L 11 KR 5368/12 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 10 KR 2560/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 5368/12 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 11.12.2012 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid vom 02.03.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 23.03.2012 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerinnen tragen die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers beider Instanzen als Gesamtschuldner.

Gründe:

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die rückwirkende Erhebung höherer Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung für die Zeit ab dem 01.09.2011.

Der Antragsteller ist als Rentner bei den Antragsgegnerinnen seit Februar 2010 pflichtversichert. Er hat neben seiner gesetzlichen Rente Einkünfte aus einer selbständigen Tätigkeit als Journalist. Für die Zeit ab dem 01.04.2011 setzte die Antragsgegnerin zu 1) – auch im Namen der Antragsgegnerin zu 2) – die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung auf 0,00 EUR fest, da das Arbeitseinkommen die Geringfügigkeitsgrenze nicht überschreite (Bescheid vom 17.03.2011). Ende Februar 2012 legte der Antragsteller den Einkommensteuerbescheid vom 10.08.2011 für das Jahr 2010 vor. Darin sind Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit in Höhe von 2.914,00 EUR ausgewiesen. Unter Zugrundelegung dieser Einkünfte (verteilt auf acht Monate) setzte die Antragsgegnerin zu 1) – auch im Namen der Antragsgegnerin zu 2) – mit Bescheid vom 02.03.2012 die monatlichen Beiträge für die Zeit ab dem 01.09.2011 in Höhe von insgesamt 63,56 EUR fest. Hiergegen legte der Antragsteller am 15.03.2012 Widerspruch mit der Begründung ein, das Finanzamt habe versehentlich seine Aufwendungen für die selbständige Tätigkeit nicht berücksichtigt und anstatt des Gewinns die Einnahmen im Einkommensteuerbescheid ausgewiesen. Im Schreiben vom 30.07.2012 habe das Finanzamt ihm gegenüber diesen Fehler bestätigt. Widerspruch habe er gegen den Einkommensteuerbescheid nicht eingelegt, weil keine Steuern festgesetzt worden seien. Mit Bescheid vom 23.03.2012 setzte die Antragsgegnerin zu 1) die monatlich zu zahlenden Beiträge ab dem 01.09.2011 auf 42,38 EUR herab, da die im Steuerbescheid ausgewiesenen Einkünfte auf zwölf Monate zu verteilen seien. Im Übrigen wurde über den Widerspruch bis zuletzt noch nicht entschieden.

Am 11.10.2012 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Konstanz (SG) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs beantragt. Der Steuerbescheid für das Jahr 2010 könne auf Grund seiner Fehlerhaftigkeit nicht Grundlage für die Beitragsbemessung sein. Mit Beschluss vom 11.12.2012 hat das SG den Antrag abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, maßgeblich für die Beitragsbemessung sei ausschließlich der im Steuerbescheid ausgewiesene Gewinn aus selbständiger Tätigkeit. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG).

Hiergegen hat der Antragsteller am 20.12.2012 beim SG, eingegangen beim Landessozialgericht (LSG) am 27.12.2012, Beschwerde eingelegt und zur Begründung vorgetragen, ein Steuerbescheid, der wie hier offenkundig fehlerhaft sei, dürfe nicht zur Beitragsbemessung herangezogen werden.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

den Beschlusses des Sozialgerichts Konstanz vom 11.12.2012 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen den Bescheid vom 02.03.2012 in der Gestalt des Teilabhilfebescheids vom 23.03.2012 anzuordnen.

Die Antragsgegnerinnen beantragen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerinnen Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet.

Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist nicht nach § 172 Abs 3 Nr 1 SGG in der seit 11.08.2010 geltenden Fassung des Art 6 Drittes Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 05.08.2010 (BGBl I S 1127) ausgeschlossen. In der Hauptsache wäre die Berufung nicht unzulässig, da das Verfahren die Festsetzung laufender Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung für mehr als ein Jahr betrifft (vgl § 144 Abs 1 Satz 2 SGG).

Widerspruch und Anfechtungsklage haben nicht bereits kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung. Nach § 86a Abs 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage zwar grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Nach § 86a Abs 2 Nr 1 SGG entfällt jedoch - wie vorliegend - die aufschiebende Wirkung bei der Entscheidung über Versicherungs-, Beitrags- und Umlagepflichten sowie der Anforderung von Beiträgen, Umlagen und sonstigen öffentlichen Abgaben einschließlich der darauf entfallenden Nebenkosten. Nach § 86b Abs 1 Nr 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache aber auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Frage, ob die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage aufgrund von § 86b Abs 1 Nr 2 SGG anzuordnen ist, ist anhand einer Interessenabwägung zu beurteilen. Die öffentlichen Interessen am sofortigen Vollzug des Verwaltungsaktes und die privaten Interessen an der Aussetzung der Vollziehung sind gegeneinander abzuwägen. Dabei ist zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung des angefochtenen Bescheides Vorrang vor dem Interesse des Betroffenen an einem Aufschub der Vollziehung einräumt. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Interessenabwägung kann aber auch im Einzelfall zugunsten des Betroffenen ausfallen. Die konkreten gegeneinander abzuwägenden Interessen ergeben sich in der Regel aus den konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsachverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung (so auch Beschluss des Senats vom 06.05.2010, L 11 R 1806/10 ER-B). Dabei sind auch stets die Maßstäbe des § 86a Abs 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen. Demgemäß hat eine Aussetzung der Vollziehung zu erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgabepflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

Der Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei Beitragsstreitigkeiten ernstliche Zweifel in Sinne des § 86a Abs 3 Satz 2 SGG nur dann vorliegen, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen (vgl auch Beschluss des Senats vom 28.06.2010, L 11 R 1903/10 ER-B). Andernfalls wäre in Beitragsangelegenheiten angesichts der vielfach in vorläufigen Rechtsschutzverfahren noch ungeklärten Verhältnisse eine Aussetzung der Vollziehung häufig durchsetzbar, was die Funktionsfähigkeit der Sozialversicherungsträger beeinträchtigen könnte (ebenso LSG Nordrhein-Westfalen 01.07.2004, L 5 B 2/04 KR ER mwN, juris). Insoweit müssen erhebliche Gründe für ein Obsiegen in der Hauptsache sprechen, damit die in § 86a Abs 2 Nr 1 SGG vorgenommene gesetzliche Risikoverteilung geändert werden kann.

Solche erheblichen Gründe liegen hier vor. Ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache ist wahrscheinlicher als ein Unterliegen.

Die Höhe der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung, die der Antragsteller als versicherungspflichtiger Rentner zu entrichten hat, richtet sich nach § 237 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) bzw § 54 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI). Zu den beitragspflichtigen Einnahmen gehört ua das Arbeitseinkommen. Nach § 15 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) ist Arbeitseinkommen der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommensteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit. Einkommen ist als Arbeitseinkommen zu werten, wenn es als solches nach dem Einkommensteuerrecht zu bewerten ist (§ 15 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Daraus folgt, dass die sozialversicherungsrechtliche Bewertung der Einkünfte der steuerrechtlichen Behandlung folgt. Diese Parallelität von Sozialversicherungsrecht und Einkommenssteuerrecht dient der Verwaltungsvereinfachung (BT-Drucks 12/5700 S 92). Eigene Nachprüfungen der Sozialversicherungsträger entfallen. Für Selbständige steht außer dem am Einkommenssteuerrecht ausgerichteten Arbeitseinkommen kein gesetzlich oder anderweitig geregeltes System der Einkommensermittlung zur Verfügung, das verwaltungsmäßig durchführbar wäre und ohne unzumutbare Benachteiligung dieses Personenkreises verwirklicht werden könnte (BSG 03.05.2005, B 13 RJ 8/04 R, juris-RdNr 34 mwN). Grundsätzlich gilt daher, dass für die Beitragsbemessung aus selbständiger Tätigkeit die im Einkommensteuerbescheid ausgewiesenen Zahlen zugrundezulegen sind.

Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung des Sachverhalts sprechen erhebliche Gründe dafür, von diesem Grundsatz ausnahmsweise abzuweichen. Die Besonderheit des vorliegenden Einzelfalls ist die von der Finanzverwaltung schriftlich bestätigte Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheids. Zwar hat das BSG in der vom SG zitierten Entscheidung ausgeführt (BSG 02.09.2009, B 12 KR 21/08 R, juris), dass der Betrag des Gewinns grundsätzlich verlässlich nur dem jeweils letzten Einkommensteuerbescheid entnommen werden kann. Auf die Entrichtung des so festgesetzten Beitrags darf und muss sich der Versicherte einrichten und die Krankenkasse damit als Einnahme rechnen. Im dortigen Verfahren hatte der Kläger allerdings eine nachträgliche Änderung seines Gewinns geltend gemacht. Hierfür – so das BSG – sei die Vorlage eines neuen Einkommensteuerbescheides erforderlich (BSG 02.09.2009, B 12 KR 21/08 R, juris). Der Antragsteller macht hier keine Änderung seines Gewinns, sondern die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheids geltend. Das BSG hat bereits im Zusammenhang mit der Einordnung von Einkünften als solche aus Gewerbebetrieb oder Vermietung bzw Verpachtung entschieden, dass auf die Feststellungen der Finanzverwaltung nicht zurückgegriffen werden darf, wenn der Betroffene gegen die Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen oder steuerrechtlichen Bewertung des Finanzamtes schlüssige und erhebliche Einwendungen erhebt (BSG 30.03.2006, B 10 KR 2/04 R, juris-RdNr 30; BSG 23.01.2008, B 10 KR 1/07 R, juris-RdNr 38; vgl auch BSG 30.09.1997, 4 RA 122/95, SozR 3-2400 § 15 Nr 4). Solche Einwände macht der Antragsteller geltend. Hinzu kommt, dass die Fehlerhaftigkeit des Steuerbescheids von der Finanzverwaltung schriftlich bestätigt wurde. In einem solchen Fall hält es der Senat für überwiegend wahrscheinlich, dass von dem oben beschriebenen Grundsatz ausnahmsweise abzuweichen ist. Die abschließende Prüfung des Sachverhalts bleibt jedoch dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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