L 9 KR 469/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 7 KR 340/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 469/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Auslegung beider Alternativen des § 5 Abs 5a SGB V.
Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten gewährt.

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 05. November 2012 geändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheides vom 04. Juli 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2012 vorläufig Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller 9/10 seiner außergerichtlichen Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 05. November 2012, mit dem das Sozialgericht den Antrag des Antragstellers abgelehnt hat, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu gewähren und ihm unverzüglich eine Krankenversicherungskarte auszuhändigen, hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Insoweit ist sie gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet, weil der Antragsteller für diesen Teil seines Begehrens einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht hat (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

A. Es spricht alles dafür, dass der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) durch den Bezug von Arbeitslosengeld II (Alg II) ab dem 01. März 2012 versicherungspflichtig in der GKV geworden ist. Es ist nicht ersichtlich, dass die Begründung der Versicherungspflicht des Antragstellers nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V gemäß § 5 Abs. 5a SGB V ausgeschlossen ist.

1.) Gemäß § 5 Abs. 5a SGB V ist nach § 5 Absatz 1 Nr. 2a SGB V nicht versicherungspflichtig, wer unmittelbar vor dem Bezug von Alg II privat krankenversichert war oder weder gesetzlich noch privat krankenversichert war und zu den in § 5 Abs. 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V genannten Personen gehört oder bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätte. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

a) Der Ausschluss der ersten Alternative des Abs. 5a greift entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin schon deswegen nicht ein, weil der Antragsteller nicht unmittelbar vor dem Bezug von Alg II ab 01. März 2012 privat krankenversichert war. Seine private Krankenversicherung bestand lediglich bis Dezember 2007; danach verfügte er über keinen Krankenversicherungsschutz. Für die Erfüllung der ersten Alternative kommt es jedoch darauf an, dass der Hilfebedürftige unmittelbar, d.h. am Tag vor dem Bezug von Alg II, privat krankenversichert war (ständige Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg, grundlegend Beschlüsse des 9. Senats vom 06. Mai 2010, L 9 KR 102/10 B ER sowie vom 21. Mai 2010, L 9 KR 33/10 B ER, fortgeführt vom 1. Senat durch Beschluss vom 23. Dezember 2010, L 1 KR 368/10 B ER sowie durch das Urteil vom 11. März 2011, L 1 KR 326/10, anhängig beim BSG, B 12 KR 11/11 R, alle zitiert nach juris). Für die hier vertretene Auslegung könnte neben dem Wortlaut der Ausschlussnorm die regelmäßige Anknüpfung des Rechts zur freiwilligen Versicherung nach § 9 Abs. 1 SGB V an eine unmittelbar oder zeitnah zuvor endende Pflicht- oder Familienversicherung in der GKV, sofern man hierin ein sowohl der freiwilligen Versicherung wie auch der Auffangpflichtversicherung gemeinsames Strukturprinzip sehen wollte; außerdem dürfte auch der von § 5 Abs. 1 Nr. 13 lit. a SGB V abweichende Wortlaut des § 5 Abs. 5a SGB V für die hier vertretene Auslegung sprechen, der nicht darauf abstellt, wie der Antragsteller " zuletzt", sondern "unmittelbar" vor dem Bezug von Alg II krankenversichert war (vgl. hierzu BSG, 12. Senat, Urteil vom 12. Januar 2011, B 12 KR 11/09 R, zitiert nach juris).

Selbst wenn aber aus der Formulierung "unmittelbar" nicht der Schluss zu ziehen sein sollte, dass der Hilfebedürftige am Tage vor dem Bezug von Alg II privat krankenversichert gewesen sein musste, sondern auch noch ein (geringfügig) längerer Zeitraum zwischen privater Krankenversicherung und Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) die Zuständigkeit der privaten Krankenversicherung begründen könnte, zerstört jedenfalls ein Zeitraum von mehr als vier Jahren zwischen dem Ende der privaten Versicherung und dem Bezug von Alg II wie im vorliegenden Fall offensichtlich den Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen privater Krankenversicherung und Leistungsbezug nach dem SGB II.

b) Auch die Voraussetzungen der zweiten Alternative des Ausschlusstatbestandes liegen nicht vor. Zwar war der Antragsteller unmittelbar vor dem Bezug von Alg II weder privat noch gesetzlich krankenversichert. Er gehörte jedoch in dem maßgeblichen Zeitpunkt des Beginns des Alg II-Bezuges weder zu den in § 5 Abs. 5 SGB V noch zu den in § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V genannten versicherungsfreien Personen. Eine hauptberuflich selbständige Erwerbstätigkeit bestand nach Aktenklage zu keinem Zeitpunkt. Sein Beamtenverhältnis zur Bundesrepublik Deutschland endete zum 31. Dezember 2011, so dass auch eine Versicherungsfreiheit nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V zum Zeitpunkt des Beginns des Bezuges von Alg II nicht gegeben war.

Auf diesen Zeitpunkt ist nach dem Wortlaut der Vorschrift abzustellen. Denn anders als zur Abgrenzung der Zugehörigkeit des Antragstellers zur privaten Krankenversicherung (PKV) oder zur GKV stellt der Gesetzgeber zur Klärung der Frage, ob der Antragsteller zu den versicherungsfreien Personen nach § 5 Abs. 5 oder § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V gehört, nicht auf einen Zeitpunkt ab, der vor dem Beginn des Bezuges von Alg II liegt. Dies ergibt sich schon aus der Wahl der Zeitformen der in § 5 Abs. 5a SGB V verwendeten Prädikate. Während es nämlich zur Klärung der 1. Alternative der Ausschlussnorm darauf ankommt, ob der Antragsteller unmittelbar vor dem Bezug von Alg II privat krankenversichert war (Imperfekt), ist für die Frage des Ausschlusses nach § 5 Abs. 5 oder § 6 Abs. 1 oder 2 SGB V maßgeblich, ob der Antragsteller zu dem durch diese Vorschriften bestimmten Kreis der versicherungsfreien Personen gehört (Präsens). Der Wechsel der Zeitformen in der 2. Alternative der Ausschlussnorm würde keinen Sinn geben, wenn es wie für die 1. Alternative auf einen Zeitraum vor Beginn des Bezuges von Alg II ankäme; die Verwendung des Präsens für das Prädikat lässt also darauf schließen, dass es abweichend davon auf den Zeitpunkt des Beginns der Versicherungspflicht durch den Bezug von Alg II ankommt. Dies war hier der 01. März 2012; zu diesem Zeitpunkt war der Antragsteller schon nicht mehr Beamter der Bundesrepublik Deutschland.

c) Die Eindeutigkeit des Gesetzeswortlauts spricht gegen eine teleologische Auslegung nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 23. August 2010, L 16 KR 329/10 B ER sowie vom 30. April 2012, L 16 KR 134/12 B ER). Außerdem lässt sich dem SGB V kein Entfallen einer Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V in der GKV entnehmen, weil der Leistungsbezieher nach dem SGB II es in der Vergangenheit rechtswidrig versäumt hatte, eine private Krankenversicherung abzuschließen; das Gesetz definiert auch keinen Versichertenkreis privat Krankenversicherter, der trotz des Bezuges von Alg II nicht Mitglied der GKV werden könne, wie das LSG Nordrhein-Westfalen in den oben zitierten Beschlüssen meint. Vielmehr bestimmt das SGB V in § 5 Abs. 1 Nr. 2a für Leistungsbezieher von Alg II den Grundsatz der Versicherungspflicht in der GKV und in den (eng auszulegenden) Ausnahmevorschriften des Absatzes 5a das Entfallen der Versicherungspflicht.

d) Die Anknüpfung an die Zeiträume unmittelbar vor dem bzw. zum Beginn des Bezuges von Alg II für die Ausschlusstatbestände in § 5 Abs. 5a SGB V soll (privaten wie) gesetzlichen Krankenkassen in einem Bereich der Massenverwaltung im Interesse der betroffenen Leistungsbezieher nach dem SGB II eine schnelle Entscheidung über die Versicherungspflicht in der GKV oder der PKV ermöglichen. Ein Abstellen auf lange zurückliegende Zeiträume würde u.U. schwierige und zeitraubende Ermittlungen erfordern, in denen die betroffenen Alg II-Bezieher ohne Versicherungsschutz wären. Dies ist auch nach dem Willen des SGB V, jedem Bürger einen (möglichst lückenlosen) Schutz vor den Risiken der Krankheit zur Verfügung zu stellen, zu vermeiden; die fiskalischen Interessen der PKV und der GKV sind demgegenüber nachrangig.

2.) Die Dringlichkeit der vorläufigen Gewährung von Leistungen der GKV und damit einen Anordnungsgrund hat der Antragsteller durch seinen Vortrag zu seinem aktuellen Gesundheitszustand (Schwindel, Schmerzen im Becken, psychische Labilität, gebrochene Rippe nach Fahrradunfall) hinreichend glaubhaft gemacht; ärztlicher Atteste bedarf es ausnahmsweise im Hinblick auf das aktuelle Fehlen jeglichen Krankenversicherungsschutzes bei einer schlüssigen Behauptung nicht unerheblicher Schmerzen hier nicht. Denn der Antragsteller ist schon zur Feststellung der Notwendigkeit medizinischer Leistungen auf die Gewährung der hier streitgegenständlichen Leistungen angewiesen.

B. Ein Anspruch auf Ausstellung einer Krankenversicherungskarte besteht im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nicht; die mit der Aushändigung dieser Urkunde verbundene Möglichkeit, grundsätzlich zeitlich unbeschränkt Leistungen zu Lasten der Antragsgegnerin zu beziehen, würde die Hauptsache unnötig vorwegnehmen und ist für eine Sicherstellung vorläufiger Leistungen nicht erforderlich. Die Antragstellerin kann die vorläufige Gewährung von Leistungen auch ohne Krankenversicherungskarte in der Form sicherstellen, wie es ihrer Praxis bei säumigen Beitragszahlern nach § 16 Abs. 3a SGB V i.V.m. § 16 Künstlersozialversicherungsgesetzes (KSVG) entspricht.

C. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG, die über die Gewährung von Prozesskostenhilfe aus § 73a SGG i. V. m. §§ 114 ff Zivilprozessordnung.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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