L 15 SB 68/12

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 2 SB 1199/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 SB 68/12
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Eine Zurückweisung eines Antrags gemäß § 109 SGG als verspätet, obwohl er innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist gestellt worden ist, stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.
2. Die verfahrensfehlerhafte Zurückweisung eines Antrags gemäß § 109 SGG kann das Berufungsgericht zur Zurückverweisung gem. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG berechtigen, da die Einholung des Gutachtens gem. § 109 SGG eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme darstellt.
3. Im Rahmen der Ermessensausübung, ob der Rechtsstreit zurückzuverweisen ist, ist maßgeblich zu berücksichtigen, wenn einer oder beide Beteiligte selbst die Zurückverweisung beantragen. Denn damit wird deutlich, dass das Interesse an einer möglichst schnellen rechtskräftigen Sachentscheidung hinter das Interesse am Erhalt der gesetzlich garantierten zwei Tatsacheninstanzen zurücktritt.
4. Ermessensfehlerhaft wäre eine Zurückverweisung dann, wenn von einer zwischenzeitlich eingetretenen Entbehrlichkeit des ursprünglich beantragten, aber verfahrensfehlerhaft im Verfahren der ersten Instanz nicht eingeholten Gutachtens gem. § 109 SGG auszugehen wäre.
I. Das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. April 2012 wird aufgehoben.

II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht München zurückverwiesen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Der 1932 geborene Kläger begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG.

Mit Bescheid vom 23.02.2000 war ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 und das Merkzeichen RF festgestellt worden.

Im Juli 2011 beantragte der Kläger die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG.

Nach Auswertung der vorgelegten ärztlichen Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst stellte der Beklagte mit Bescheid vom 12.09.2011 einen GdB von 80 sowie weiterhin die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen RF fest. Dem lagen folgende Gesundheitsstörungen zu Grunde:
1. Sehminderung beidseits, eingepflanzte Kunstlinse rechts - Einzel-GdB 60
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschäden, degenerative Veränderungen, Polyneuropathie - Einzel-GdB 30
3. Funktionsbehinderung des Hüftgelenks rechts - Einzel-GdB 20.
Das Merkzeichen aG stehe dem Kläger nicht zu, da er nach Art und Ausmaß der Behinderung die geforderten gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfülle.

Soweit die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG abgelehnt worden war, erhob der Kläger am 16.09.2011 Widerspruch. Angesichts der gesundheitlichen Verfassung der Beine und Füße sei die Erteilung des Merkzeichens angemessen und notwendig.

Nach Auswertung weiterer ärztlicher Unterlagen durch den versorgungsärztlichen Dienst half der Beklagte dem Widerspruch des Klägers insofern ab, als ein GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und RF mit Teilabhilfebescheid vom 19.10.2011 festgestellt wurden. Im Übrigen wurde der Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 09.11.2011 zurückgewiesen. Die Feststellung des Merkzeichens aG sei nicht möglich, da die gesundheitlichen Voraussetzungen dafür nicht vorlägen.

Am 16.11.2011 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München erhoben. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien - so der Kläger in seiner Klagebegründung vom 16.01.2012 - gegeben, da er sich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen könne.

Aus den eingeholten Befundberichten ergibt sich, dass beim Kläger nicht nur orthopädische Beschwerden vorhanden sind, sondern auch Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet (massive Einschränkung der Lungenfunktion nach Lungenteilresektion links, Atemfunktionsstörung, Bluthochdruck, venöse Insuffizienz).

Im Auftrag des Gerichts hat der Orthopäde Dr. K. am 02.03.2012 ein Gutachten erstellt. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger sicherlich zahlreiche Behinderungsleiden aufweise, die jedoch ausreichend und vollständig im angefochtenen Bescheid vom 19.10.2011 festgehalten und bewertet worden seien. Keinesfalls ergebe sich auch in der Zusammenschau der verschiedenen Fachgebiete eine Beurteilung, die das Merkzeichen aG rechtfertige, da dafür doch sehr restriktive Voraussetzungen erfüllt werden müssten. Aus seiner Sicht sei die Einholung von Gutachten auf anderen Fachgebieten nicht erforderlich.

Mit gerichtlichem Schreiben vom 09.03.2012 ist dem Kläger das Gutachten "zur Kenntnis und Stellungnahme binnen vier Wochen" übersandt worden. Es ist angefragt worden, ob die Klage zurückgenommen werde; weiter ist mitgeteilt worden, dass derzeit ein weiteres Gutachten von Amts wegen nicht eingeholt werde.

Mit Schreiben vom 05.04.2012, beim Sozialgericht eingegangen am selben Tag, hat der Kläger seine Ansicht mitgeteilt, dass noch weitere Gutachten (internistisch und kardiologisch) einzuholen seien. Gleichzeitig hat er beantragt, gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) den Arzt Dr. K. M., L., als Beweis dafür zu hören, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG gegeben seien.

Gleichwohl hat am 26.04.2012 die mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht München stattgefunden. Der Kläger ist wegen Erkrankung nicht erschienen.

Mit Urteil vom 26.04.2012 ist die Klage abgewiesen worden. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG lägen nicht vor. Der Beweisantrag des Klägers vom 05.04.2012, gemäß § 109 SGG den Arzt Dr. M. anzuhören, sei verspätet. Zum einen habe das Gericht bereits am 04.04.2012 zur mündlichen Verhandlung geladen, zum anderen sei die Frist zur Stellung des Antrags nach § 109 SGG von zwei Wochen bereits abgelaufen. Mit Wirkung vom 03.12.2011 sei durch das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 der Wille des Gesetzgebers manifest geworden, auch die sozialgerichtlichen Verfahren nochmal entscheidend zu beschleunigen. Es sei deshalb sachgerecht, dass sich dies auf die Frist nach § 109 SGG substanziell auswirke. Das Gericht gehe davon aus, dass für die wirksame Stellung eines Antrags gemäß § 109 SGG 14 Tage ausreichend seien. Das Gutachten des Dr. K. sei dem Kläger durch das Gericht am 09.03.2012 zugestellt worden; der Antrag vom 05.04.2012 sei am 05.04.2012 eingegangen und damit verspätet.

Dagegen hat der Kläger am 30.04.2012 Berufung eingelegt.

Mit Schreiben vom 23.05.2012 sind die Beteiligten zur Absicht des Gerichts gehört worden, den Rechtsstreit gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 25.05.2012 beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.04.2012 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Erstgericht zurückzuverweisen.

Am 19.09.2012 hat sich der Kläger einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Mit Schreiben vom 21.09.2012 hat der Bevollmächtigte des Klägers seine Ansicht mitgeteilt, dass nunmehr eine wesentliche Verschlechterung mit der Folge eingetreten sei, dass eine außergewöhnliche Behinderung beim Gehen vorliege. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 26.09.2012 ist vom Senat ausführlich erläutert worden, dass ein Oberschenkelhalsbruch nicht automatisch das Merkzeichen aG nach sich ziehe und der Rechtsstreit auch in Ansehung der neuen Verletzung weiterhin entscheidungsreif im Sinne der Zurückverweisung sei. Anschließend ist mit Blick auf die Nichtanwesenheit des Bevollmächtigten des Klägers vertagt worden.

In der mündlichen Verhandlung vom 14.11.2012 hat der Vertreter des Beklagten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.04.2012 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückzuverweisen.

Der Senat hat die Akten des Beklagten und des Sozialgerichts München beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte und der beigezogenen Akten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Der Senat hat in Abwesenheit des Klägers verhandeln und entscheiden können, da dieser über den Termin zur mündlichen Verhandlung informiert und dabei auch auf die Folgen seines Ausbleibens hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2, § 153 Abs. 1 SGG).

Die zulässige Berufung des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Verfahren vor dem Sozialgericht leidet an einem wesentlichen Mangel gemäß § 159
Abs. 1 Nr. 2 SGG, der eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht.

Das Sozialgericht hat es verfahrensfehlerhaft abgelehnt, das gemäß § 109 SGG beantragte Gutachten einzuholen. Dies rechtfertigt es, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen (so z.B. auch Landessozialgericht - LSG - Baden-Württemberg, Urteil vom 28.02.2012, Az.: L 9 R 4943/11; Hessisches LSG, Urteil vom 04.05.2011, Az.: L 6 AL 86/10; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 30.04.2009, Az.: L 2 KN 253/08, und vom 27.11.2008, Az.: L 2 KN 165/08).

1. Verfahrensmangel

Vorliegend hat das Sozialgericht verfahrensfehlerhaft den Antrag auf Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 Abs. 1 SGG abgelehnt.

Ein erstinstanzliches Verfahren leidet dann an einem Mangel, wenn das Sozialgericht auf dem Weg zu einer abschließenden Entscheidung eine das Klageverfahren regelnde Verfahrensvorschrift verletzt hat.

Gemäß § 109 Abs. 1 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren auf Antrag des Behinderten ein bestimmter Arzt gutachtlich zu hören. Die Anhörung kann von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Abgelehnt werden kann die Anhörung nur unter den Voraussetzungen des § 109
Abs. 2 SGG. Eine Ablehnung ist möglich, wenn der Antrag entweder in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht worden ist und sich bei einer Zulassung des Beweisantrags die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde.

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Antrags gemäß § 109 SGG sind vorliegend nicht gegeben.

Mit Schreiben vom 09.03.2012 hat das Sozialgericht dem Kläger das für ihn im Ergebnis negative Gutachten vom 02.03.2012 "zur Kenntnis und Stellungnahme binnen vier Wochen" übersandt. Gleichzeitig ist der Hinweis erfolgt, dass die Ermittlungen vom Amts wegen abgeschlossen seien. Dem Kläger als Rechtskundigem musste daher bewusst sein, dass ein Antrag gemäß § 109 SGG nur innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist zulässig ist.

Dahingestellt bleiben kann vorliegend, wie lange diese Frist mindestens sein muss, um eine darauf gestützte Ablehnung eines Antrags gemäß § 109 SGG als verspätet begründen zu können. Denn der Kläger hat jedenfalls die vom Gericht gesetzte Frist eingehalten.

Nicht eindeutig ist, wie das gerichtliche Schreiben vom 09.03.2012 (Freitag) zu verstehen ist, sofern darin eine 4-Wochen-Frist gesetzt wird. Es spricht Vieles dafür, dass gemäß § 64 Abs. 1 SGG die Frist erst mit dem Tag nach der Bekanntgabe und nicht schon mit dem Datum des gerichtlichen Schreibens (09.03.2012) zu laufen begonnen hat. Letztlich kann eine Klärung aber dahingestellt bleiben, da die Frist auch dann eingehalten wäre, wenn von einem Fristbeginn schon am 09.03.2012 ausgegangen würde. Denn dann wäre die Frist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG an dem dem 09.03.2012 entsprechenden Wochentag vier Wochen später, dem 06.04.2012 (Freitag) zu Ende gegangen. Da es sich bei diesem Freitag aber um einen Feiertag (Karfreitag) gehandelt hat, hat die Frist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 3 SGG ihr Ende erst am darauf folgenden ersten Werktag, dem 10.04.2012 (Dienstag) gefunden

Diese Frist hat der Kläger eingehalten. Sein Antrag vom 05.04.2012 ist per Telefax an das Sozialgericht München geschickt worden und dort am 05.04.2012, also klar innerhalb der Frist eingegangen. Der Antrag ist im Übrigen auch formgerecht und erfüllt die inhaltlichen Anforderungen an einen Antrag gemäß § 109 SGG; der zu hörende Arzt ist namentlich und mit Anschrift benannt worden (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 109, Rdnr. 4).

Wenn das Sozialgericht in den Gründen des Urteils vom 26.04.2012 ausführt, dass das Gericht vor Eingang des Antrags gemäß § 109 SGG bereits zur mündlichen Verhandlung geladen habe und die Frist zur Stellung des Antrags gemäß § 109 SGG "von zwei Wochen", die mit Blick auf das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl. I S. 2302) ausreichend sei, bereits abgelaufen gewesen sei, können diese Gesichtspunkte eine Zurückweisung des Antrags gemäß § 109 SGG als verspätet gemäß
§ 109 Abs. 2 SGG nicht begründen. Das Sozialgericht hat bei seiner Argumentation völlig übersehen, dass es selbst dem Kläger mit Schreiben von 09.03.2012 explizit eine Frist von "vier Wochen" gesetzt hat. Sich darüber hinwegzusetzen, würde ein eklatantes venire contra factum proprium darstellen. Wäre diese Fristsetzung nicht erfolgt, wäre in der Tat die Frage der Dauer der Frist zu thematisieren gewesen, nach deren Ablauf ein Antrag gemäß § 109 SGG als verspätet zurückgewiesen werden könnte.

2. Wesentlichkeit des Verfahrensmangels

Der Verfahrensmangel der unberechtigten Ablehnung des Antrags gemäß § 109 SGG ist wesentlich.

Wesentlich ist ein Verfahrensmangel dann, wenn das Urteil darauf beruhen kann (vgl. Keller, a.a.O., § 159 Rdnr. 3a).

Bei Einholung des vom Kläger fristgemäß beantragten Gutachtens gemäß § 109 SGG ist nicht auszuschließen, dass das Sozialgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre als im Urteil vom 26.04.2012. Auch wenn der gemäß § 106 SGG gehörte Sachverständige die Einholung eines Gutachtens auf internistischem Gebiet nicht für erforderlich gehalten hat und nach seinen Ausführungen zu dem für ihn fachfremden internistischen Gebiet nicht unbedingt damit zu rechnen ist, dass ein internistischer Gutachter die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG bejahen wird, kann gleichwohl derzeit nicht mit Sicherheit die Beurteilung des Gesundheitszustandes des Klägers, soweit die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG betroffen sind, durch den gemäß § 109 SGG benannten internistischen Sachverständigen prognostiziert werden. Das ergangene Urteil des Sozialgerichts kann daher auf der verfahrensfehlerhaften Nichteinholung des Gutachtens gemäß § 109 SGG beruhen.

3. Erforderlichkeit einer umfassenden und aufwändigen Beweisaufnahme infolge des Verfahrensmangels

Wegen des Verfahrensmangels ist mit der Einholung des Gutachtens gemäß § 109 SGG eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich, die einen erheblichen Mitteleinsatz verlangt.

Wenn vereinzelt zur vergleichbaren Regelung des § 131 Abs. 5 SGG die Ansicht vertreten wird, dass allein die Einholung eines Sachverständigengutachtens für das Gericht nicht mit einem erheblichem Aufwand im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG verbunden sei (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.01.2009, Az.: L 4 R 1519/08), kann sich der Senat dem - jedenfalls für den hier zu entscheidenden Fall, dass ein gemäß § 109 SGG beantragtes Gutachten trotz rechtzeitig gestelltem Antrag nicht eingeholt worden ist - nicht anschließen. Denn anderenfalls bestünde keinerlei Handhabe, gegen eine missbräuchliche Nichteinholung von Gutachten gemäß § 109 SGG vorzugehen. Dies würde im Ergebnis bedeuten, dass das Recht gemäß § 109 SGG in der ersten Instanz maßgeblich geschwächt würde. Der Senat kann sich nicht vorstellen, dass der Gesetzgeber mit der Beschränkung der Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG auf Fälle, in denen eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, eine derartige Schwächung des Antragsrechts gemäß § 109 SGG bezwecken wollte. Der Grundsatz des fairen Verfahrens verbietet eine andere Auslegung als die vom Senat vertretene.

4. Ermessenserwägungen betreffend die Zurückverweisung

Im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens hält es der Senat für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das Sozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen.

Der Rechtsstreit ist erst kurze Zeit am Landessozialgericht anhängig, so dass durch die Zurückverweisung dem Kläger kein wesentlicher zeitlicher Nachteil entstehen kann. Vielmehr würde der Kläger, wenn der Rechtsstreit nicht zurückverwiesen würde, sondern das gemäß § 109 SGG beantragte Gutachten erst im Verfahren vor dem Landessozialgericht eingeholt würde, faktisch eine Instanz verlieren. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts ist bislang auf der Grundlage unzureichender Ermittlungen erfolgt, da das Sozialgericht keine Möglichkeit gehabt hat, die Meinung des vom Kläger benannten Arztes auf einem weiteren Fachgebiet in die Überlegungen einzubeziehen. Es ist auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses des Klägers an einer zeitnahen Sachentscheidung festzustellen, dass sein Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das Sozialgericht in einem fairen Klageverfahren vornehmen zu lassen, überwiegt. Dieses überwiegende Interesse an der Zurückverweisung hat der Kläger auch durch seine einschlägige mit Schriftsatz vom 25.05.2012 erfolgte Antragstellung im Verfahren vor dem Landessozialgericht dokumentiert, der sich auch der Beklagte angeschlossen hat. Dafür, dass sich dieses Interesse des Klägers zwischenzeitlich geändert hätte, gibt es keinerlei Hinweise. Vielmehr zieht der Senat aus der Tatsache, dass der Bevollmächtigte des Klägers nach den umfassenden Hinweisen des Senats im Protokoll vom 26.09.2012 nichts bekundet hat, das gegen eine Zurückverweisung spricht, den Rückschluss, dass er nach wie vor eine Zurückverweisung begehrt.

Auch die Tatsache, dass sich der Kläger am 19.09.2012 einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen hat, spricht nicht gegen eine Zurückverweisung. Gegen eine Zurückverweisung würde sprechen, wenn nach der verfahrensfehlerhaften Entscheidung des Sozialgerichts eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten wäre, die eine alsbaldige Erledigung des Klage- und nunmehr Berufungsbegehrens nahelegen und die Einholung des beantragten Gutachtens gemäß § 109 SGG als entbehrlich erscheinen lassen würde. Dies ist aber vorliegend nicht der Fall, da sich die dauerhaften Auswirkungen der Oberschenkelhalsfraktur nicht absehen lassen. Für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG sind nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (Teil A Ziff. 2f) nur die Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen, die von Dauer sind, also mehr als sechs Monate vorliegen. Daher ist es bei neu aufgetretenen Verletzungen oder Gesundheitsschäden nicht entscheidend, wie groß der Erstschaden ist, sondern nur, was als Dauerzustand verbleibt und welche funktionellen Einschränkungen damit verbunden sind. Dies lässt sich regelmäßig erst nach sechs Monaten beurteilen. Lediglich in ganz seltenen Ausnahmefällen lässt sich bereits vorher eine sichere Prognose bezüglich des verbleibenden Dauerschadens stellen. Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden. Ein Oberschenkelhalsbruch ist keine Verletzung, die üblicher- und typischerweise einen so stark eingeschränkten Gesundheitszustand hinterlässt, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG gegeben wären. Eine Erledigung des klägerischen Begehrens infolge des Oberschenkelhalsbruchs lässt sich daher derzeit nicht prognostizieren, sodass auch von einer Entbehrlichkeit des beantragten Gutachtens gemäß § 109 SGG nicht ausgegangen werden kann. Auch hat der Kläger nicht signalisiert, dass er seinen Antrag gemäß §109 SGG vor dem Sozialgericht nicht mehr aufrecht erhalten wird.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved