfsmittel nach § 33 SGB V nicht grundsätzlich aus.
Schließlich wird der Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Kläger in einem Pflegeheim befindet und dort vollstationär gepflegt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 214; Urteil vom 28.05.2003 – B 3 KR 30/02 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 4 Rn. 6). Denn der Kläger benötigt das Hilfsmittel auch regelmäßig außerhalb des Pflegeheimes und des Heimgeländes, nämlich dann, wenn er sich zusammen mit der Seniorenbetreuung H , seiner Ehefrau, seinem Bruder oder seiner Schwägerin einen gewissen körperlichen und geistigen Freiraum erschließt. Der Heimträger hat lediglich für die Versorgung mit üblichen Hilfsmitteln im Pflegeheim einschließlich der Heimsphäre einzustehen (vgl. BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – juris Rn. 21, und BSG, Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 67/01 R – juris Rn. 17). Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes dienen, sind von der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen, weil sie nicht dem Bereich der vollstationären Pflege zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 216). Vorliegend sind nicht nur Spazierfahrten an der frischen Luft auf dem Heimgelände betroffen, sondern regelmäßige Aktivitäten außerhalb des Heimes. Sie können nicht mehr der Sphäre des Heimes und seinem Verantwortungsbereich zugerechnet werden, auch wenn sie sich in dessen unmittelbarer Nähe abspielen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Klotzbücher Schanzenbach Dr. Wietek
II. Die Beklagte hat auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Berufungsverfahren zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit einer Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl.
Der am 1951 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet unter einem Zustand nach intracerebraler Blutung und einem Epilepsiesyndrom. Er lebt in einer vollstationären Pflegeeinrichtung und bezieht Leistungen nach der Pflegestufe II. Seine Ehefrau lebt in derselben Einrichtung, verfügt aber über eine eigene Wohnung. Die Beklagte versorgte den Kläger im Jahre 2007 mit einem Multifunktionsrollstuhl, dessen Eigengewicht 37,5 kg beträgt. Das Körpergewicht des Klägers liegt nach seinen Angaben derzeit bei 120 kg.
Am 08.07.2008 beantragte der Kläger bei der Beklagten unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung des Facharztes für Innere Medizin R vom 01.07.2008 eine Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl. Ausweislich des beigefügten Kostenvoranschlages der Firma Orthopädietechnik M & B GmbH sollten sich die Gesamtkosten für die beantragte Versorgung auf 3.512,29 EUR belaufen.
Mit Bescheid vom 08.07.2008 lehnte die Beklagte die Kostenübernahme für eine Brems- und Schiebehilfe mit der Begründung ab, der Kläger sei Bewohner einer vollstationären Pflegeeinrichtung. Zu deren Leistungen gehöre neben der Pflege auch das Bereitstellen von Hilfsmitteln, sofern diese für den üblichen Pflegebetrieb notwendig seien. Die Brems- und Schiebehilfe solle den Pflegepersonen das Schieben erleichtern. Im Pflegeheim seien die Pflegepersonen die Pfleger des Heimes. Somit falle die Schiebehilfe in die Ausstattungspflicht des Pflegeheimes.
Hiergegen legte die Betreuerin des Klägers am 05.08.2008 Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 11.09.2008 begründete. Der Kläger werde regelmäßig mit seinem Rollstuhl ausgefahren. Ohne Brems- und Schiebehilfe sei das Ausfahren mit dem Rollstuhl durch das Pflegepersonal oder durch die Angehörigen sehr schwierig. Zu berücksichtigen seien insoweit das Körpergewicht des Klägers sowie das Gewicht des Rollstuhles, bei dem es sich um eine Sonderanfertigung handele.
Mit Widerspruchsbescheid vom 11.12.2008 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte sie aus, die begehrte Versorgung sei nach dem Hilfsmittelverzeichnis dann angezeigt, wenn normalerweise ein handbetriebener Rollstuhl ausreiche, die Restkräfte des Rollstuhlnutzers aber zu gering seien, sich selbstständig fortzubewegen und die Eigenkräfte der Begleitperson nicht ausreichten, um einen Rollstuhl zu schieben. Da der Kläger in einer vollstationären Pflegeeinrichtung lebe, sei Begleitperson im Sinne des Hilfsmittelverzeichnisses das Pflegepersonal der Pflegeeinrichtung und nicht der Angehörige. Es könne davon ausgegangen werden, dass es sich beim Pflegepersonal um Menschen handele, die körperlich in der Lage seien, die zu pflegenden Personen im Rollstuhl ohne Probleme zu schieben. Zur Erschließung seines körperlichen Freiraumes im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) stehe dem Kläger ein Rollstuhl zur Verfügung. Die Nutzung einer Brems- und Schiebehilfe gehöre nicht mehr zur Befriedigung von Grundbedürfnissen, für die die gesetzliche Krankenversicherung leistungspflichtig sei. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die beantragte Brems- und Schiebehilfe, um den Radius seiner Fortbewegung über den Nahbereich hinaus erheblich zu erweitern.
Dagegen hat der Kläger am 09.01.2009 Klage beim Sozialgericht (SG) Chemnitz erhoben.
Er hat vorgetragen, aufgrund seines Eigengewichts und des Gewichts des von der Beklagten zur Verfügung gestellten Rollstuhles sei es kaum noch möglich, ihn – den Kläger – durch eine Person fortzubewegen. Er sei rollstuhlmobilisiert. Er werde regelmäßig einmal pro Woche von der Seniorenbetreuung H im Freien ausgefahren. Der Kläger hat eine undatierte Bescheinigung der "Ergotherapie E R " vorgelegt. Darin heißt es:
"In den vorangegangenen und laufenden Behandlungen wurde ein Waschtrainingsprogramm sowie Aufstehtraining an der Haltestange zum einfachen Transfer in den Rollstuhl angelernt. (Der Kläger) ist in der Lage mit wenig Hilfe diese umzusetzen.
Aus hausinternen Gründen sowie aus Zeitmangel des Pflegepersonals wird dies jedoch nicht ausreichend genutzt.
Eigenmotivation des Patienten und Bereitschaft zur Hilfe seitens der Ehefrau bzw. Familienangehöriger sind gegeben, so dass eine Verordnung der elektrischen Schiebehilfe für den Rollstuhl unbedingt nötig ist.
Der Patient möchte nach eigenen Angaben gern raus gefahren werden und frische Luft atmen um damit seine Lebensqualität zu verbessern, wofür auch hier die Notwendigkeit einer solchen Hilfe gegeben ist."
Außerdem hat er ein Schreiben vom 16.03.2010 von Frau R H - Senioren- und Hauswirtschaftsservice - vorgelegt. Dort wird unter anderem ausgeführt:
"Seit August 2008 fahre ich (den Kläger) wöchentlich im Rollstuhl an die frische Luft."
Die Beklagte hat vorgetragen, mit der aktuellen Rechtsprechung sei davon auszugehen, dass der Nahbereich der Häuslichkeit mindestens einen Radius von 500 m umfasse. Mit dem ihm zur Verfügung stehenden Multifunktionsrollstuhl sei es dem Kläger möglich, mithilfe einer dritten Person an die frische Luft zu kommen. Begleitpersonen im Sinne des Hilfsmittelverzeichnisses stellten im alltäglichen Leben des Klägers das Pflegepersonal der vollstationären Pflegeeinrichtung dar. Soweit dem Kläger daran gelegen sei, mit Angehörigen im Rahmen von Besuchen Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen, unterfalle dies nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern der Eigenverantwortung des Klägers. Zudem sei angesichts eines durch die Hilfsmittelberaterin H am 24.02.2010 durchgeführten Hausbesuchs festgestellt worden, dass der Kläger überwiegend bettlägerig sei und nicht regelmäßig wöchentlich im Rollstuhl sitze.
Mit Gerichtsbescheid vom 06.09.2010 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 08.07.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.12.2008 verpflichtet, den Kläger mit einer "Schiebe- und Bremshilfe V-Max einschließlich Rollstuhlhalterung (Standard), Kipp-Stützen und einem Räderpaar mit Trommelbremsen" zu versorgen. Der Kläger habe einen Anspruch auf die begehrte Versorgung, damit er im Rahmen regelmäßiger Spazierfahrten mit seinen Angehörigen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Heimgeländes am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne. Es sei für das Gericht nachvollziehbar und werde von der Beklagten nicht bestritten, dass ein Gesamtgewicht von etwa 150 kg durch die Ehefrau des Klägers und die Seniorenbetreuerin "so gut wie unmöglich zu schieben" sei. Der Kläger dürfe zur Verwirklichung seines Grundbedürfnisses auf Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraumes nicht auf das Pflegepersonal verwiesen werden, da der Zuständigkeitsbereich der Pflegeversicherung und damit des Pflegepersonals allein auf den Bereich des Pflegeheimes selbst begrenzt sei. Das BSG habe unter anderem in seinem Urteil vom 10.02.2000 (B 3 KR 26/99 R – juris) klargestellt, dass ein Versicherter sich nicht darauf verweisen lassen müsse, sich nur im Heimgelände aufzuhalten. Darüber hinaus handele es sich bei der begehrten Versorgung zum einen um ein individuell angepasstes Hilfsmittel, das seiner Natur nach nur für den Kläger selbst bestimmt und grundsätzlich nur für ihn anwendbar sei, und zum anderen um ein Hilfsmittel, das der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes diene, weshalb es nicht der Sphäre des Pflegeheimes zuzurechnen sei (Hinweis auf Sächsisches Landessozialgericht [LSG], Beschluss vom 10.07.2006 – L 1 B 267/05 KR ER – juris). Die Rollstuhlmobilisierung des Klägers werde durch die behandelnde Ergotherapeutin R ... und durch die Seniorenbetreuerin H bestätigt.
Gegen den ihr am 29.09.2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 27.10.2010 Berufung eingelegt.
Sie trägt vor, der Kläger sei zum Ausgleich seiner Behinderung und zur Erfüllung allgemeiner Grundbedürfnisse mit einem Multifunktionsrollstuhl ausreichend versorgt. Die begehrte Zurüstung falle in die Leistungspflicht der Pflegeeinrichtung. Das Grundbedürfnis auf Erschließen eines körperlichen Freiraumes sei durch die Pflegeeinrichtung zu erfüllen.
Die Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 6. September 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er trägt vor, der Multifunktionsrollstuhl allein könne den erforderlichen Behinderungsausgleich nicht gewährleisten. Seine Ehefrau und weitere Personen – insbesondere sein Bruder und seine Schwägerin – bemühten sich regelmäßig darum, ihm seinen körperlichen Freiraum zu ermöglichen. Weder seiner Ehefrau noch seinem Bruder und seiner Schwägerin sei es möglich, ihn – den Kläger – ohne Brems- und Schiebehilfe fortzubewegen. Nach wie vor werde er durch Frau R H – Senioren- und Hauswirtschaftsservice – regelmäßig ausgeführt.
Dem Senat haben die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge vorgelegen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet.
Der Gerichtsbescheid des SG ist zu Recht ergangen, die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig.
Dem Kläger steht ein Anspruch auf Versorgung mit einer Brems- und Schiebehilfe nebst Zubehör für seinen Multifunktionsrollstuhl zu.
Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Dabei umfasst die Krankenbehandlung gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln. Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln zum Behinderungsausgleich hängt bei stationärer Pflege nicht davon ab, in welchem Umfang eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft noch möglich ist; die Pflicht der stationären Pflegeeinrichtungen zur Vorhaltung von Hilfsmitteln und Pflegehilfsmitteln, die für den üblichen Pflegebetrieb jeweils notwendig sind, bleibt hiervon unberührt (§ 33 Abs. 1 Satz 2 SGB V).
Versicherte, die aufgrund einer Krankheit oder Behinderung die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen verloren haben, können hiernach zur Erhaltung ihrer Mobilität auch eine Brems- und Schiebehilfe als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen, soweit ein Rollstuhl alleine für ihre Fortbewegung nicht ausreicht. Die Brems- und Schiebehilfe ist kein allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens, weil sie von Gesunden nicht benutzt wird. Sie wird auch nicht von der Regelung des § 34 Abs. 4 SGB V über den Ausschluss von Heil- und Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis erfasst. Die Versorgung mit einem Multifunktionsrollstuhl allein genügt beim Kläger nicht, denn für seine Fortbewegung außerhalb der Pflegeeinrichtung bedarf er in Anbetracht seines Körpergewichts (120 kg) und desjenigen seines Multifunktionsrollstuhls (37,5 kg) zusätzlich einer Brems- und Schiebehilfe; andernfalls ist es der schiebenden Person unzumutbar, den Kläger fortzubewegen.
Die Brems- und Schiebehilfe ist zum Behinderungsausgleich im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erforderlich. Gegenstand des Behinderungsausgleichs im Sinne der dritten Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V sind nach der Rechtsprechung des BSG zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Organfunktionen dienen (BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 17.01.1996 – 3 RK 16/95 – SozR 3-2500 § 33 Nr. 20; Urteil vom 17.01.1996 – 3 RK 38/94 – SozR 3-2500 § 33 Nr. 18). Eine Brems- und Schiebehilfe ersetzt nicht die beim Kläger ausgefallene Funktion des Gehens. Sie kompensiert diese ausgefallene Funktion nur teilweise, und zwar nur in Verbindung mit einer dritten Person; es handelt sich um einen Fall des mittelbaren Behinderungsausgleichs. Dies reicht zur Begründung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung allein nicht aus. Wird eine Organfunktion durch ein Hilfsmittel nicht für alle Lebensbereiche, sondern nur noch für bestimmte Lebensbereiche weitergehend ausgeglichen, so kommt es nur dann zu einer weiteren Leistungsverpflichtung der Krankenversicherung, wenn es sich um Lebensbereiche handelt, die zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen (BSG, Urteil vom 03.11.1999 – B 3 KR 3/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 34; Urteil vom 06.08.1998 – B 3 KR 3/97 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 29). Denn der Behinderungsausgleich im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst auch Hilfsmittel, welche die direkten und indirekten Folgen der Behinderung ausgleichen, wenn ihr Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 16.09.2004 – B 3 KR 19/03 R – BSGE 93, 176 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 7).
Zu derartigen Grundbedürfnissen gehören die allgemeinen Verrichtungen des täglichen Lebens wie Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, elementare Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie die Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (vgl. BSG, Urteil vom 19.04.2007 – B 3 KR 9/06 R – juris Rn. 12; Urteil vom 10.11.2005 – B 3 KR 31/04 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 10 Rn. 14; Urteil vom 23.07.2002 – B 3 KR 3/02 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 46). Zum körperlichen Freiraum gehört – im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit – die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die – üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden – Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind, nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (BSG, Urteil vom 17.10.2010 – B 3 KR 13/09 – juris Rn. 18).
Dem Kläger ist es nur möglich, durch die Inanspruchnahme Dritter außerhalb der Pflegeeinrichtung - aber in deren Nahbereich - bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen". Für diese Dritten ist es in Anbetracht des Gesamtgewichts von fast 160 kg nur zumutbar, den Kläger mit seinem Multifunktionsrollstuhl unter Zuhilfenahme einer Brems- und Schiebehilfe fortzubewegen. Dies gilt im vorliegenden Fall aufgrund des fortzubewegenden Gesamtgewichts für jedwede Person und unabhängig von den konkreten tatsächlichen Verhältnissen im Nahbereich (vgl. insoweit BSG, Urteil vom 07.10.2010 – B 3 KR 13/09 R – juris Rn. 24). Denn das Überwinden von Bordsteinkanten und Rampen ist in jedem Wohnumfeld unumgänglich, und die Fortbewegung eines derartigen Gesamtgewichts führt zu Gefährdungssituationen, die nur mit einer Brems- und Schiebehilfe beherrscht werden können.
Dessen ungeachtet weist der Senat darauf hin, dass er der Auffassung zuneigt, dass der Kläger sich außerhalb der Pflegeeinrichtung (Heimsphäre), aber innerhalb des Nahbereichs aussuchen kann, mit welcher Person er sein Grundbedürfnis nach Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes verwirklichen will. Konsequenz dieser Auffassung wäre, dass in Fällen, in denen die Notwendigkeit der Versorgung mit einer Brems- und Schiebehilfe streitig ist und in denen die im Rollstuhl fortzubewegende Person über ein normales Körpergewicht verfügt, auf die körperliche Leistungsfähigkeit der schiebenden Person(en) abgestellt werden müsste. Insoweit wären dann jeweils Ermittlungen auf medizinischem Gebiet erforderlich, um die gesundheitliche Verfassung der schiebenden Person(en) beurteilen zu können.
Der Umstand, dass der Kläger ursprünglich nicht rollstuhlmobilisiert gewesen sein soll, ist inzwischen unbeachtlich geworden, weil es bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung ankommt (siehe nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 54 Rn. 34). Inzwischen wird der Kläger jedoch einmal pro Woche durch die Seniorenbetreuung H mit dem Multifunktionsrollstuhl geschoben. Darüber hinaus stehen – nach Versorgung mit der Brems- und Schiebehilfe – seine Ehefrau, sein Bruder und sein Schwager regelmäßig zur Verfügung, um sein – des Klägers – Grundbedürfnis auf Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraumes zu verwirklichen.
Die Anwendung des § 33 SGB V ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass die begehrte Brems- und Schiebehilfe auch der Erleichterung der Pflege des Klägers dient. Die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) bezieht sich nur auf die Versorgung mit Pflegehilfsmitteln im häuslichen Bereich, nicht aber auf diejenige im hier maßgeblichen stationären Bereich (BSG, Urteil vom 10.02.2000 B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 213 f.) und schließt einen Anspruch auf Hilfsmittel nach § 33 SGB V nicht grundsätzlich aus.
Schließlich wird der Versorgungsanspruch nach § 33 SGB V auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Kläger in einem Pflegeheim befindet und dort vollstationär gepflegt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 214; Urteil vom 28.05.2003 – B 3 KR 30/02 R – SozR 4-2500 § 33 Nr. 4 Rn. 6). Denn der Kläger benötigt das Hilfsmittel auch regelmäßig außerhalb des Pflegeheimes und des Heimgeländes, nämlich dann, wenn er sich zusammen mit der Seniorenbetreuung H , seiner Ehefrau, seinem Bruder oder seiner Schwägerin einen gewissen körperlichen und geistigen Freiraum erschließt. Der Heimträger hat lediglich für die Versorgung mit üblichen Hilfsmitteln im Pflegeheim einschließlich der Heimsphäre einzustehen (vgl. BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – juris Rn. 21, und BSG, Urteil vom 06.06.2002 – B 3 KR 67/01 R – juris Rn. 17). Hilfsmittel, die der Befriedigung eines allgemeinen Grundbedürfnisses außerhalb des Pflegeheimes dienen, sind von der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen, weil sie nicht dem Bereich der vollstationären Pflege zuzurechnen sind (BSG, Urteil vom 10.02.2000 – B 3 KR 26/99 R – SozR 3-2500 § 33 Nr. 37 S. 216). Vorliegend sind nicht nur Spazierfahrten an der frischen Luft auf dem Heimgelände betroffen, sondern regelmäßige Aktivitäten außerhalb des Heimes. Sie können nicht mehr der Sphäre des Heimes und seinem Verantwortungsbereich zugerechnet werden, auch wenn sie sich in dessen unmittelbarer Nähe abspielen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Klotzbücher Schanzenbach Dr. Wietek
Rechtskraft
Aus
Login
FSS
Saved