S 10 KR 149/09

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 149/09
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1.) Soweit zu einer seltenen Erkrankung keine durch klinische Studien verwertbare Datenlage vorliegt, kann zur Prüfung eines "off-label-use" auf die individuelle Datenlage zurückgegriffen werden.

2.) Eine seltene Erkrankung liegt vor, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Personen daran erkranken.

3.) Die Lungenfibrose ist eine solche seltene Erkrankung.

4.) Im Wege eines "off-label-use" ist die Behandlung der Lungenfibrose mit dem Wirkstoff Acetylcystein (Acc) von der Leistungspflicht der beklagten Krankenkasse umfasst.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.01.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 verurteilt, dem Kläger ab Antragsstellung die Kosten für das Medikament ACC Long zu erstatten.

II. Die Beklagte trägt die notwendig entstandenen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für das Medikament ACC Long.

Unter dem 10.07.2008 rezeptierte Frau G., Fachärztin für Innere Medizin/Pneumologie, für den am 00.00.1938 geborenen Kläger das Medikament ACC Long.

Unter dem 10.10.2008 verwies Frau G. in einem Schreiben an die Beklagte zur Kosten-übernahme darauf, der Kläger leide an einer Lungenfibrose. Diese Erkrankung beeinträchtige die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig, sei lebensbedrohlich und verlaufe regelmäßig tödlich.

Der Medizinische der Krankenversicherung (MDK) verwies in seiner Stellungnahme vom 10.12.2008 darauf, dass eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung vorliege, dass der Kläger als "austhe-rapiert" anzusehen sei und dass die Krankheit insgesamt eine schlechte Prognose habe. Beim Kläger bestehe das Krankheitsbild seit 1999. Jedoch sei die beantragte medikamentöse Behandlung nicht medizinischer Standard. Das Medikament sei für die Diagnose Lungenfibrose nicht zugelassen. Es handele sich um eine seltene Erkrankung (27 Fälle auf 100.000 Einwohner). Die IFIGENIA-Studie habe sich mit der Fragestellung der Wirksamkeit des Medikaments ACC Long bei der Lungenfibrose befasst. Bei dieser Studie habe es sich um eine multizentrische, randomisierte, placebokontrollierte und doppelblind geführte Studie gehandelt. Die Diffusionskapazität der Lunge und die Vitalkapazität verschlechterten sich signifikant geringer unter Gabe von ACC Long als unter der Scheinmedikation (Placebo). Die klinische Bedeutung dieser signifikant positiven Ergebnisse seien jedoch von verschiedenen Autoren in Frage gestellt worden. Aus Sicht des MDK seien weitere Studien notwendig, um Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit Lungenfibrose zu finden und den unkritischen Gebrauch von ACC mit unbekannten Risiken besonders auf die Langzeitanwendung zu vermeiden.

Daraufhin lehnte die Beklagte mit streitigem Bescheid vom 07.01.2009 den Antrag auf Kostenübernahme ab. Das Medikament sei für die Behandlung der Lungenfibrose nicht zugelassen. Der Einsatz eines Arzneimittels außerhalb seiner Zulassung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sei nur dann gegeben, wenn eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung vorliegt, bei der keine andere Therapie verfügbar ist, und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

Letzteres bedeute, dass entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt sei und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung Phase III veröffentlicht seien oder dass über die Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorliegen, aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über den Nutzen des Medikamentes besteht. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt.

In seinem Widerspruch vom 15.01.2009 verwies der Kläger auf die positiven Ergebnisse der IFIGENIA-Studie.

Mit Widerspruchsbescheid vom 26.02.2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Über die Begründung im Bescheid vom 07.01.2009 hinaus verwies die Beklagte darauf, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 06.12.2005, Az.: 1 BvR 347/98) es mit den Grundrechten nicht vereinbar sei, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende medizinische Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztliche angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Ein entsprechender Sachverhalt liege hier jedoch nicht vor.

Mit Klage vom 13.03.2009 verwies der Kläger zunächst darauf, dass er seit 1999 an einer Lungenfibrose leide.

Mit Schriftsatz vom 02.09.2009 verwies die Beklagte darauf, dass neben der IFIGENIA-Studie keine weiteren Studien bekannt seien, die den Einsatz von N-Acetylcystein bei Lungenfibrose infolge fibrosierender Alveolitis zum Gegenstand haben.

Im Befundbericht vom 20.11.2009 verweist Frau G. darauf, dass unter der Behandlung mit ACC die Erkrankung zumindest nicht fortschreitet.

Mit Schreiben vom 16.04.2010 verweist der Kläger auf den Entlassungsbericht vom 22.01.2010 an Frau G. des Fachkrankenhauses C., Akademisches Lehrkrankenhaus der Technischen Universität D., Zentrum für Pneumologie, Allergologie, Beatmungsmedizin, Thorax- und Gefäßchirurgie. Dort wird als Entlassungsmedikation u. a. der Wirkstoff Ace-tylcystein 600 mg (z. B. ACC) genannt. Entsprechende Ausführungen sind auch im ärztlichen Kurzbericht vom 01.04.2010 des Fachkrankenhauses C. enthalten.

In der mündlichen Verhandlung am 23.02.2011 verwies der Kläger darauf, dass er das Medikament ACC Long seit etwa 2 Jahren nehme. Seitdem habe sich die Notwendigkeit der Behandlung mit Cortison stark verringert. Auch die Menge anderer Medikamente habe durch das ACC Long stark vermindert werden können. Der Vorsitzende führte aus, dass seines Erachtens Frau G. als Fachärztin für Pneumologie im Sinne der Rechtsprechung des BSG ebenso zu den einschlägigen Fachkreisen gehöre wie z. B. eine Fachklinik für Pneumologie.

In der mündlichen Verhandlung am 02.08.2012 führt der Vorsitzende aus, dass die Lungenfibrose, an der der Kläger leidet, bei Männern bei etwa 30 von 100.000 auftritt, bei Frauen bei 15 von 100.000. Bei einer Häufigkeit von etwa 0,02 % liege ein Seltenheitsfall vor.

Der Kläger beantragt:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.01.2009 und des Widerspruchsbescheides vom 26.02.2009 verurteilt, mir die Kosten für das Medikament ACC Long ab Antragstellung zu erstatten.

2. Die Beklagte trägt meine außergerichtlichen Kosten.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese, Prozessakte sowie die Niederschriften der mündlichen Verhandlung wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Das Gericht ordnet die Erkrankung des Klägers als Seltenheitsfall ein.

Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V umfasst die Krankenbehandlung auch die Versorgung mit Arzneimitteln.

Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (§ 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V).

Im vorliegenden Fall resultiert der Kostenerstattungsanspruch des Klägers aus der letztgenannten Vorschrift, denn die Beklagte hat die Versorgung mit dem Arzneimittel ACC Long zu Unrecht abgelehnt.

Grundsätzlich sind die Krankenkassen nicht leistungspflichtig, wenn ein Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes eingesetzt werden soll.

Ausnahmsweise kann die Leistungspflicht der Krankenkassen bei einem "Off-Label-Use" (Anwendung eines Arzneimittels außerhalb des Anwendungsgebietes, für das das Arzneimittel zugelassen ist) gegeben sein.

Zum Off-Label-Use macht das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 08.11.2011, Az.: B 1 KR 19/10 R, in den Rdnrn. 16 und 17 die folgenden grundsätzlichen Ausführungen:

"Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Prä-parat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl zB BSGE 97, 112= SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, RdNr 17 f - Ilomedin). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN - Wobe-Mugos E; im Falle des System-versagens s BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN - Neuropsychologische Thera-pie).

Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann nur angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht sind. Soweit man aus der früheren Rspr des Senats (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 36) ein unterschiedliches Schutzniveau vor und während laufender Zulassungsverfahren ableiten kann, gibt der Senat diese Rspr klarstellend auf. Außerhalb und während eines Zulassungsverfahrens muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich entsprechen. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrunde liegt und in das Leistungsrecht der GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht (vgl BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 24 - Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 6 SozR 4-2500 § 31 Nr 6 RdNr 16 - restless legs/Cabaseril; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 15 RdNr 34 ADHS/Methylphenidat). Dies bedeutet, dass der während und außerhalb eines Zulassungsverfahrens zu erbringende wissenschaftliche Nachweis durch Studien erbracht werden muss, die die an eine Phase III-Studie zu stellenden qualitativen Anforderungen erfüllen."

Es gibt jedoch Erkrankungen, die einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nicht zugänglich sind. Das Bundessozialgericht verweist dazu in seiner Entscheidung vom 19.10.2004, Az.: B 1 KR 27/02 R, unter Rdnr. 32 auf Artikel 3 Abs. 1 EWG-Verordnung 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Danach liegt ein solches Leiden vor, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Personen daran erkranken.

Nach dieser Definition leidet der Kläger an einer seltenen Krankheit, denn es erkranken nach den Berechnungen des Gerichts lediglich etwa 2 von 10.000 Personen an diesem Leiden, also 0,02 %.

Auch der MDK kommt in seiner Einschätzung vom 10.12.2008 zu der Einordnung der Erkrankung des Klägers als einer seltenen Erkrankung.

Bei einer seltenen Erkrankung kann für die Prüfung der Datenlage beim Off-Label-Use nicht auf die Ergebnisse von kontrollierten klinischen Studien oder Erkenntnissen von gleicher Qualität abgestellt werden, denn solche Informationen sind bei einer seltenen Erkrankung typischerweise nicht vorhanden.

Abzustellen ist damit nach Ansicht des Gerichts auf die Datenlage im konkreten Einzelfall.

Im vorliegenden Fall orientiert sich das Gericht an den lungenfachärztlichen Einschätzungen. Frau G., Fachärztin für Innere Medizin/Pneumologie, hat das streitige Medikament ACC Long unter dem 10.07.2008 rezeptiert.

Das Fachkrankenhaus C., Zentrum für Pneumologie, Allergologie, Beatmungsmedizin, Thorax- und Gefäßchirurgie, bestätigt in den Berichten vom 22.01.2010 und vom 01.04.2010 die Medikation mit dem Wirkstoff Acetylcystein (z. B. ACC).

Frau G. bestätigt im Befundbericht vom 20.11.2009, dass die Krankheit unter Therapie mit ACC zumindest nicht fortschreitet.

Nachdem der MDK in seiner Einschätzung vom 10.12.2008 der Krankheit des Klägers eine schlechte Prognose gibt, liegt nach Ansicht des Gerichts bereits in der Stagnation der Erkrankung des Klägers unter dem Medikament ACC ein Behandlungserfolg. Damit liegen nach Ansicht des Gerichts die Voraussetzungen für einen "Off-label-use" des Medikaments ACC zur Behandlung der Lungenfibrose des Klägers vor.

Der Klage war daher wie tenoriert stattzugeben. Zur Klarstellung des Tenors verweist das Gericht darauf, dass der Kläger in seiner Klageschrift vom 11.03.2009 den streitigen Zeitraum auf den Zeitraum ab Februar 2009 beschränkt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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