S 63 AS 2351/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
63
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 63 AS 2351/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 23. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2011 wird aufgehoben. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Im Streit steht die Absenkung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wegen wiederholter Pflichtverletzung in der Zeit vom 1. September 2011 bis zum 30. November 2011.

Die 1985 geborene Klägerin lebt gemeinsam mit Herrn M L und ihrem am ... 2005 geborenen Sohn in einem Haushalt. Unter Anrechnung von Einkommen gewährte der Beklagte der Klägerin zuletzt mit Änderungsbescheid vom 16. August 2011 für den 1. September 2011 bis zum 31. September 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 150,25 Euro (Regelleistung: 10,91 Euro, Kosten der Unterkunft und Heizung: 139,34 Euro) und für den Zeitraum vom 1. Oktober 2011 bis zum 30. November 2011 monatlich jeweils 152,26 Euro (Regelleistung: 12,92 Euro, Kosten der Unterkunft und Heizung: 139,34 Euro). Am 4. Mai 2011 bot der Beklagte der Klägerin eine Arbeitsgelegenheit gegen Mehraufwandsentschädigung als Fachkraft in der Betreuung von Senioren und Menschen mit geistiger Behinderung bei dem Träger "z GmbH" im Umfang von 30 Stunden wöchentlich an. Er forderte die Klägerin zugleich auf, sich umgehend mit dem Träger der Maßnahme in Verbindung zu setzen. Mit Schreiben vom 16. Mai 2011 teilte der Träger mit, die Klägerin habe sich nicht gemeldet bzw. nicht vorgestellt.

Nach vorheriger Anhörung (Schreiben vom 9. Juni 2011) stellte der Beklagte gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 23. August 2011 wegen wiederholter Pflichtverletzung (vorangegangene Pflichtverletzung am 29. Oktober 2010) eine Minderung des Arbeitslosengeldes II um monatlich 60 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs, höchstens jedoch in Höhe des ihr zustehenden Gesamtbetrags, für die Zeit vom 1. September 2011 bis 30. November 2011 fest. Den Betrag der Minderung gab der Beklagte mit 150,25 Euro monatlich an. Unter der Überschrift "Ergänzende Sachleistungen" heißt es in dem Bescheid auszugsweise:

"Mit Anhörungsschreiben vom 9. Juni 2011 wurden Sie darüber informiert, dass Ihnen ergänzende Sachleistungen (Gutscheine) und geldwerte Leistungen gewährt werden können.

Sie haben die Gewährung von Gutscheinen bisher nicht beantragt. Daher werden Ihnen zunächst keine ergänzenden Sachleistungen gewährt.

Ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen können Ihnen auf Antrag noch während des gesamten oben genannten Minderungszeitraums erbracht werden, wenn Sie darauf angewiesen sind. In diesem Fall wenden Sie sich bitte an das Jobcenter Pankow."

Den von der Bevollmächtigten der Klägerin eingelegten Widerspruch vom 14. September 2011 wies das beklagte Jobcenter mit Widerspruchsbescheid vom 12. Oktober 2011 als unbegründet zurück. Ein wichtiger Grund sei aus dem Vorbringen der Klägerin nicht erkennbar. Es sei nach Abwägung der individuellen Interessen mit den Interessen der Allgemeinheit, die die Leistungen aus Steuermitteln erbringt, für die Klägerin zumutbar gewesen, sich innerhalb von drei Werktagen auf den Vermittlungsvorschlag zu bewerben. Der Widerspruchsbescheid enthielt eine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung.

Mit der von ihrer Prozessbevollmächtigten zunächst zum Sozialgericht Frankfurt (Oder) erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie habe sich ordnungsgemäß um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht. Die Vermittlungsvorschläge des Beklagten seien nicht geeignet gewesen. Insbesondere seien die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, welche sie mehrfach dargelegt habe, nicht berücksichtigt worden. Darüber hinaus sei eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung (gemeint ist wohl Rechtsfolgenbelehrung) als Erfordernis für die Absenkung von Leistungen nicht erteilt worden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 23. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2011 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält die angefochtenen Bescheide trotz gerichtlicher Hinweise auf den im Haushalt der Klägerin lebenden Sohn und die fehlende Erbringung ergänzender Leistungen für rechtmäßig. Der Gesetzgeber habe mit der Einführung des Antragserfordernisses die Rechtsprechung korrigieren wollen, welche Absenkungen ohne ermessensfehlerfreie Entscheidungen über Sachleistungen kassiert habe, weswegen die unterlassene Gewährung von Sachleistungen nach neuer Rechtslage selbst dann nicht zu einer Rechtswidrigkeit des eigentlichen Absenkungsbescheides führe, wenn wider Erwarten kein Antrag notwendig sein sollte, da die Frage der Sachleistung nach dem Willen des Gesetzgebers von der Rechtmäßigkeit der Minderung abgekoppelt worden sei. Daneben seien ihm, dem Beklagten, keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Klägerin bekannt gewesen. Der Vermittlungsvorschlag sei grundsätzlich geeignet gewesen. Außerdem sei der Klägerin und ihrer Bedarfsgemeinschaft trotz Minderung des Arbeitslosengeldes II für den streitgegenständlichen Zeitraum ein Bedarf zuerkannt worden.

Nach Anhörung der Beteiligten hat sich das Sozialgericht Frankfurt (Oder) mit Beschluss vom 16. Dezember 2011 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin verwiesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsatz der Bevollmächtigten der Klägerin vom 25. Mai 2012, Schriftsatz des Beklagten vom 30. Mai 2012).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes nimmt die Kammer auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der die Klägerin betreffenden Leistungsakten Band II bis IV des Beklagten Bezug, die ihr bei ihrer Entscheidung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

1. Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung den Rechtsstreit beraten und entscheiden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

2. Die gemäß § 54 Abs. 1 SGG zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, weil sie keine Entscheidung über die Erbringung ergänzender Leistungen treffen. Zu einer solchen Entscheidung war der Beklagte jedoch verpflichtet, weil im Haushalt der Klägerin ein minderjähriges Kind lebt.

a) Da die vorgeworfene Pflichtverletzung an ein Verhalten der Klägerin zwischen dem 4. und 16. Mai 2011 und damit an einen Zeitraum nach dem 31. März 2011 anknüpft, sind nach § 77 Abs. 12 Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) die §§ 31-31b SGB II in der Fassung anzuwenden, die sie mit Wirkung vom 1. April 2011 durch das Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des SGB II und des SGB XII vom 24. März 2011 (BGBl. I, S. 453) erhalten haben.

b) Die angefochtenen Bescheide sind wegen Verletzung des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II rechtswidrig. Der Beklagte hat nämlich keine Entscheidung über die Erbringung von ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen getroffen, obwohl im Haushalt der Klägerin ein minderjähriges Kind lebt. Daher konnte es die Kammer sowohl dahingestellt sein lassen, ob der Beklagte unter Beachtung des Eskalationsmechanismus des § 31a Abs. 1 Sätze 2, 4 und 5 SGB II zu Recht eine Minderung des Arbeitslosengeldes II um 60 Prozent des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs verfügt hat, als auch, ob die Klägerin einen wichtigen Grund für ihre Weigerung, sich auf den Vermittlungsvorschlag zu bewerben, dargelegt und nachgewiesen hat (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II und § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II).

c) Nach § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II hat der Träger Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn Leistungsberechtigte mit minderjährigen Kindern in einem Haushalt leben. § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II lautet: "Bei einer Minderung des Arbeitslosengeldes II um mehr als 30 Prozent des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs kann der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen." Die Voraussetzungen des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II liegen vor. Der Beklagte hat gegenüber der Klägerin mit den angefochtenen Bescheiden den maßgebenden Regelbedarf um monatlich 60 Prozent gemindert. Im Haushalt der leistungsberechtigten Klägerin lebt auch ihr am 2005 geborener und damit minderjähriger (vgl. § 2 Bürgerliches Gesetzbuch) Sohn. Auf die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Haushaltsangehörigen kommt es nicht an (vgl. Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand der Einzelkommentierung: 10. Ergl. 1. Oktober 2011, II.10, Rdnr. 34). Der Anwendungsbereich der Norm ist entgegen einer im Schrifttum geäußerten Auffassung (Herold-Tews, in: Löns/dies., SGB II, 3. Aufl. 2011, § 31a Rdnr. 23) nicht erst dann eröffnet, wenn es sich um mehrere Kinder handelt, sondern es reicht bereits aus, dass ein einziges minderjähriges Kind im Haushalt lebt. Eine restriktive Auslegung lässt sich weder auf den Wortlaut (dazu aa) und die parlamentarischen Materialien stützen (dazu bb) noch mit dem Sinn und Zweck der Regelung in Einklang bringen (hierzu cc). Auch die Rechtsprechung wendet § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II schon bei einem einzigen Kind an (dazu dd).

aa) Schon aufgrund des Wortlauts sind von der Vorschrift einzelne Kinder umfasst. Bei der in § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II gewählten Formulierung im Plural, die keine weiteren Einschränkungen enthält, ist zugleich auch der Singular mit eingeschlossen.

bb) Das einschlägige parlamentarische Dokument spricht in der Begründung zu § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II an mehreren Stellen vom minderjährigen Kind im Singular (BT-Drucks. 17/4095, S. 34, Zu Vierfachbuchstabe bbbb). Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber nur bei mehreren Minderjährigen den Anwendungsbereich der Norm eröffnen wollte.

cc) Vor allem Sinn und Zweck der Norm gebieten ein weites Verständnis. Durch die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen soll vermieden werden, dass der von der Sanktion Betroffene die für den Lebensunterhalt des Kindes bestimmten Mittel zur Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts einsetzt und somit die Bedarfsdeckung für das Kind gefährdet (BT-Drucks. 17/4095, S. 34, Zu Vierfachbuchstabe bbbb). Der Gesetzgeber sieht das Existenzminimum von minderjährigen Kindern, die ohne ihr eigenes Zutun Gefahr laufen, von der Leistungskürzung eines Mitglieds ihrer Bedarfsgemeinschaft mitbetroffen zu werden, als besonders schützenswert an (vgl. auch BT-Drucks. 17/3404, S. 112, Zu Absatz 3). Bei einer Minderung der Leistungen um mehr als 30 Prozent gegenüber einem anderen Mitglied der Haushaltsgemeinschaft steht zu befürchten, dass bestimmte Gelder zweckentfremdet werden und letztendlich die Kinder der Leistungsberechtigten unter der Sanktion leiden (vgl. Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 31a Rdnr. 49). Die Gewährung ergänzender Leistungen entspricht dem Grundsatz familiengerechter Hilfe und trägt dem staatlichen Wächteramt aus Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) Rechnung (Berlit, info also 2011, 53, 58; Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand der Einzelkommentierung: 41. Erg.-Lfg. XI/11, § 31a Rdnr. 55). Mit diesem Schutzgedanken lässt es sich jedoch nicht vereinbaren, nicht mit weiteren minderjährigen Kindern im Haushalt lebende Minderjährige vom Anwendungsbereich der Norm auszuschließen. Eine solche Differenzierung wäre nach Art. 3 Abs. 1 GG gleichheitswidrig, weil sich ein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung nicht finden lässt (vgl. nur BVerfGE 1, 14, 52; 55, 72, 88; 85, 238, 244 f.). Ein einzelnes Kind ist in gleichem Maß der Gefahr einer unverschuldeten Unterdeckung seines Bedarfs ausgesetzt wie mehrere Kinder. Die Gefahr einer Unterdeckung des jeweiligen Bedarfs dürfte bei mehreren Kindern sogar eher abnehmen, weil sich der Zugriff auf die den Minderjährigen zur Verfügung stehenden Mittel auf mehrere Bedürftige verteilt und somit individuell geringer ausfallen kann. Ein einzelnes Kind würde dann sogar potentiell härter getroffen werden.

dd) Der 19. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen hält, ohne diese Frage weiter zu problematisieren, den Anwendungsbereich des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II auch bei einem einzelnen Kind für eröffnet (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 22. August 2011 – L 19 AS 1299/11 B ER, juris, Rdnr. 13; vom 20. Oktober 2011 – L 19 AS 1625/11 B ER, juris, Rdnr. 1 und vom 7. September 2012 – L 19 AS 1334/12 B, juris, Rdnr. 2).

d) Unter diesen Umständen war der Beklagte gem. § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II ohne Einräumung von Ermessen (hierzu aa) und ohne dass es eines weiteren Antrags bedurft hätte (dazu unten bb) verpflichtet, ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu erbringen.

aa) Mit der Einführung des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II hat der Gesetzgeber die bisherige Regelpflicht, bei Mitbetroffenheit von Kindern ergänzende Leistungen zu erbringen (§ 31 Abs. 3 Satz 7 SGB II a.F.: "soll"), als eigenständige, bindende Verpflichtung ausgestaltet. Die Entscheidung steht nicht mehr im (eingeschränkten) Ermessen des Grundsicherungsträgers. Dieser muss Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen. Für eine andere Interpretation ist angesichts der Formulierung im Imperativ und des bereits oben unter 2. c) cc) beschriebenen Gesetzeszwecks kein Raum (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20. Oktober 2011 – L 19 AS 1625/11 B ER, juris, Rdnr. 9). Dies entspricht herrschender Meinung in Literatur und Rechtsprechung (Berlit, in: Münder, SGB II, 4. Aufl. 2011, § 31a Rdnr. 50; ders., info also 2011, 53, 54; Herold-Tews, in: Löns/dies., SGB II, 3. Aufl. 2011, § 31a Rdnr. 23; Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 31a Rdnr. 49; Valgolio, in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand der Einzelkommentierung: 41. Erg.-Lfg. XI/11, § 31a Rdnr. 55; Coseriu/Holzhey, in: Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII und AsylbLG, Stand der Einzelkommentierung: 76. AL Januar 2012, § 31a SGB II Rdnr. 24; Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck’scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand: 1.9.2012, § 31a Rdnr. 15; Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand der Einzelkommentierung: 42. Ergänzungslieferung Juni 2011, § 31a SGB II Rdnr. 18; A. Loose, in: Hohm, GK-SGB II, Stand der Einzelkommentierung: Oktober 2011, § 31a Rdnr. 38; Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand der Einzelkommentierung: 10. Ergl. 1. Oktober 2011, II.10, Rdnr. 34; Geiger, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 9. Aufl. 2012, S. 696; Groth, in: ders./Luik/Siebel-Huffmann, Das neue Grundsicherungsrecht, Rdnr. 415; weniger deutlich Steck/Kossens, Hartz IV – Reform 2011, 3. Aufl. 2011, Rdnr. 503; Sauer, in: ders./Kossens, SGB II, § 31a Rdnr. 53; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 22. August 2011 – L 19 AS 1299/11 B ER, juris, Rdnr. 13; vom 20. Oktober 2011 – L 19 AS 1625/11 B ER, juris, Rdnr. 9 und vom 7. September 2012 – L 19 AS 1334/12 B, juris, Rdnr. 14; Bayerisches LSG, Beschluss vom 28. August 2012 – L 7 AS 527/12 B ER, juris, Rdnr. 26; vgl. auch SG Landshut, Beschluss vom 7. Mai 2012 – S 10 AS 259/12 ER, juris, Rdnr. 36). Auch die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit gehen hiervon aus (Fachliche Hinweise SGB II, Sanktionen bei Pflichtverletzungen, S. 13, 31.53). Die vereinzelt vertretene Auffassung, es sei weiterhin Ermessen auszuüben (Zimmermann, NJ 2012, 139, 144), überzeugt nicht. Sie spricht trotz Nennung des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II weiterhin von "Soll-Leistungen" und knüpft damit ersichtlich an die alte Rechtslage (§ 31 Abs. 3 Satz 7 SGB II a.F.) an. Die Verpflichtung des Grundsicherungsträgers besteht zudem unabhängig davon, ob der Bedarf minderjähriger Kinder auf andere Weise gedeckt werden kann (Herold-Tews, in: Löns/dies., SGB II, 3. Aufl. 2011, § 31a Rdnr. 23). Daher spielt es keinerlei Rolle, dass der Klägerin und den weiteren Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft im streitgegenständlichen Zeitraum trotz der Minderung vom Beklagten in gewissem Umfang Leistungen gewährt worden sind.

bb) Ein Antrag der Klägerin, gerichtet auf die Erbringung ergänzender Sachleistungen oder geldwerter Leistungen, war nicht erforderlich. Die Verweisung in § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II bezieht sich nach dem Wortlaut und nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift lediglich auf die in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II genannten ergänzenden Leistungen (so auch Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 31a Rdnr. 49; Coseriu/Holzhey, in: Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII und AsylbLG, Stand der Einzelkommentierung: 76. AL Januar 2012, § 31a SGB II Rdnr. 24; Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand der Einzelkommentierung: 42. Ergänzungslieferung Juni 2011, § 31a SGB II Rdnr. 18; Geiger, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 9. Aufl. 2012, S. 696; Mrozynski, Grundsicherung und Sozialhilfe, Stand der Einzelkommentierung: 10. Ergl. 1. Oktober 2011, II.10, Rdnr. 34; Herold-Tews, in: Löns/dies., SGB II, 3. Aufl. 2011, § 31a Rdnr. 23; a.A. A. Loose, in: Hohm, GK-SGB II, Stand der Einzelkommentierung: Oktober 2011, § 31a Rdnr. 38; Zimmermann, NJ 2012, 139, 144, der jedoch nicht von der aktuellen Rechtslage ausgeht). Dies entspricht auch den Handlungsempfehlungen der Bundesagentur zu § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II (Fachliche Hinweise SGB II, Sanktionen bei Pflichtverletzungen, S. 13, 31.53). Die Statuierung eines Antragserfordernisses würde dem mit der Regelung verfolgten Ziel, minderjährige Kinder vor einem Zugriff auf die ihnen zur Verfügung stehenden Leistungen zu schützen, zuwiderlaufen. Ihr Schutz und die Deckung ihrer Bedarfe hingen vom Wohlwollen des sanktionierten Haushaltsangehörigen ab. Mit dem verfassungsrechtlich verankerten staatlichen Wächteramt lässt sich dies nicht vereinbaren.

e) Somit war der Beklagte zwingend verpflichtet, ergänzende Leistungen zu erbringen. Die Kammer folgt auch der in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung, wonach zeitgleich mit der Sanktion über die Erbringung ergänzender Leistungen zu entscheiden ist. Nach der Einschätzung des Gesetzgebers steht der Bedarf bereits dann fest, wenn minderjährige Kinder dem Haushalt angehören. Mit der Regelung soll sichergestellt werden, dass das den Kindern zustehende Geld für deren Lebensunterhalt verwendet wird. Eine zeitlich versetzte Entscheidung würde die Gefahr erhöhen, dass minderjährige Kinder unter den Folgen einer Leistungskürzung infolge einer Pflichtverletzung leiden, ohne diese verschuldet zu haben (so zutreffend Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 31a Rdnr. 49; vgl. auch Coseriu/Holzhey, in: Linhart/Adolph, SGB II, SGB XII und AsylbLG, Stand der Einzelkommentierung: 76. AL Januar 2012, § 31a SGB II Rdnr. 24; Geiger, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II, 9. Aufl. 2012, S. 696; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. August 2011 – L 19 AS 1299/11 B ER, juris, Rdnr. 13; in diese Richtung auch Lauterbach, in: Gagel, SGB II/SGB III, Stand der Einzelkommentierung: 42. Ergänzungslieferung Juni 2011, § 31a SGB II Rdnr. 18).

f) Im vorliegenden Fall hat es der Beklagte versäumt, in den angefochtenen Bescheiden bzw. zeitgleich in einem gesonderten Bescheid eine Entscheidung über ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen zu treffen. Entgegen der Auffassung des Beklagten stehen die Frage der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über die Minderung und die Frage der Entscheidung über ergänzende Leistungen im Falle des § 31a Abs. 3 Satz 2 SGB II nicht isoliert nebeneinander, sondern sie sind nach der gesetzlichen Systematik und dem Sinn und Zweck der Regelung konditional aufeinander bezogen. Für eine getrennte Betrachtung findet sich kein Anhaltspunkt im Gesetz. Die Erbringung ergänzender Leistungen versteht sich als eine Kompensation zur Minderungsentscheidung. Mit dieser Entscheidung soll das physische Existenzminimum des minderjährigen Kindes effektiv gesichert werden. Als Teil einer einheitlichen Entscheidung ist die Entscheidung über ergänzende Leistungen somit Bedingung für eine insgesamt rechtmäßige Sanktionsentscheidung. Daher waren die angefochtenen Entscheidungen in vollem Umfang rechtswidrig und aufzuheben (Sonnhoff, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 31a Rdnr. 49; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. September 2012 – L 19 AS 1334/12 B, juris, Rdnr. 19; vgl. auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Dezember 2008 – L 10 B 2154/08 AS ER, juris, Rdnr. 10 ff.).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens. Ungeachtet ihres Entstehens waren Mehrkosten, die aufgrund der Verweisung entstanden sind, nicht der Klägerin aufzuerlegen, weil § 17b Abs. 2 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz gem. § 98 Satz 1 SGG in der Sozialgerichtsbarkeit keine Anwendung findet.

4. Die Berufung bedurfte der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro nicht übersteigt, § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Die Kammer hat die Berufung gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Streitsache vom LSG Berlin-Brandenburg soweit ersichtlich bislang noch nicht geklärte Rechtsfragen aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 144 Rdnr. 28).
Rechtskraft
Aus
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