L 3 SB 4230/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 3144/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 4230/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 02. August 2010 abgeändert. Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 19. August 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04. November 2009 verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 23. März 2009 einen Grad der Behinderung von 90 (neunzig) festzustellen.

2. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

3. Der Beklagte erstattet zwei Drittel der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 statt des zuerkannten von 50.

Bei dem am 11.04.1940 geborenen Kläger war erstmals mit Bescheid vom 08.04.1986 eine Behinderung ("mäßige Lungenüberblähung, Neigung zu Bronchitis") anerkannt worden, ein GdB wurde nicht festgestellt, da dieser ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 04.04.1986 bei nur 10 v.H. gelegen habe.

Auf Grund eines der folgenden Neufeststellungsanträge hatte das damals zuständige Versorgungsamt Freiburg, Außenstelle Radolfzell, nach Einholung mehrerer Befundberichte mit Bescheid vom 21.01.1994 bei dem Kläger einen GdB von 30 v.H. festgestellt. Zu Grunde lagen eine – nach wie vor –mäßige Lungenblähung mit Neigung zu Bronchitis, außerdem ein Wirbelsäulensyndrom mit Neigung zu Kopfschmerzen, eine Neigung zu Magenschleimhautentzündungen, eine depressive Verstimmung und eine allgemeine Schwäche mit Abmagerung. Bereits in den damaligen Neufeststellungsverfahren hatte der Kläger Folgen von vier angeblichen Arbeitsunfällen in den Jahren 1972, 1973, 1976 und 1977 geltend gemacht (vgl. hierzu auch das später eingereichte Vorerkrankungsverzeichnis der damaligen AOK Konstanz vom 12.11.1990 und den Bescheid der Berufsgenossenschaft Metall Nord Süd vom 27.03.2009 wegen der Verletzung des linken Daumens bei dem Vorfall 1973).

Mit Formantrag vom 02.05.2009, bei dem nunmehr als Versorgungsamt zuständigen Landratsamt Konstanz (LRA) am 17.06.2009 eingegangen, begehrte der Kläger erneut Neufeststellung sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht). Er machte erneut die bereits anerkannten Behinderungen, die genannten Unfallfolgen und zusätzlich eine Störung und Schwäche der Sehkraft geltend. Während des Verfahrens trug er mehrfach vor, er benötige eine "Arbeitsunfähigkeit" zu 100 v.H. bzw. eine Rente. Nach Vorlage mehrerer ärztlicher Befundberichte, darunter von Augenärztin Dr. v. A. vom 26.06.2009 (Visus cc 0,4 re. und 0,4 li. nach Cataracta corticalis ["grauer Star"] bds., ansonsten o.B.), stellte das LRA mit Bescheid vom 19.08.2009 unter Abänderung des Bescheids vom 21.01.1994 bei dem Kläger ab dem 23.03.2009 einen GdB von 50 fest. Zu Grunde lagen ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B. vom 04.08.2009 degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Schulter-Arm-Syndrom/Kopfschmerzsyndrom (Einzel-GdB 30), Lungenblähung und chronisches Bronchitis (20), eine Sehminderung bds. (20) sowie eine depressive Verstimmung und eine chronische Magenschleimhautentzündung (je 10). Die geltend gemachten Gesundheitsstörungen wegen der Arbeitsunfälle, darunter die Daumenverletzung, bedingten jeweils keine Einzel-GdB von wenigstens 10. Den unter Berufung auf die Arbeitsunfälle erhobenen Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt des beklagten Landes mit Widerspruchsbescheid vom 04.11.2009 zurück.

Mit einem am 17.11.2009 bei dem LRA eingegangen Schreiben, das nach Rücksprache mit dem Kläger als Klage gelten sollte (vgl. § 91 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]), hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben. In mehreren, umfangreichen Schreiben hat der Kläger auf seine gesundheitliche Situation und einzelne Umstände seines Arbeitslebens hingewiesen und vorgetragen, er habe wegen der gen. Arbeitsunfälle Ansprüche auf Rente. Zur Frage der Behinderungen hat der Kläger nichts vorgetragen.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, hat das SG zunächst den behandelnden Arzt des Klägers, Dr. C., schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Dieser hat am 15.02.2010 das Krankenblatt des Klägers seit Anfang 2009 vorgelegt und mitgeteilt, der Zustand des Klägers habe sich (seit Anfang 2009) nicht wesentlich verändert, der Kläger leide u. a. an einer anhaltenden wahnhaften Störung, es bestehe eine tiefe Verbitterung gegenüber früheren Arbeitgebern und Anwälten und wegen der Rentensituation, eine ausgeprägte querulatorische Haltung sei festzustellen, eine entsprechende medikamentöse oder psychotherapeutische Therapie sei aussichtslos, der Gesamt-GdB sei auf 40 zu schätzen. Sodann hat das SG mit Beweisbeschluss vom 21.04.2010 den Neurologen und Psychiater Dr. D. mit der Begutachtung des Klägers beauftragt. Nachdem der Kläger die Annahme des Einladungsschreibens des Gutachtens verweigert und schriftlich als auch am 19.05.2010 in einem unfallversicherungsrechtlichen Parallelverfahren mündlich erklärt hatte, er werde sich von Dr. D. nicht begutachten lassen, hat das SG den Beweisbeschluss wieder aufgehoben.

Mit Gerichtsbescheid vom 02.08.2010 hat das SG die Klage abgewiesen. Der Kläger habe als Behandler allein seinen Hausarzt benannt. Dieser habe mitgeteilt, der Gesundheitszustand habe sich nicht wesentlich geändert. Es seien die vom Beklagten anerkannten Einzel-GdB von 30 für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom und Kopfschmerzen, von 20 für die Lungenerkrankung und von 10 für die chronische Magenschleimhauterkrankung anzuerkennen. Auf psychiatrischem Gebiet sei ein Einzel-GdB von 10 für eine depressive Verstimmung anerkannt. Zwar habe Dr. C. von einer anhaltenden wahnhaften Störung und einer ausgeprägten querulatorischen Haltung gesprochen. Der Kläger habe jedoch die insoweit notwendige Begutachtung verweigert. Seine psychischen Erkrankungen hätten daher nicht aufgeklärt werden können.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger mit Schreiben vom 31.08.2010 bei dem SG Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er hat umfangreiche Unterlagen, darunter Schreiben an verschiedene deutsche und europäische Gerichte und Behörden, vorgelegt und zu seinen angeblichen Arbeitsunfällen vorgetragen. Er hat - zunächst - begehrt, ihm eine Rente wegen der Arbeitsunfälle in Höhe von "100 %" zuzusprechen. Aus dem vorgelegten Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg vom 02.08.2007 ergibt sich, dass der Kläger seit 01.05.2005 eine Regelaltersrente mit einem Zahlbetrag von EUR 433,21 (ab September 2007) bezieht und zuvor seit dem 01.06.1994 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit [alten Rechts] bezogen hatte. Ferner bezieht er Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung von dem zuständigen Sozialhilfeträger.

Mit Schriftsatz vom 11.07.2011 hat sich Rechtsanwältin E. für den Kläger zur Akte legitimiert. Der Senat hat dem Kläger mit Beschluss 22.02.2012 Prozesskostenhilfe gewährt und seine Prozessbevollmächtigte beigeordnet.

Über seine Prozessbevollmächtigte hat der Kläger vorgetragen, seine Kopfschmerzen gingen auch mit einem Konzentrationsmangel und Gedächtnisschwierigkeiten einher, er leide auch an Schmerzen im Rippenbereich mit erheblichen Bewegungseinschränkungen, einer Verkürzung des rechten Beins, auch habe sich seine chronische Bronchitis verschlimmert. Insgesamt leide er an einem chronischen und multiplen Schmerzsyndrom.

Der Senat hat daraufhin erneut den Hausarzt sowie mehrere vom Kläger benannte Fachärzte schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Der Radiologe Dr. F. hat den Befundbericht vom 31.05.2011 vorgelegt (degenerative Veränderungen an mehreren Segmenten der Halswirbelsäule mit foraminaler Einengung und begleitender Uncarthrose). Dr. C. hat unter dem 20.12.2012 mitgeteilt, der Kläger suche ihn seit mindestens drei Jahren regelmäßig ein bis zwei Mal je Woche auf. 2011 seien u. a. (einzeln aufgeführte) Wirbelsäulenbeschwerden, ein massives multiples Schmerzsyndrom auf psychosomatischer Grundlage (Bericht der Birkle-Kli¬nik, Dr. G., vom 10.09.2011 über eine stationäre Behandlung des Klägers im August 2011) und eine akute Arthritis im rechten Kniegelenk diagnostiziert worden. Der Kläger lehne regelmäßig die vorgeschlagenen psychotherapeutischen Behandlungen kategorisch ab. Er habe die verordnete Physiotherapie abgebrochen. Ebenfalls lehne er einen vorgeschlagenen operativen Eingriff an der Wirbelsäule ab. Es bestehe eine ausgeprägte somatoforme Störung mit depressiven und hypochondrischen Zügen, die Zwangscharakter aufweise. Insoweit sei der Kläger nicht mehr therapierbar. Orthopäde und Unfallchirurg Dr. H. hat unter dem 28.12.2011 bekundet, er behandle den Kläger wegen Arthritis im rechten Hüftgelenk sowie beiden Kniegelenken, einer Spondylarthrose und skoliotischer Fehlhaltung der Halswirbelsäule, es bestehe auch ein Zustand nach Fraktur des BWK (Brustwirbelkörpers) 11. Eine Beinlängendifferenz sei nicht bekannt. Die Möglichkeit eines nicht allein somatisch bedingten Schmerzsyndroms sei in Betracht zu ziehen. Hüft- und Kniegelenke seien endgradig schmerzfrei beweglich nach der Neutral-Null-Methode. Es beständen mittelgradige funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt. Das Schultergelenk sei nicht instabil und nur endgradig schmerzhaft bewegungseingeschränkt. Der einstmals behandelnde Lungenfacharzt Dr. I. hat mitgeteilt, der Kläger sei dort letztmals am 18.02.2008 in Behandlung gewesen.

Der Berichterstatter des Senats hat den Kläger persönlich angehört. Dabei hat der Kläger auf Nachfrage und Vorhalt des Schwerbehindertenausweises sinngemäß deutlich gemacht, es gehe ihm um die Zuerkennung eines höheren GdB. Er sei inzwischen bei den Praxisnachfolgern von Dr. I. vorstellig geworden. Er sei bereit, sich psychiatrisch begutachten zu lassen. Wegen der weiteren Angaben des Klägers wird auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 12.03.2012 verwiesen.

Der Kläger beantragt demnach sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 02. August 2010 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 19. August 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 04. November 2009 zu verpflichten, bei dem Kläger ab dem 23. März 2009 einen Grad der Behinderung von 100 festzustellen.

Das beklagte Land beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

In seiner schriftlichen Zeugenaussage vom 31.05.2012 hat Lungenfacharzt Dr. K., Praxisnachfolger von Dr. I., mitgeteilt, der Klägers sei nach dem 18.02.2008 erstmals wieder am 15.02.2012 vorstellig geworden. Es beständen ein Intrinsic-Asthma mit am ehesten Reflux-geschehen und ein thorakales Schmerzsyndrom, aber kein Schlaf-Apnoe-Syndrom. Der GdB sei auf 50 bis 70 zu schätzen. Ferner hat Dr. K. Arztberichte und Ergebnisse von Lungenfunktionsprüfungen vorgelegt.

Auf Beschluss des Senats hat Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. L. den Kläger sachverständig untersucht. In seinem schriftlichen Gutachten vom 31.07.2012 hat er mitgeteilt, nach seiner Einschätzung beständen bei dem Kläger eine Somatisierungsstörung mit chroni¬fi-zierten multiplen und wechselnden körperlichen Symptomen ohne hinreichende organische Erklärung, eine paranoide Persönlichkeitsstörung mit querulatorischer Prägung und Übergang in eine anhaltende wahnhafte Störung sowie eine depressive Störung. Eine hypochondrische Störung bestehe nicht. Hinweise auf eine wesentliche hirnorganische Beeinträchtigung beständen nicht; dies zeige sich u. a. darin, dass der Kläger zwar Erinnerungslücken angebe, aber zum Beispiel den Zahlbetrag seiner Rente auf den Cent genau angeben könne. Sämtliche Erkrankungen bedingten einen hohen Leidensdruck, eine gedankliche Einengung auf Krankheitssymptome und den "Kampf um Gerechtigkeit", eine Störung der Vitalgefühle und eine erhebliche Einschränkung der Sozialkontakte. Es liege eine mindestens mittelschwere Störung der sozialen Teilhabe vor. Der Einzel-GdB auf psychiatrischem Fachgebiet sei auf 70 zu schätzen. Die Einzel-GdB von 30 und 20 auf orthopädischem und augenärztlichem Gebiet seien adäquat bewertet. Auch die von Dr. K. wegen der erheblichen Verschlechterung der Lungenfunktion seit 2008 vorgeschlagene Erhöhung des Einzel-GdB auf lungenärztlichem Gebiet auf mindestens 50 sei plausibel. Insgesamt könne der Gesamt-GdB auf 100 geschätzt werden. Wegen der Einzelheiten der Feststellungen und Vorschläge des Sachverständigen wird auf das schriftliche Gutachten verwiesen.

Der Beklagte hat mit Schriftsatz vom 12.12.2012 im Vergleichswege die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 70 angeboten. Hierzu hat Versorgungsarzt Dr. M. unter dem 11.12.2012 ausgeführt, für die von Dr. L. diagnostizierte Persönlichkeitsstörung könne nur ein GdB von 50 anerkannt werden. Die Lungenerkrankung könne bislang nicht höher bewertet werden als wie bisher mit einem GdB von 20, da aktuelle Messwerte einer Lungenfunktionsprüfung nicht vorlägen. Die übrigen relevanten Einzel-GdB von 30 für die Wirbelsäulenerkrankung und 20 für die Sehminderung bds. seien nach wie vor gerechtfertigt. Auf Nachfrage des Senats hat Dr. K. noch die Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfungen vom 15.02.2012 sowie - neu - vom 21.09.2012 mitgeteilt. Hierzu hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. N. vom 14.01.2013 vorgelegt. Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung des Klägers ist nach § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig nach § 151 SGG, insbesondere fristgerecht erhoben. Sie ist auch überwiegend begründet. Dem Kläger steht ein Anspruch gegen das beklagte Land auf Abänderung des letzten bindenden Bescheids vom 21.01.1994 und Feststellung eines Gesamt-GdB von 90 (neunzig) zu, der zwar an sich erst ab der Antragstellung am 17.06.2009 begründet wäre, aber ab dem 23.03.2009 zuerkannt werden kann, nachdem der Beklagte selbst in seinem Vergleichsangebot vom 12.12.2012 dieses Datum genannt hat (vgl. § 6 Abs. 1 Sätze 1 und 2 SchwbAwV).

a) Die rechtlichen Voraussetzungen einer Neufeststellung des GdB nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die Vorgaben der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (VG) aus der Anlage der seit dem 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) für die Ermittlung des GdB hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt; darauf wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG verwiesen.

b) Auf psychiatrischem Gebiet ist bei dem Kläger ein GdB von 60 anzuerkennen. Es liegt insoweit im Sinne von Nr. 3.7. VG eine schwere neurotische Erkrankung bzw. Persönlichkeitsstörung im Sinne einer schweren Zwangskrankheit vor, die zu mindestens mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten führt. Diese generelle Einstufung hat auch der Beklagte ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 11.12.2012 akzeptiert. Anders als nach Ansicht des Beklagten ist hier aber nicht nur der untere Wert aus dem für diese Erkrankung vorgesehenen Korridor von 50 bis 70 anzusetzen, sondern der mittlere Wert von 60.

Dr. L. hat bei dem Kläger eine solche Krankheit, nämlich im Wesentlichen eine paranoide Persönlichkeitsstörung, festgestellt. Dem ist zu folgen. Der Kläger leidet an einer Zwangskrankheit, nämlich einer querulatorisch geprägten vollständigen Einengung des Denkens auf ganz wenige Lebensbereiche, vor allem die angeblich erfahrenen Kränkungen durch Arbeitgeber, Anwälte und Behörden und die Fixierung auf die vermeintlichen Arbeitsunfälle der 1970-er Jahre bzw. daraus aus Sicht des Klägers folgende schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen und Rentenansprüche. Der Kläger ist auch durch Tatsachen nicht von seinen Vorstellungen, er leide an erheblichen zurückgebliebenen Unfallfolgen, die anerkannt werden müssten, und es stehe ihm daher eine "Rente" zu, abzubringen. Dr. L. hat dieses Verhalten nachvollziehbar nicht als aggraviert oder simuliert, sondern als krankheitsbedingt eingestuft. Die Falschangaben des Klägers zu Gesundheitsfragen (Rauchen, Gewichtsverluste), die nach der Beschreibung Dr. L.s "grotesken" Diskrepanzen zwischen den Schilderungen des Klägers über seine Beschwerden und den objektiven (somatischen) Befunden sowie das Desinteresse des Klägers, verbunden mit vorgetragenen Erinnerungslücken sowie "verbalem Rückzug" bei anderen Themen als den Unfällen und den daraus angeblich folgenden Beschwerden, sind dermaßen ausgeprägt, dass nicht von einem Vortäuschen ausgegangen werden kann. Hierfür spricht, dass der ausbildungs- und herkunftsbedingt einfach strukturierte Kläger sein Verhalten seit Jahren konsequent und ohne wesentliche Abweichungen in Einzelfragen fortsetzt. Dr. L. hat demnach zu Recht bereits wahnhafte Elemente im Denken des Klägers gesehen und eine paranoide Komponente diagnostizert, wobei hiermit keine phobischen Elemente im Sinne von Nr. 3.6. VG gemeint sind.

Aus dieser Persönlichkeitsstörung folgen auch die von Nr. 3.7. VG vorausgesetzten mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen. Der Kläger hat kaum soziale Kontakte außer zu Ärzten, seiner Anwältin und anscheinend einem Bekannten, der ihm die Wäsche wäscht. Dies hatte der Kläger bereits bei seiner Anhörung am 12.03.2012 und sodann erneut Dr. L. gegenüber dargelegt. Für eine erhebliche Einschränkung spricht vor allem, dass der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben gegenüber Dr. L. keinen Kontakt zu seinen sechs Kindern und seiner in Montenegro lebenden Ehefrau hat. Die zumindest mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten des Klägers werden auch aus seinem Verhalten währen des gesamten Verfahrens, auch in dem Erörterungstermin in Konstanz, deutlich.

Allerdings sind die sozialen Anpassungsschwierigkeiten nicht so erheblich, dass sie allein einen höheren GdB als 50 bedingen würden. Der Kläger interagiert durchaus mit anderen Menschen. Er führt sein Leben zwar allein, aber er verlässt noch die Wohnung, z. B. um zum Essen in ein nahe gelegenes Einkaufszentrum zu gehen. Auch besteht der Kontakt zu dem genannten Nachbarn oder Bekannten. Körperlich-aggressive Tendenzen sind nicht zu erkennen. In seiner Welt ist der Kläger durchaus in der Lage, folgerichtig zu denken und Angaben zu machen, wie sich z. B. an seinen zutreffenden und konkreten Aussagen zur Höhe seiner Einkünfte zeigt.

Zu der - reinen - Persönlichkeitsstörung des Klägers kommen aber weitere Elemente, die es rechtfertigen, insoweit einen GdB von 60 anzusetzen. Die seit langem anerkannte depressive Komponente hat auch Dr. L. erneut bestätigt und als "Anhedonie" (Freud- und Lustempfindungsunfähigkeit), verbunden mit Vitalstörungen, beschrieben. Diese Komponente steht zwar nicht im Vordergrund, denn grundsätzlich ist der (psychische) Leidensdruck des Klägers wegen seiner (anderen) Erkrankungen offensichtlich gering. Die depressive Komponente geht aber über eine reine Persönlichkeitsstörung hinaus. Hinzu kommen zumindest teilweise die vom Kläger empfundenen Schmerzen im Sinne einer Somatisierung, die nicht allein mit den weiteren Einzel-GdB für die Wirbelsäulen- oder Knieschäden abgegolten ist (vgl. die Neufassung von Nr. 18.4. VG zu "Somatisierungssyndromen" gegenüber den früheren Anhaltspunkten für die gutachterliche Tätigkeit in Schwerbehinderten- und Entschädigungssachen [AHP]).

c) Ferner liegt bei dem Kläger eine Erkrankung der Lunge vor, die der Senat mit einem Einzel-GdB von 40 bewertet, wobei auch hier mehrere Krankheitssymptome zusammengefasst werden.

aa) Nach Nr. 8.2. VG bedingt eine chronische Bronchitis als eigenständige Krankheit, auch ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion, in leichter Form (symptomfreie Intervalle über Monate, wenig Husten, geringer Auswurf) einen GdB von 0 bis 10, in schwerer Form (fast kontinuierlich ausgiebiger Husten und Auswurf, häufige aktuelle Schübe) einen GdB von 20 bis 30. Nach 8.3. VG bedingt eine Lungenfunktionseinschränkung geringen Grades einen GdB von 20 bis 40. Sie liegt vor bei einer das gewöhnliche Maß übersteigenden Atemnot bei mittelschwerer Belastung (wie forschem Gehen oder mittelschwerer körperlicher Arbeit), bei einer Erniedrigung der statischen und dynamischen Messwerte um bis zu 1/3 gegenüber den Sollwerten und bei Blutgaswerten im Normbereich. Eine Lungenfunktionseinschränkung mittleren Grades, die einen GdB von 50 bis 70 bedingt, setzt eine ungewöhnliche Atemnot schon bei alltäglicher leichter Belastung (Spazierengehen, Treppensteigen bis zu einem Stockwerk, leichte körperliche Arbeit), eine Erniedrigung der statischen und dynamischen Messwerte um bis zu 2/3 der Sollwerte und eine respiratorische Partialinsuffizienz (also eine Absenkung - nur - des Sauerstoffpartialdrucks im Blut) voraus. Nr. 8.5. VG sieht für ein Bronchialasthma, auch ohne dauernde Einschränkung der Lungenfunktion, einen GdB von 0 bis 20 bei einer Hyperreagibilität mit seltenen und/oder leichten Anfällen, einen GdB von 30 bis 40 bei einer Hyperreagibilität mit häufigen (mehrmals pro Monat) und/oder schweren Anfällen sowie einen GdB von 50 bei einer Hyperreagibilität mit Serien schwerer Anfälle vor.

bb) Bei dem Kläger liegt eine Lungenerkrankung vor, die nach den Beschreibungen Dr. K.s in der Zeugenaussage vom 31.05.2012 und den Arztberichten vom 15.02. und 21.09.2012 als "intrinsic asthma" (nichtallergisches Asthma mit Hyperreagibilität gegenüber unspezifischen Rei¬zen) mit Refluxgeschehen (Hyperreagibilität gegenüber Reflux von Magensaft) bzw. als "COPD" (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) im Stadium II nach GOLD (mittelschwere Verlaufsform) bezeichnet werden kann. Die Lungenfunktionseinschränkung des Klägers, isoliert betrachtet, ist nur im Bereich des "geringen Grades" nach Nr. 8.3 VG und hier im mittleren Bereich einzuordnen, sodass insoweit ein GdB von 30 angemessen erscheint. Zwar hatte Dr. K. bei der Untersuchung am 15.02.2012 eine erhebliche Verschlimmerung der peripheren Obstruktion (gegenüber 2008) diagnostiziert. Sowohl die statischen als auch die dynamischen Werte der damaligen Messung waren um mehr als 1/3 verringert (statisch: VC IN [inspiratorische Vitalkapazität] 44,2 bzw. 48 % des Normwerts; dynamisch: FVC [forcierte exspiratorische Vitalkapazität] 44,9 bzw. 47 %, FEV1 [Einsekunden¬ka¬pa¬zität] 43,5 bzw. 52 %). Auch hatte Dr. K. im Februar 2012 eine Belastungsminderung auf ein Stockwerk beschrieben. Dagegen war die periphere Obstruktion bis zu der Untersuchung am 21.09.2012 zurückgegangen, sie war nur noch mäßiggradig. Die Messwerte hatten sich verbessert, sie waren nunmehr - durchschnittlich betrachtet - nur noch um ungefähr ein Drittel vermindert (VC IN: 65,5 bzw. 54,2 %; FVC 63,8 bzw. 59,0 %; FEV1 67,7 bzw. 70,5 %). Von einer Einschränkung auf ein Stockwert spricht Dr. K. nicht mehr. Und vor allem fehlt bei dem Kläger eine respiratorische (Partial)insuffizienz: Die Sauerstoffsättigung des Blutes hat Dr. K. für den 21.09.2012 mit 98 % angegeben. Die schlechten Werte bei der Untersuchung am 15.02.2012 sind daher nicht als Dauerzustand einzustufen. Aber auch jene Werte hätten nicht zu einer Lungenfunktionseinschränkung mittleren Grades mit einem GdB von 50 oder mehr geführt: Eine respiratorische (Partial)insuffizienz war auch damals nicht beschrieben worden. Hinzu kommt, worauf auch Versorgungsarzt Dr. N. in seiner Stellungnahme vom 14.01.2013 hingewiesen hat, dass die "relative Einsekundenkapazität" (FEV1-VC) durchgängig, auch im Februar 2012, sogar über 100 % lag, also nicht nur ein Normalverhältnis zwischen FEV1 und VC ergab, was eher gegen eine (erhebliche) obstruktive Ventilationsstörung spricht (vgl. Greten/Rinninger/Greten, Innere Medizin, 13. Aufl. 2010, S. 417) und auch die Diagnose einer COPD II. Grades nicht unbedingt zulässt (a.a.O., S. 430). Zu der so beschriebenen und bewerteten reinen Lungenfunktionseinschränkung kommt aber die asthmatische Komponente. Der Kläger reagiert offensichtlich auf Refluxe, ggfs. auch auf andere Auslöser. Am 15.02.2012 hatte er Dr. K. von starkem Husten mit grünlichem, gelegentlich blutigem Auswurf, berichtet. Diese Angabe kann durchaus geglaubt werden. Der Kläger hatte sie gegenüber Dr. K. am 15.02.2012 gemacht, also vor dem Erörterungstermin in Konstanz am 12.03.2012, wo dem Kläger möglicherweise deutlich wurde, dass auch seine Lungenerkrankung relevant sein könnte. Auch hatte er schon früher von Auswürfen berichtet. Es ist insoweit von einem Bronchialasthma mit mehr als seltenen und leichten, aber noch nicht mehrfach monatlich auftretenden Anfällen auszugehen, sodass insoweit der obere Wert von 20 aus der ersten Stufe aus Nr. 8.5 VG herangezogen werden kann.

Für die Beeinträchtigungen des Funktionssystems Atemorgane kann daher bei integrierender Betrachtung der Lungenfunktionseinschränkung und des Bronchialasthmas ein GdB von 40 angesetzt werden. d) Für den Wirbelsäulenschaden des Klägers geht der Beklagte nach wie vor von einem Einzel-GdB von 30 aus. Dem kann gefolgt werden. Zwar hat Dr. H. hat in seiner Zeugenaussage vom 28.12.2011 von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in nur einem WS-Abschnitt gesprochen. Eine solche Einbuße allein bedingt nach Nr. 18.9. VG nur einen GdB von 20. Dr. H.s Beschreibung trifft auch zu. Bei dem Kläger ist nur die HWS in größerem Maße degenerativ verändert, auch findet sich hier eine Enge im Wirbelkanal. An der BWS liegt lediglich ein verheilter Bruch des Wirbelkörpers 11 vor, der aber keine funktionellen Auswirkungen mehr hat. Jedoch leidet der Kläger außerdem an einem erheblichen Schmerzsyndrom, das zwar, wie ausgeführt, im Sinne einer Somatisierungsstörung psychisch überhöht ist, jedoch organische Ursachen hat und daher auch hier nicht vollständig unberücksichtigt bleiben darf.

e) Die Sehschwäche des Klägers mit einem korrigierten Restvisus von 0,4 bds. bedingt nach der Tabelle zu Nr. 4.3 VG - genau - den zuerkannten GdB von 20.

f) Der Senat hat im Ergebnis diese Einzel-GdB von 60 auf psychiatrischem, 40 auf lungenfachärztlichem, 30 auf orthopädischem und 20 auf augenärztlichem Gebiet zu einem Gesamt-GdB von 90 zusammengefasst. Er hat hierbei die Kriterien aus Teil A Nr. 3 lit. c und d VG zu Grunde gelegt. Auszugehen war insoweit von dem höchsten Einzel-GdB von 60. Dieser war nach Teil A Nr. 3 lit. c VG wegen des weiteren GdB von 40 auf lungenärztlichem Gebiet auf 80 zu erhöhen, da sich die Auswirkungen beider Behinderungen nicht überschneiden (Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe aa VG). Das Gleiche gilt für die Sehbehinderung, deren Einzel-GdB von 20 zu einer weiteren Erhöhung um 10 Punkte auf dann 90 führt. Eine weitere Erhöhung wegen des GdB auf orthopädischem Gebiet schied dagegen nach Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee Satz 2 VG aus. Die Beweglichkeitseinschränkungen allein bedingen, wie ausgeführt, allenfalls einen GdB von 20. Die höhere Bewertung kommt allenfalls allein durch das chronische Schmerzsyndrom zu Stande, das aber schon bei der Bewertung der psychischen Behinderungen berücksichtigt wurde. Insofern überschneiden sich die Auswirkungen beider Behinderungen deutlich (Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe cc VG).

g) Weitere Behinderungen mit einem Einzel-GdB von wenigstens 20, die nach Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee VG zu einer weiteren Erhöhung des Gesamt-GdB führen könnten, sind nicht ersichtlich

2. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

3. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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