L 10 V 33/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 17 V 189/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 V 33/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 24.06.2009 wird zurückgewiesen. Kosten haben die Beteiligten auch im Berufungsverfahren einander nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) darüber, ob der Kläger Anspruch auf Anerkennung einer Schädigungsfolge sowie auf eine Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat.

Der im Januar 1942 geborene Kläger verlor am 09.05.1945 in P während des Spielens durch einen Unfall sein rechtes Auge. Nach Beendigung der Kämpfe des zweiten Weltkrieges war P zu dieser Zeit durch die US-Armee besetzt. An diesem Tage hielt sich der Kläger mit anderen Kindern, so auch mit den Zeugen N D und I1 W in der Nähe des Elternhauses auf. An der Straße war ein von der Wehrmacht zurückgelassenes Armeefahrzeug abgestellt. Die Kinder kletterten auf das Fahrzeug. Nach den Angaben des Klägers fand eines der Kinder in dem Fahrzeug eine Flasche und warf diese gegen eine nebenstehende Mauer. Der Kläger wurde von einem Splitter der zerberstenden Flasche am Auge verletzt. Das Auge konnte auch bei der Notfallbehandlung im Krankenhaus H nicht gerettet werden.

Der Vater des Klägers beantragte wegen der Folgen dieser Verletzung für seinen Sohn am 30.09.1952 beim Versorgungsamt L Kriegs-Zivilbeschädigtenrente. In dem Schreiben heißt es: "Mein Sohn I, geboren am 00.00.1942 in N, verlor am 8. Mai 1945 durch unmittelbare Kriegseinwirkung sein rechtes Auge. Antrags-Begründung: In der Zeit lagen in P an der Steinhofsmauer mehrere beschädigte Wehrmacht-LKW. Der betreffende Unglückswagen war ohne Räder und in dessen Führerhaus lagen Flaschen mit einer undefinierbaren weißen Flüssigkeit. Andere Kinder warfen die Flaschen aus dem Wagen u.a. flog eine Flasche gegen die Mauer. Bei der Zersplitterung bekam mein Sohn einen Splitter ins rechte Auge, welches am selben Tag im Krankenhaus H operativ entfernt wurde. Seit dieser Zeit trägt mein Sohn eine Augenprothese. Ich bitte Sie, meinem Sohn eine Kriegs-Zivildienstbeschädigten Rente gemäß meinem Antrag zu bewilligen." Ergänzend beantragte er am 20. Juli 1953, jetzt mit förmlichem Antragsvordruck, Versorgungsbezüge/Heilbehandlung nach dem BVG. In dem Antrag gab er an, der Schüler I1 W, P, habe an einem abgestellten Wehrmachts-LKW gespielt. Seine Kinder seien dazu gekommen. Sein ältester Sohn habe eine Flasche mit einer weißen Flüssigkeit auf den Boden geworfen, ohne dass diese zersplittert sei. I1 W habe die Flasche dann an die Wand geworfen. In diesem Moment sei sein Sohn vorbeigekommen und habe den Splitter ins rechte Auge bekommen. In der Erklärung des ehemaligen Polizisten I C bestätigt diese, die Anzeige des I D vom 09.05.1945, dass dessen Sohn durch Wehrmachtsmaterial, das auf einem Wehrmachts-LKW gelegen habe, sein rechtes Auge verloren habe. Es habe sich um eine Glasflasche gehandelt. Der Kläger stützte seinen Antrag auf Bestätigungen des älteren Bruders N D sowie der H2 W1.

Mit Bescheid vom 11.08.1953 lehnte das Versorgungsamt L den Antrag auf Beschädigtenrente ab. Der Unfall stehe nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen und es liege auch keine unmittelbare Kriegseinwirkung iSd § 5 BVG vor. Allein aus der Tatsache, dass sich die Flasche auf einem Wehrmachtsfahrzeug befunden habe, lasse sich eine unmittelbare Kriegseinwirkung nicht herleiten. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies der zuständige Beschwerdeausschuss mit Bescheid vom 04.12.1953 zurück. Klage und Berufungsverfahren blieben erfolglos (Urteil Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - LSG NRW - vom 30.05.1956, LS VI (VII) KB 7319/54). Nach den Feststellungen des LSG hatte der schädigende Vorgang nichts mit der damaligen militärischen Besetzung zu tun. Auch habe keine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge vorgelegen, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hätten. Der Unfall sei zwar innerhalb eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs entstanden, er sei aber nicht durch einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich ausgelöst worden. Der vorhandene Gefahrenbereich sei nicht für den vom Kläger erlittenen Unfall ursächlich gewesen. Flaschen seien, auch wenn sie auf Wehrmachtsfahrzeugen transportiert werden, keine Kriegsgeräte, solange sie nicht mit für die Kriegsführung bestimmtem gefährlichem Inhalt gefüllt seien. Die Verletzung sei unstreitig nicht durch den Flascheninhalt, sondern durch einen Glassplitter der Flasche selbst hervorgerufen worden. Bei friedlichem Kinderspiel könne durch eine zerspringende Flasche der gleiche Unfall hervorgerufen werden.

Der Kläger beantragte im November 1974 (ablehnender Bescheid vom 14.02.1975) und noch einmal im Dezember 2004 (ablehnende Bescheide vom 11.02.2005 und 22.03.2005) erneut die Gewährung von Versorgungsrente. Die vor dem Sozialgericht (SG) Köln geführte Klage S 13 V 131/05 nahm der Kläger nach dem Hinweis des Gerichts, dass Erfolgsaussichten unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt bestünden, in der mündlichen Verhandlung am 09.11.2005 zurück.

Am 03.03.2008 beantragte der Kläger die Rücknahme der früheren ablehnenden Bescheide aus den Jahren 1953, 1975 und 2005 und jetzt zum vierten Mal Versorgung nach dem BVG. Die Prämisse, dass es sich bei der Glasflasche nicht um ein Kriegsgerät gehandelt habe, sei nicht richtig. Der Beweis könne aufgrund neuer, mühsam gewonnener Erkenntnisse erbracht werden. So habe ihm das Militärhistorische Museum der Bundeswehr (BW-Museum) in Dresden mitgeteilt, bei der fraglichen grünen Flasche mit weißer Flüssigkeit habe es sich nicht um einen Vorratsbehälter für wehrmachtseigentümliche Betriebsstoffe etc. gehandelt, sondern um einen Munitionskörper aus Glas. Er nahm auf einen Auskunftsbericht des im Berufungsverfahren als Sachverständiger gehörten Wissenschaftlichen Oberrats G vom 15.01.2008 Bezug.

Der Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 19.08.2008 und Widerspruchsbescheid vom 28.11.2008 erneut ab, die früheren Bescheide von 1953, 1975 und 2005 zurückzunehmen. Weder der Kläger noch die Zeugen hätten die maßgeblichen Angaben ("grüne" Flasche, austretender "Nebel") zeitnäher als heute gemacht. Die Ausführungen des Militärhistorischen Museums seien nicht fallbezogen, sondern allgemein gehalten. Nach Auswertung des vorgelegten Auskunftsberichtes habe es sich hinsichtlich der Art der konkreten Flasche um Spekulation gehandelt. Die Beweislage werde auch nicht dadurch anders, dass sich nach mehr als 60 Jahren plötzlich das Erinnerungsvermögen der damals Beteiligten dahingehend geändert habe, beim Splittern der Glasflasche sei Nebel entstanden/aufgetreten. Im Übrigen seien die nebelnden Flaschen zur Panzerabwehr gedacht und ansonsten inhaltlich nicht als gefährlich (explosiv) einzustufen, so dass ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich nicht bejaht werden könne. Es bleibe Tatsache, dass die Verletzung "lediglich" durch einen Glassplitter verursacht worden sei.

Der Kläger hat am 23.12.2008 Klage beim SG Köln erhoben und an seinem Vorbringen festgehalten. Bei der splitternden Flasche habe es sich um Kriegsgerät, vermutlich um einen sogenannten Blendkörper gehandelt; dies ergebe sich aus der Auskunft des BW-Museums. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei auch eine unmittelbare Kriegswirkung anzunehmen. Hieran ändere der Umstand nichts, dass die Verletzung nicht durch den Inhalt der Flasche, sondern durch Glassplitter hervorgerufen worden sei. Er habe wenig Erinnerung an die Kriegszeit. Er könne sich nur noch daran erinnern, dass die von ihm benannten Zeugen I1 W und N D bei dem Vorfall dabei gewesen seien.

Das SG hat Beweis erhoben durch Vernehmung des N D und des I1 W als Zeugen. Der Zeuge D hat im Wesentlichen bekundet, im Fahrzeug hätten offen im Fußraum drei grünliche Flaschen gelegen. Diese seien mit einer weißlichen Flüssigkeit gefüllt und einem schwarzen Stopp- und einem Dichtring verschlossen gewesen. Es habe sich um eine bauchige Flasche von ungefähr 30 Zentimetern gehandelt. Beim Zerspringen der Flasche habe es einen lauten Knall gegeben, bei dem es sich durchaus auch um einen Explosionsknall gehandelt haben könnte. Infolge der Zersplitterung der Flasche sei es zu einer Dunstbildung, vergleichbar mit kochendem Wasser, das seinen Siedepunkt erreicht habe, gekommen. Die Farbe der Dunstwolke sei weißlich gewesen. Der Zeuge W hat bekundet, es sei zu einem lauten Knall und zu weißer Rauchbildung gekommen.

Mit Urteil vom 24.06.2009 hat das SG die Klage abgewiesen und die angefochtenen Bescheide des Beklagten bestätigt. Die Beklagte habe zu Recht an der Bindungswirkung der früheren Bescheide festgehalten. Auch die vom Kläger nunmehr benannten Beweismittel ließen nicht mit der erforderlichen Sicherheit den Schluss zu, dass der Kläger durch kriegsbedingte Einwirkungen beschädigt worden sei. So seien im Zusammenhang mit der ersten Antragstellung keine Angaben zu einer Rauchentwicklung gemacht worden. Der Zeuge D habe die Rauchentwicklung aufgrund detaillierter Erinnerungen beschrieben, habe jedoch nicht angeben können, warum er die Beobachtungen nicht in der schriftlichen Bestätigung vom 15.07.1953 gemacht habe. Es hätte nahegelegen, den Umstand der Rauchentwicklung in relativ zeitlicher Nähe anzuführen, zumal eine Rauchentwicklung nach der Zerstörung der grünlichen Flasche doch sehr überraschend sei. Es sei nicht nachvollziehbar, dass er die entsprechenden Angaben nicht schon in den vorherigen Verfahren gemacht habe. Auch der Zeuge W habe nach dem Zerspringen der Flasche weißlichen Rauch gesehen. An Einzelheiten erinnere er sich aber nicht. Es liege der Schluss nahe, dass der Kläger die Aussagen der Zeugen hinsichtlich der Rauchentwicklung durch die eingeholten Auskünfte beeinflusst habe. Die Beklagte habe damals ihre Aufklärungspflicht nicht verletzt. Der Kläger habe erstmals im Verwaltungs- und Klageverfahren vorgetragen, dass es nach dem Wurf der Flasche zu einer Rauchentwicklung gekommen sei.

Der Kläger hat gegen das ihm am 20.07.2009 zugestellte Urteil am 20.08.2009 Berufung eingelegt. Die Vorgängerbehörde des Beklagten habe ihre Ermittlungspflichten verletzt. Das sei dem Beklagten zuzurechnen und führe nach der Rechtsprechung des BSG vom 03.02.1999, B 9 V 33/97 R in Juris Rn 13, zu einer Umkehr der Beweislast. Jedenfalls sei nicht der Beweismaßstab des Vollbeweises zu verlangen. Er könne sich auf die Beweiserleichterung des § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) berufen. Über den eigentlichen Vorfall im Mai 1945 gebe es bekanntlich keine Unterlagen. Es gebe aber (inzwischen) Angaben von Augenzeugen und das Gutachten des Sachverständigen G. Im Übrigen sei klar, dass es sich bei der Flasche um einen Glasmunitionskörper gehandelt habe und dass er durch die militärisch verwendete Flasche verletzt worden sei. Die Aussagen der gehörten Zeugen seien glaubhaft. Damals hätten die näheren Umstände des Zersplitterns der Flasche für die erst sechs bzw. acht Jahre alten Zeugen zunächst keine Bedeutung gehabt. Zudem sei die erste schriftliche Einlassung des Zeugen N D auch erst etwa sieben Jahre nach dem fraglichen Vorfall erfolgt. Im Übrigen komme es nicht darauf an, ob beim Zersplittern der Flasche eine Nebelbildung erfolgt sei. Wenn es sich bei der Flasche um eine Kriegswaffe gehandelt habe, liege eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des BVG vor.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 24.06.2009 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 19.08.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.11.2008 zu verurteilen, den Bescheid vom 11.08.1953 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.1953 und die Bescheide vom 14.02.1975 und 11.02.2005, diese in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.03.2005, abzuändern, bei ihm den Verlust des rechten Auges als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz anzuerkennen und ihm wegen dieser Schädigungsfolge eine Grundrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von 30 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Auch und gerade vor dem Hintergrund der Zeugenaussagen könne es keinesfalls als bewiesen angesehen werden, dass es seinerzeit zu einer Explosion und Rauchbildung gekommen sei. Auch unter Zugrundelegung der Angaben des Klägers und der Zeugen habe nicht geklärt werden können, um was für eine Flüssigkeit bzw. um was für eine Flasche es sich gehandelt habe. Die Konstruktion der Beweislastumkehr sei nicht haltbar. Ein vorwerfbares Verhalten mit einer Tendenz zur Beweisvereitelung liege nicht vor. Der ehemalige Polizist der Gemeinde P habe lediglich bestätigt, dass es sich um eine Glasflasche gehandelt habe.

Der Senat hat Auskünfte des BW-Museums sowie des Wehrwissenschaftlichen Instituts für Schutztechnologien - ABC-Schutz eingeholt. Auf die Auskünfte vom 10.06.2010, 10.11.2010, 16.08.2011und 15.11.2011 wird Bezug genommen.

Des Weiteren hat er Beweis erhoben über die näheren Umstände der Verletzung des Klägers durch Vernehmung der Zeugen N D und I1 W. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 13.05.2011 verwiesen.

Der Senat hat schließlich Beweis darüber erhoben, ob es sich nach den Beschreibungen der Flasche und der Umstände um das Zerbersten der Flasche durch den Kläger und die Zeugen um einen Munitionskörper gehandelt haben kann durch Einholung eines schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen G, Wissenschaftlicher Oberrat beim BW-Museum in Dresden. Auf dessen Gutachten vom 15.09.2011 wird Bezug genommen. Ergänzend hat der Senat den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung am 24.09.2012 angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Prozessakten SG Köln S 14 SB 25/99 und SG Köln S 13 V1131/05 sowie der Verwaltungsakten Bezug genommen; diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Richtiger Klagegegner ist seit dem 01.01.2008 der örtlich zuständige Landschaftsverband Rheinland (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung im Bereich des sozialen Entschädigungsrechts: Urteile des BSG vom 11.12.2008, R 9 VS 1/08 juris Rn 21 ff - zum Soldatenversorgungsgesetz - und B 9 V 3/07 R, juris Rn 22 f - zum BVG -, vom 23.04.2009, B 9 VG 1/08 R, juris Rn 24 - zum Opferentschädigungsgesetz -, mit denen die ständige Rechtsprechung des 6. Senats dieses Hauses bestätigt wurde; ständige Rechtsprechung jetzt auch des erkennenden Senates seit Urteil vom 11.03.2009, L 10 (7) VG 42/06, juris Rn 17, aA Vorlagebeschluss vom 03.09.2008, L 10 VG 20/03, Az.: BVerfG 1 BvL 20/08, noch nicht entschieden).

Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig. Die Beklagte hat sich rechtsfehlerfrei auf die Bindungswirkung der bestandskräftigen Ablehnungsbescheide vom 11.08.1953, 04.12.1953, 14.02.1975, 11.02.2005 und 22.03.2005 berufen. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Vorschrift durchbricht die materielle Bestandskraft (Bindungswirkung, vgl. § 77 SGG). Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (BSG, Urteil vom 09.02.1998, B 9 V 16/96 R, juris Rn 16, Steinwedel in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, § 44 SGB X Rdnr. 2). Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSG Urteil vom 28.01.1981, 9 RV 29/80 Juris Rn 16 ff, Steinwedel, aaO § 44 Rdnr. 7).

Auch unter Berücksichtigung des heutigen Vorbringens des Klägers, der Bekundungen der Zeugen W und D, der gutachterlichen Darlegungen des Sachverständigen G und dessen Erläuterungen seines Gutachtens in der mündlichen Verhandlung ist nicht ersichtlich, dass der Rechtsvorgänger der Beklagten im Jahr 1953 und später in den Jahren 1975 und 2005 das Recht unrichtig angewandt und Entschädigungsansprüche des Klägers zu Unrecht abgelehnt hat. Der Rechtsvorgänger des Beklagten und nach ihm das SG und das LSG haben seinerzeit den Sachverhalt zutreffend beurteilt und auch die im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Beweislastregeln beachtet. Es liegen keine neuen Erkenntnisse vor, die eine andere Beurteilung rechtfertigen. Nach §§ 1 Abs 1 iVm Abs 2 Buchst a, 5 Abs 1 Buchst e BVB erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung auf Antrag Versorgung, wer eine solche durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung erlitten hat. Als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchst a BVG gelten auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Dazu gehört auch, wenn kurz nach Ende kriegerischer Auseinandersetzungen in einem abgestellten Militärfahrzeug ungeschützt und dem Zugriff jedermanns zugänglich Munitionskörper herumliegen und sich die weiterbestehende kriegseigentümliche Gefährlichkeit durch eine Explosion verwirklicht. Zum Zeitpunkt der Explosion muss aber die typische Gefahr als solche weiterhin bestehen (BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R in juris Rn 30 mwN). Auch aus heutiger Sicht ist der Senat nicht davon überzeugt und hält es auch nicht für wahrscheinlich, dass die grüne Flasche, die die Zeugen W und D im Fußraum des abgestellten Militärfahrzeugs gefunden und (einer von ihnen) gegen die Wand geworfen hat, einen gefährlichen Inhalt hatte. Es bestehen insofern erhebliche Zweifel, ob sich bei dem Zerbersten der Flasche eine kriegseigentümliche Gefährlichkeit verwirklicht hat. Der Senat hält es nicht für glaubhaft, erst recht nicht für nachgewiesen, eher für unwahrscheinlich, dass die Flasche bei dem Aufprall explodiert oder zumindest bedingt durch einen gefährlichen Inhalt einem gesteigerten Druck ausgesetzt war, der als ursächlich für das Unfallgeschehen angesehen werden kann. Darüber hinaus liegen die Voraussetzungen der Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG nicht vor. Nach dieser Vorschrift sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers verlorengegangen sind, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Der damals drei Jahre alte Kläger selbst erinnert sich nach eigenen Angaben nicht mehr an das Unfallgeschehen. Es sind auch keine Beweisunterlagen verloren gegangen. Vielmehr sind Augenzeugen bekannt und auch vom Senat gehört worden. Nach dem Ergebnis der im Klage- und Berufungsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme ist im offen geblieben, ob sich beim Zerbersten der Flasche eine kriegseigentümliche Gefahr verwirklicht hat. Der Senat geht mit dem Kläger davon aus, dass mehrere grüne Glasflaschen offen im Fußraum des abgestellten Militärfahrzeuges lagen und hier von einem der Zeugen gefunden worden sind. Dies hat der Bruder des Klägers, der Zeuge I D bei seinen Vernehmungen vor dem SG und vor dem Senat bekundet. Demgegenüber hat sich der Zeuge W bei der Vernehmung vor dem SG nicht mehr daran erinnert, ob die Flaschen im Wagen oder irgendwo daneben gelegen haben. Bei der Vernehmung vor dem Senat konnte er sich nicht einmal mehr daran erinnern, ob es damals im Militärfahrzeug überhaupt Flaschen gegeben habe und ob eine Flasche zerplatzt war. Er konnte nur bezeugen, dass irgendetwas laut geknallt und sich der Kläger dann das Auge gehalten habe. Vor dem SG hat sich der Zeuge W an einen Inhalt der Flasche nicht erinnert. Der Zeuge N D hat die Flasche detailliert beschrieben. Es habe sich um eine grüne 30 cm hohe, bauchige Flasche gehandelt, die mit weißlicher Flüssigkeit gefüllt gewesen sei. Eine Zündkette habe es nicht gegeben. Dass sich eine milchig weiße Flüssigkeit in der dann geworfenen Flasche befunden hat, ist allerdings von Anfang an vom Vater des Klägers und von dem Zeugen N D bei dessen Vernehmung in Klageverfahren geschildert worden. Er hatte dies auch schon am 15.07.1953 erstmals bestätigt, wenngleich er bei seiner Vernehmung vor dem Senat erklärt hat, diese Bestätigung vom 15.07.1953 überhaupt nicht geschrieben oder unterschrieben zu haben. Der Senat geht davon aus, dass dem damals 17 jährigen Zeugen eine vorgefasste Bestätigung zur Unterschrift vorgelegt worden war, denn eine gewisse Ähnlichkeit der Unterschrift mit derjenigen im Lehrvertrag aus dem Jahr 1958 besteht durchaus. Da der damals dreijährige Kläger selbst keine Erinnerungen mehr an das Unfallgeschehen hat, der Vater bei dem Unfall aber nicht anwesend war und der Zeuge D die Bestätigung vom 15.07.1953 selbst nicht geschrieben haben will, ist die Behauptung, in der Flasche habe sich ein weißlicher flüssiger Inhalt befunden, durchaus mit Zweifeln behaftet. Nach den weiteren Bekundungen des Zeugen N D hatte es nach dem Aufprall der Flasche gegen die Wand oder den Boden Glassplitter und Nebel, auch Dampf, langsam aufsteigend bis in ca. zwei Meter Höhe und zudem einen Explosionsknall unklarer Lautstärke gegeben. Auch der Zeuge W hat vor dem SG weiße Rauchbildung beschrieben, vor dem Senat hat er "von einem bisschen Nebel wie in einer Waschküche" gesprochen. Der Senat kann die Beschreibungen des Unfallgeschehens nicht einem festen Bild zuordnen. Es bestehen Widersprüche in dem verschiedentlich Gesagten, der Zeitabstand von jetzt mehr als 65 Jahren ist erheblich und es steht letztlich auch nicht fest, wer denn die Flasche tatsächlich geworfen hat. Der Vater des Klägers, wie auch der Zeuge N D in seiner ersten Bestätigung und auch bei den späteren Vernehmungen haben erklärt, der Zeuge W habe die Flasche geworfen. Der Zeuge W hat dies so nicht bestätigt. Der Senat hat Zweifel, ob der damals neunjährige Zeuge N D die detaillierten Beobachtungen tatsächlich so wie geschildert wahrgenommen hat, denn diese sind weder in seiner Bestätigung im Juni 1953 und auch zu keiner Zeit vor dem im Jahr 2008 begonnenen vierten Antragsverfahren auch nur ansatzweise zur Sprache gekommen. Der Senat teilt die Bedenken des SG, dass die Erinnerungen des Zeugen - auch unbewusst - durch die wiederholten und jahrelangen Diskussionen um das damalige Geschehen und den möglichen Versorgungsanspruch, möglicherweise auch durch den Kläger, und durch die theoretischen Möglichkeiten über in Frage kommende Munitionskörper in dem Gutachten des Sachverständigen G beeinflusst wurden und nicht mehr dem tatsächlichen Geschehen entsprechen. Es liegt nahe, dass sich der Gegenstand der vermutlich vorgefertigten Erklärung aus dem Juli 1953 und die auch sicherlich immer wieder zur Sprache gebrachten Umstände insbesondere auch nach den Stellungnahmen des BW-Museums vom 15.01.2008 entwickelt und verselbständigt haben. Erstmals wurden in der Stellungnahme des Sachverständigen G vom 15.01.2008 Vernebelungen erwähnt. Vorher war von mehr als einem Zersplittern der Flasche nicht die Rede. Die Bekundungen der Zeugen weisen auch im Übrigen Widersprüche auf. So hat der Zeuge D bei der Vernehmung vor dem Senat beschrieben, er könne sich daran erinnern, dass der Kläger damals von amerikanischen Soldaten in ein Krankenhaus gebracht worden sei. Nach den zeitnäheren Angaben im Verwaltungsverfahren anlässlich des Erstantrages von 1952 wurde der Kläger jedoch nicht von Soldaten der Alliierten, sondern von Angehörigen ins Krankenhaus gebracht. Auch der Zeuge W hat bekundet, sie seien unmittelbar zu der Mutter des Klägers gegangen. Zu bedenken ist auch, dass beide Zeugen auch ein gewisses Interesse am Ausgang des Verfahrens haben. Nach den Erstangaben im Jahr 1953 haben beide Zeugen beim Spielen eine Flasche geworfen und insoweit auch ein gewisses Wiedergutmachungsinteresse. Selbst wenn man die Bekundungen der Zeugen als zutreffend unterstellt, kann es sich um keinen bekannten Munitions- oder Blendkörper aus den Beständen der deutschen Wehrmacht gehandelt haben. Dies folgt aus dem Gutachten des Sachverständigen G vom 12.05.2012 und dessen Erläuterungen hierzu. Hiernach besteht die größte Übereinstimmung der beschriebenen Flasche zu heute bekannten Munitions-und Blendkörpern der deutschen Wehrmacht zum Ende des zweiten Weltkrieges mit einer sogenannten Flascheneismiene. Diese wurde 1943 eingeführt und hatte den Zweck, in gefrorene Gewässer eingebracht zu werden, um durch Aufreißen der Eisdecke Eisspalthindernisse zu schaffen. Diese Flascheneismine war etwa 27 cm lang und mit einem hellen bzw. weißen bis rosa Inhalt gefüllt und hatte demnach Ähnlichkeit mit der im Militärfahrzeug gefundenen und von den Zeugen beschriebenen Flasche. Die weiteren Erläuterungen des Sachverständigen verdeutlichen jedoch, dass es sich bei dem Glaskörper aus dem Militärfahrzeug nicht um eine solche Flascheneismine gehandelt haben kann. Ihr Inhalt ist gelantineartig und nicht flüssig. Es hätte sich nach dem Zerbersten der Flasche eine mehr oder weniger klebrige, mit Glassplittern durchsetzten Masse abbilden müssen. Keiner der Zeugen, insbesondere nicht der Zeuge N D, hat dies beschrieben. Zudem hätte die Eismine, wenn sie ungezündet zersplittert wäre, keinen Dampf entwickelt, wie er von den Zeugen als besonderes Kennzeichen in ihren Aussagen hervorgehoben wurde und es hätte auch keinen Explosionsknall gegeben. Hätte die Eismine bestimmungsgemäß gezündet, dann hätte es keine Überlebenden im Umfeld des Militärfahrzeugs gegeben. Um eine Eismine kann es sich danach nicht gehandelt haben. Nach dem Gutachten und den Erläuterungen des Sachverständigen G hat es sich bei der fraglichen Flasche auch nicht um einen der diskutierten Blendkörper mit der Bezeichnung BK 1 H bzw. um einen solchen mit der Bezeichnung BK 2 H, eine Brandflasche, eine Brandhandgranate oder eine Glashandgranate gehandelt. Diese Blendkörper kommen bereits aufgrund der Flaschengröße nicht in Betracht. Zudem wären die Blendkörper anders vernebelt. Sie entwickelten beim Auftreffen einen Nebelballon und hinterließen eine haftende, nachnebelnde Masse, welche lediglich 10 bis 20 Sekunden anhielt und eine deutliche Sicht- und spürbare Blend- und Reizwirkung (letztere auch über Spritzer auf der Haut) verursachte. Mit dem von den Zeugen beschriebenen weißen, zwei Meter hohen Nebel bzw. Dampf ist die Exposition der Blendkörper nicht vergleichbar. Um eine Brandflasche, eine Brandhandgranate oder eine Glashandgranate kann es sich auch deshalb nicht gehandelt haben, weil diese keine weißen, sondern entweder gelbliche bis dunkelbraune, schmutzig schwarze oder rosa bis gelblich-orange Flüssigkeiten enthielten. Der Sachverständige hat diese, ebenso wie die Blendkörper, gar nicht als in Betracht kommend in Erwägung gezogen.

Es bleibt offen, was sich im Mai 1945 in P genau zugetragen hat. Im Hinblick auf die zeitnahem Äußerungen 1953 spricht nach Ansicht des Senats einiges dafür, dass eine herkömmliche ungefährliche Flasche mit einer weißen Flüssigkeit durch den Aufprall zersprungen und der Kläger von einem der Splitter verletzt worden ist.

Auch die nach dem Grundsatz des ersten Anscheins naheliegende Vermutung, es könne sich bei der zurückgelassenen Flasche in einem Militärfahrzeug nur um einen Munitionskörper gehandelt haben, hilft dem Kläger nicht. Eine solche Schlussfolgerung entspricht nicht einer Lebenserfahrung, weil es sich bei dem Zurücklassen eines Munitionskörpers nicht um einen typischen, erfahrungsgemäß gleichmäßig ablaufenden und vom menschlichen Willen unabhängigen, gleichsam mechanischen Hergang handelt (BSG, Urteil vom 30.1.2006, B 9 a VS 1/05 Rn 20 mwN).

Fehl geht der Hinweis des Klägers, vorliegend seien die Grundsätze der Beweislastumkehr anzuwenden, weil der Rechtsvorgänger des Beklagten, das damalige Versorgungsamt L, seine Ermittlungspflichten verletzt habe. Eine Nichterweislichkeit eines bestimmten Unfallgeschehens, die auf mangelhaften, vom Kläger nicht zu beeinflussenden Ermittlungen beruht, liegt nicht vor und würde auch keine Entscheidung zu Gunsten des Klägers im Wege der Beweislastumkehr rechtfertigen. Dabei ist von dem sozialrechtlichen Grundsatz auszugehen, dass bei einem Beweisnotstand allenfalls dann, wenn er auf einer schuldhaft unterlassenen bzw unvollkommenen Beweiserhebung oder sogar auf einer Beweisvereitelung durch denjenigen beruht, dem die Unerweislichkeit der Tatsachen zum prozessualen Vorteil gereicht, eine Umkehr der Beweislast eintritt (BSG, Urteil vom 30.1.2006, B 9 a VS 1/05 Rn 22 mwN). Von einer derartigen Fallgestaltung kann hier nicht die Rede sein. Der Vater des Klägers hat zunächst über sieben Jahre gewartet, bis er sich an das Versorgungsamt L gewandt hat. Er hat weder bei dem Erstantrag im Jahr 1952 gegenüber dem Versorgungsamt, noch nach der Bestätigung des Polizisten C bei der Anzeige im Mai 1945 erwähnt, die Flasche sei irgendwie explodiert und habe mit einem Knall eine Dunstwolke oder Nebel freigesetzt. Dies ist auch in den späteren Anträgen 1997 und 2005 nicht angesprochen worden. Es bestand insoweit für den Beklagten bzw dessen Rechtsvorgänger keine Veranlassung, Ermittlungen hinsichtlich der Herkunft, der Art und des möglichen Inhalts der Flasche zu tätigen. Die Nichterweislichkeit des tatsächlichen Geschehens am 09.05.2945 geht zu Lasten des Klägers. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nr 1 oder 2 SGG) sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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