L 9 U 3724/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 13 U 2874/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3724/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. Juli 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) streitig.

Der 1952 geborene Kläger war von 1977 bis 2008 als Gas- und Wasserinstallateur bei der Firma H. in N. beschäftigt. Mit Schreiben vom 14.10.2009 teilte er der Beklagten mit, dass er seine erheblichen Einschränkungen des Hörvermögens und des bei ihm seit 2004 vorliegenden Tinnitus auf berufliche Einwirkungen zurückführe.

Im Bericht des Präventionsdienstes der Beklagten vom 18.12.2000 wurde im Beschäftigungszeitraum von einem Lärmexpositionspegel von 88 dB(A) und einem Risikomaß nach "von Lübke" von 3,6 ausgegangen. Die Beklagte zog einen Befundbericht des HNO-Arztes Dr. B. bei, der den Kläger am 08.03.2006 untersucht hatte, sowie die Untersuchungsberichte des Arbeitsmedizinischen Dienstes (Berichte vom 14.02.1991, 19.11.1997 und 20.02.2006). Darüber hinaus gab sie ein Gutachten bei dem HNO-Arzt N. in R. in Auftrag. Der Sachverständige stellte eine geringgradige Schwerhörigkeit fest, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 15 v.H. bedinge. Insgesamt spräche der Verlauf der Hörkurve, aber auch die Anamnese gegen das Vorliegen einer lärmbedingten Schwerhörigkeit. Die Ursache der Hörstörung werde als überwiegend schicksalshaft eingeschätzt.

Nach Anhörung des Staatlichen Gewerbearztes lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 und Ansprüche auf Leistungen mit Bescheid vom 06.05.2010 ab. Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte der Kläger geltend, dass Lärmschwerhörigkeit und Tinnitus berufsbedingt seien. Ihm vorliegende Unterlagen vom 14.02.1991 und 19.11.1997 zeigten eindeutig eine beginnende Lärmschwerhörigkeit. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.07.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Sie nahm zur Begründung Bezug auf das Gutachten des von ihr beauftragten Sachverständigen.

Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 17.08.2010, welches von der Beklagten am 31.08.2010 beim SG vorgelegt worden war, Klage erhoben.

Er hat zur Begründung geltend gemacht, dass das Gutachten von Dr. N. eine MdE um 15 % ausweise. Diese MdE sei nicht durch externe Einflüsse entstanden, sondern sei ausschließlich berufsbedingt. Er hat Tonaudiogramme vom 14.02.1991 und 19.11.1997 sowie den in den Akten bereits vorliegenden Befundbericht von Dr. Bergbreiter vom 15.03.2006 vorgelegt.

Das SG hat zunächst Beweis erhoben durch das Einholen einer sachverständigen Zeugenaussage bei Dr. B. Er hat unter dem 30.12.2010 angegeben, den Kläger einmalig am 08.03.2006 behandelt zu haben. Es bestehe eine Innenohrschwerhörigkeit beidseits, ein Lärmschaden könne nicht ausgeschlossen werden.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG daraufhin Dr. B., N., mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Er stellte eine pancochleäre Innenohrschwerhörigkeit beidseits in einem mittelgradigen Ausmaß sowie einen Tinnitus aurium beidseits fest. Ein betriebsärztlich erstelltes Audiogramm von 1991 zeige ein nahezu normales Hörvermögen, 1997 habe sich eine beidseitige Hörminderung im unteren und mittleren Frequenzbereich bei ca. 30 bzw. 40 dB links und ein Hochtonabfall beidseits auf 50 bzw. 55 dB links gezeigt. Es sei zu einer deutlichen Zunahme in den Jahren 1991 bis 1997 gekommen. Die Hörminderung habe sich bis zum ersten Gutachten bzw. ersten Audiogramm bei Dr. B. verschlechtert und sich seither nicht wesentlich verändert. Eine lärmbedingte Hörminderung sei gegeben und wahrscheinlich. Laut herrschender medizinischer wissenschaftlicher Lehrmeinung sei eine pancochleäre Hörstörung (eine im gesamten Frequenzbereich betreffende Hörstörung) durch eine Lärmeinwirkung im entsprechenden Arbeitsbereich des Klägers nicht typisch. Dies ergebe die schwierige Situation, dass die gesamte Frequenzbreite bei ca. 50 dB liege. Es gelte die Kausalität eines Zusammenhangs der Hörminderung und der Lärmeinwirkung zu diskutieren. Für einen Zusammenhang spräche, dass die Hörstörung sich während der Lärmexposition entwickelt habe. Gegen einen kausalen Zusammenhang spreche, dass keine reine Hochtonschwerhörigkeit entstanden sei. Der Nachweis eines sogenannten positiven Rekruitments sei wahrscheinlich gemacht, sodass die Hörstörung in den Zellen des Innenohres lokalisiert sei. Die Differenzierung einer lärmbedingten Hochtonschwerhörigkeit und einer schicksalshaft bedingten pancochleären Schwerhörigkeit sei schwierig. Weil aber eine Kausalität mit Lärmexposition über eine entsprechend lange Zeit nachweislich vorhanden sei, sprächen die Hochtonanteile für eine lärmbedingte Entstehung. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch lärmbedingte Schädigung belaufe sich auf 10 v.H. Weil der Kläger seit dem Jahre 2006 nicht mehr stark lärmexponiert gewesen sei, könne sich seitdem auch keine Verschlechterung durch Lärm eingestellt haben.

Die Beklagte hat hierauf unter Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme von Prof. Dr. J., Ulm, erwidert. Prof. Dr. J. wies u.a. darauf hin, dass Ansätze für eine sogenannte c5-Senke in den ersten Audiogrammen nicht zu erkennen seien. Die Schwerhörigkeit des Klägers beträfe alle Bereiche der Innenohre. Er handele sich um eine sogenannte pancochleäre (alle Frequenzen im gleichen Maße betreffende) Schwerhörigkeit. Es sei nicht nur wahrscheinlich, sondern zweifelsfrei sicher, dass nicht Lärm, sondern eine berufslärmfremde Bedingung die Schwerhörigkeit verursacht habe. Die Argumentation von Dr. Baumann, dass eine aufgrund der Lärmarbeit vermutlich entstandene aber in einer pancochleären Hörminderung sich versteckende Hochtonschwerhörigkeit abzugrenzen sei, sei seit der Gültigkeit des König-steiner Merkblattes in seiner vierten, überarbeiteten Fassung von 1996 nicht mehr statthaft. Darüber hinaus gebe es keine begründeten Anzeichen für einen Lärmanteil an der Schwerhörigkeit.

Mit Urteil vom 26.07.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass zwar eine berufliche Lärmbelastung nachgewiesen sei, die eine Lärmschwerhörigkeit verursachen könne und der Kläger auch an einer Schwerhörigkeit leide. Die Anerkennung scheitere jedoch daran, dass die bestehende Schwerhörigkeit nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Lärmbelastung zurückgeführt werden könne. Insoweit hat es auf die sozialmedizinischen Beurteilungskriterien, wie sie bei der Berufskrankheit Nr. 2301 insbesondere durch das Königsteiner Merkblatt (4. Aufl.) konkretisiert würden, verwiesen. Die Hörkurven, die beim Kläger gemessen worden seien, wichen von dem typischen Verlauf einer Hörkurve bei lärmbedingter Schwerhörigkeit erheblich ab. Etwas anderes ergebe sich auch nicht, wenn man davon ausginge, dass sich in der pancochleären Hörminderung eine Hochtonschwerhörigkeit "versteckt" habe. Denn nach dem Königsteiner Merkblatt müssten zwar Anteile der Schwerhörigkeit, die mit Sicherheit nicht durch Lärm verursacht sein könnten, bei der Einschätzung des Schweregrades der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit abgegrenzt und außer Betracht gelassen werden. Sei eine solche Abgrenzung aber nicht sicher möglich, so müsste nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung entschieden werden, ob die Lärmeinwirkung oder welcher andere Faktor die wesentliche Bedingung für die Entstehung der Schwerhörigkeit gewesen sei. Die alle Frequenzen betreffende Schwerhörigkeit des Klägers könne damit nicht auf berufliche Lärmeinwirkung, sondern auf eine bestehende degenerative Erkrankung als rechtlich wesentliche Ursache zurückzuführen sein. Die Differenzierung, welche Dr. Baumann vornehme, sei nach den genannten Grundsätzen nicht zulässig.

Gegen das ihm am 02.08.2012 zugestellte Urteil hat der Kläger am 29.08.2012 Berufung eingelegt.

Er macht geltend, dass bei einem Vergleich seiner Tätigkeiten mit gleichartigen anderen Arbeitsplätzen von einer Belastung ) 90 dB(A) auszugehen sei. Die Gutachter seien somit von zu niedrigen Expositionswerten ausgegangen. Darüber hinaus hätten der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht und der untersuchende arbeitsmedizinische Dienst seine Pflichten nicht erfüllt. Außerdem erhebt er Einwendungen gegen das Gutachten von Dr. N. und weist darauf hin, dass Dr. Baumann trotz der entgegenstehenden Empfehlungen zwischen Schicksal und Hochtonschwerhörigkeit differenziere und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass eine MdE um 10 v.H. vorliege. Ferner wies er darauf hin, dass er im privaten Bereich nie einer Lärmauswirkung ausgesetzt gewesen sei. Es sei damit eindeutig der Arbeitsplatz entscheidend.

Der Kläger beantragt, sachdienlich gefasst und unter Berücksichtigung des Antrages erster Instanz,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. Juli 2012 sowie den Bescheid vom 6. Mai 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juli 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine mittelgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits als Folge einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen. Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen eines Gutachtens nach Aktenlage bei Prof. Dr. S., E ... Er hat in seinem Gutachten vom 29.09.2012 ausgeführt, dass beim Kläger eine beidseitige, symmetrische, pantonale reine Schallempfindungsschwerhörigkeit vorliege, die je nach Beurteilungskriterium als gering- oder mittelgradig zu bezeichnen sei. Der Rekruitmentnachweis als Hinweis auf eine Haarzellschädigung sei unter allen durchgeführten Untersuchungen nur bei der Messung der otoakustischen Emissionen positiv gewesen und dies auch nur für den tiefen und mittleren Frequenzbereich. Ein beidseitiger Tinnitus werde mal mit einer Frequenz über acht Kilohertz, mal mit 750 Hertz angegeben. Die vom Technischen Aufsichtsdienst ermittelte Lärmbelastung sei grundsätzlich geeignet, eine Innenohrschädigung hervorzurufen. Allerdings liege das Risikomaß nach v. Lübke bei "nicht auszuschließen" bis maximal "möglich", was bedeute, dass ein solcher Lärmpegel nur in seltenen Fällen und nur bei Personen mit besonders empfindlichem Innenohr zu einer Schwerhörigkeit entschädigungspflichtigen Ausmaßes führe. Wegen der lärmuntypischen Kurvenform der Tonaudiogramme (Tieftonschwerhörigkeit, keine Hochtonsenke), wegen des ungewöhnlichen zeitlichen Verlaufes (14 Lärmjahre ohne Hörschaden, dann ausgeprägte Schwerhörigkeit nach weiteren acht Jahren) und wegen des fehlenden Rekruitment im Hochtonbereich sei die berufliche Lärmbelastung weder als Ursache noch als wesentliche Teilursache der Schwerhörigkeit anzusehen. Auch bei Annahme einer deutlich höheren Lärmeinwirkung blieben die Einwände gegen eine Lärmgenese der festgestellten Schwerhörigkeit bestehen. Eine höhere Lärmbelastung würde zudem die 14 Lärmjahre ohne Hörminderung nicht erklären, nicht die ausgeprägte Tieftonschwerhörigkeit und nicht das fehlende Rekruitment im Hochtonbereich.

Hierauf hat der Kläger nochmals Stellung genommen (insoweit wird auf den Schriftsatz vom 16. Oktober 2012, Bl. 74 f. der Senatsakte verwiesen).

Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Schreiben vom 24.10.2012 darauf hingewiesen, dass der Senat die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückweisen kann.

Hierauf hat der Kläger nochmals mit Schreiben vom 07.11.2012 ausgeführt und um eine unparteiische Oberbegutachtung in Abstimmung mit Herrn Prof. Dr. S. gebeten, denn erst dann liege eine konkrete, verwertbare Bewertung des Hörverlustes vor. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

II.

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, weil der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anl. 1 zur BKV hat.

Gemäß § 153 Abs. 4 SGG kann das LSG - nach vorheriger Anhörung der Beteiligten - die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Im vorliegenden Fall sind die Berufsrichter des Senats einstimmig zu dem Ergebnis gekommen, dass die Berufung unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist. Mit Schreiben vom 24.10.2012 hat der Senat die Beteiligten auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach § 153 Abs. 4 SGG hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Eine Zustimmung der Beteiligten ist nicht erforderlich.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, Erkrankungen in der Rechtsverordnung als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Hierzu zählt nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV die Lärmschwerhörigkeit. Diese BK ist sowohl hinsichtlich der Erkrankung (Schwerhörigkeit) als auch der geeigneten Einwirkung (Lärm) durchaus konkreter gefasst, kann aber gleichwohl vom Wortlaut her nicht exakt definiert werden. Das BSG weist aber im Urteil vom 12. April 2005 (SozR 4-2700 § 9 Nr. 5) darauf hin, dass sowohl in der Begründung für die Einführung dieser BK im Jahre 1929 als auch im Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung zur BK Nr. 2301 vom 1. Januar 1977 erläutert wird, dass Lärm Schall ist, der das Gehör schädigen kann. Darüber hinaus lässt sich aus den vom BSG wörtlich zitierten Ausführungen im Merkblatt vom 1. Januar 1977 ("Bei einem Beurteilungspegel von 90 dB (A) und mehr sowie andauernder Einwirkung besteht für einen beträchtlichen Teil der Betroffenen die Gefahr einer Hörschädigung. Gehörschäden können jedoch bereits durch einen Lärm verursacht werden, dessen Beurteilungspegel den Wert von 85 dB(A) erreicht oder überschreitet") ableiten, dass der Begriff der Lärmschwerhörigkeit die durch einen gewissen Zeitraum andauernde Lärmbelastung in bestimmter Höhe hervorgerufene Schwerhörigkeit meint. Dies gilt auch nach der Veröffentlichung des den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand wiedergebenden Merkblatts zur BK Nr. 2301 zum 1. Juli 2008, in welchem es heißt: "Bei einem Tages-Lärmexpositionspegel von mehr als 90 dB (A) und langdauernder Einwirkung besteht für einen beträchtlichen Teil der Betroffenen die Gefahr einer Gehörschädigung. Gehörschäden werden auch bereits durch langjährigen Lärm verursacht, dessen Tages-Lärmexpositionspegel den Wert von 85 dB(A) erreicht oder überschreitet.

Hiervon ausgehend stellt der Senat auf der Grundlage der Arbeitsplatzlärmanalyse des Präventionsdienstes der Beklagten fest, dass der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mindestens in der Zeit von August 1977 bis September 2008 einem Beurteilungspegel von mehr als 85 dB (A), konkret nämlich 88 dB(A), und damit einer das Gehör potenziell schädigenden Lärmeinwirkung ausgesetzt gewesen war. Eine höhere Lärmbelastung, wie sie der Kläger behauptet, ist weder wahrscheinlich noch im Ergebnis relevant, weil der Kläger nicht mit der hierfür erforderlichen Wahrscheinlichkeit an einer Lärmschwerhörigkeit leidet, worauf noch einzugehen sein wird. Der vom Senat beauftragte Sachverständige hat sich im Übrigen kritisch mit den Erhebungen des Präventionsdienstes auseinandergesetzt und die vorgenommene Beurteilung nicht beanstandet. Besonderheiten der konkret ausgeübten Tätigkeit, die eine abweichende Lärmbelastung rechtfertigen könnten, hat der Kläger nicht vorgetragen und solche sind auch nicht ersichtlich. Zugunsten des Klägers ist im Übrigen unberücksichtigt geblieben, dass er von 1977 bis 1980 nur zu 75 % der Arbeitszeit lärmexponiert gewesen ist und dass, nach seinen Angaben, zumindest seit 2005 Gehörschutz bereitgestellt wurde. Schließlich führt selbst die Unterstellung einer höheren Lärmbelastung zu keinem anderen Ergebnis, weil auch eine solche den beim Kläger konkret zu erhebenden Befund einer ausgeprägten Tieftonschwerhörigkeit, eines fehlenden Rekruitments im Hochtonbereich und einer im Tonaudiogramm aus dem Jahr 1991 nach 14 Jahren Lärmarbeit noch nachweisbaren Normalhörigkeit nicht erklären kann. Die Einwendungen des Klägers zur Intensität der Lärmeinwirkungen gehen daher ins Leere.

Dass die Schwerhörigkeit des Klägers mit Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich durch beruflich bedingte Lärmeinwirkung verursacht oder verschlimmert worden ist, kann aufgrund des schlüssigen und überzeugenden Gutachtens von Prof. Dr. S. und dessen kritischer Auswertung der vorliegenden Befunde nicht angenommen werden. Für den Ursachenzusammenhang zwischen Einwirkung und Erkrankung im Berufskrankheitenrecht gilt, wie auch sonst in der gesetzlichen Unfallversicherung, die Theorie der wesentlichen Bedingung, die das Bundessozialgericht in der Entscheidung vom 9. Mai 2006 - B 2 U 1/05 R - (SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 = BSGE 96, 196-209) zusammengefasst dargestellt hat. Die Theorie der wesentlichen Bedingung hat zur Ausgangsbasis die naturwissenschaftlich-philosophische Bedingungstheorie, nach der Ursache eines Erfolges jedes Ereignis ist, das nicht hinweg gedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der Bedingungstheorie werden im Sozialrecht als rechtserheblich aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben). Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache sind insbesondere die versicherte Ursache bzw. das Ereignis als solches, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, konkurrierende Ursachen unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens und Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte sowie die gesamte Krankengeschichte. Trotz dieser Ausrichtung am individuellen Versicherten ist der Beurteilung des Ursachenzusammenhangs im Einzelfall der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Einwirkungen und Gesundheitsschäden zugrunde zu legen. Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der Ursachenzusammenhang nach der Theorie der wesentlichen Bedingung positiv festgestellt werden muss und hierfür hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt, nicht jedoch die bloße Möglichkeit.

Abweichend von einem Arbeitsunfall mit seinem zeitlich begrenzten Ereignis, das oftmals relativ eindeutig die allein wesentliche Ursache für einen als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsschaden ist, ist die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs bei BKen in der Regel schwieriger. Denn angesichts der multifaktoriellen Entstehung vieler Erkrankungen, der Länge der zu berücksichtigenden Zeiträume und des Fehlens eines typischerweise durch berufliche Einwirkungen verursachten Krankheitsbildes bei vielen Berufskrankheiten, stellt sich letztlich oft nur die Frage nach einer wesentlichen Mitverursachung der Erkrankung durch die versicherten Einwirkungen (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006 - B 2 U 7/05 R in Juris). Ist aber die Abgrenzung eines lärmbedingten Anteils der Schwerhörigkeit nicht sicher möglich, so muss nach der Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung entschieden werden, ob die Lärmeinwirkung die wesentliche Bedingung für die Entstehung der Schwerhörigkeit war. Nur diese Bedingung gilt dann als Ursache der gesamten medizinisch nicht näher abgrenzbaren Schwerhörigkeitsanteile (vgl. Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit - Königsteiner Empfehlung [vormals Königsteiner Merkblatt]- 5. Auflage 2012, 4.2, abgedruckt in Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, Stand September 2012).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegen hinreichende Anhaltspunkte für einen kausalen Zusammenhang zwischen Lärmeinwirkungen und dem vorliegenden Krankheitsbild, der Hörminderung, nicht vor. Das Vorliegen einer geeigneten Lärmeinwirkung ist für die Annahme der Wahrscheinlichkeit eines solchen Zusammenhangs keinesfalls ausreichend. Denn eine Schwerhörigkeit kann das Symptom vieler teilweise unklärbarer Krankheiten sein. Bestimmte Gesundheitsstörungen können allein eine Innenohrschwerhörigkeit hervorrufen, aber auch die Entstehung einer Lärmschwerhörigkeit begünstigen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, 8. Aufl., S. 327). Ein Zusammenhang zwischen der arbeitsbedingten Lärmexposition und der Schwerhörigkeit kann daher nur dann als wahrscheinlich angesehen werden, wenn mehr Gesichtspunkte dafür als dagegen sprechen. Nach der Königsteiner Empfehlung (a.a.O.) sind insbesondere folgende Kriterien zu berücksichtigen: Die Hörstörung muss sich während der Lärmexposition entwickelt haben, es muss sich um eine reine Innenohrschwerhörigkeit (Hörstörung der Sinneszellen des Innenohres) mit Betonung des Hörverlustes in den hohen Frequenzen (c5-Senke) handeln, und das Ausmaß und die Entwicklung der Hörstörung müssen in einem adäquaten Verhältnis stehen.

Diese Grundsätze hat auch der dem Senat bei der Beurteilung berufsbedingter Lärmschädigungen als sehr erfahren bekannte Prof. Dr. S. in seinem Gutachten zugrunde gelegt und berücksichtigt. Dabei ist es die Aufgabe des Sachverständigen, sich kritisch mit den vorliegenden Befunden aus vorhergehenden Untersuchungen auseinander zu setzen. Es ist daher sowohl nachvollziehbar als auch erforderlich, darauf hinzuweisen, dass die Audiogramme aus dem Jahr 2006 und 2010, weil diese schlechter ausgefallen sind als das Audiogramm 2011 (und eine solche Besserung des Hörvermögens nicht erklärt werden kann, vgl. Ausführungen des Sachverständigen, Bl. 13 des Gutachtens), nicht weiter zur Beurteilung des Verlaufes der Erkrankung herangezogen werden können. Gleiches gilt, soweit der Sachverständige auf weitere Ungereimtheiten auch in Bezug auf die Audiogramme 1991, 1997 und 2011 hinweist. Im Ergebnis bleibt aber festzuhalten, dass der Sachverständige trotz gewisser Widersprüche eine - für die Anerkennung einer BK 2301 erforderliche - Schallempfindungsschwerhörigkeit (im Gegensatz zu einer Schallleitungsschwerhörigkeit, vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 331f.) angenommen hat, dass das Audiogramm vom 14.02.1991, nach 14 Jahren Lärmarbeit eine Normalhörigkeit belegt (so auch das auf Antrag des Klägers eingeholte Gutachten von Dr. B. [S. 2]) und sich dann innerhalb von nicht einmal sieben Jahren, nachgewiesen durch das Tonaudiogramm vom 19.11.1997, eine alle Frequenzbereiche betreffende Schwerhörigkeit entwickelt hat, die die mittleren und hohen Frequenzen gleichmäßig betrifft, während sich lediglich in den tiefen Frequenzen die Hörschwelle geringfügig besser darstellt. Liegt eine Schallempfindungsschwerhörigkeit - wie hier vom Sachverständigen bestätigt - vor, muss festgestellt werden, ob es sich um einen Haarzellschaden (Schwerhörigkeit mit labyrinthärem Sitz = cochleäre Schwerhörigkeit = Innenohrschwerhörigkeit) oder um einen Hörnervschaden (Schwerhörigkeit mit retrolabyrinthärem Sitz = retrocochleäre Schwerhörigkeit = Nervenschwerhörigkeit) handelt. Letzterer ist grundsätzlich nicht lärmbedingt (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 336). Für einen Haarzellschaden sollten die sogenannten überschwelligen Tests mehrheitlich ein Rekruitment nachweisen und keine groben Diskrepanzen aufweisen. Bei einem nachgewiesenen negativen Rekruitment ist die Verursachung der Hörstörung durch Lärm unwahrscheinlich. Andererseits ist ein positives Rekruitment kein Beweis dafür, dass Lärm die Ursache des Haarzellschadens ist (Königsteiner Empfehlung a.a.O., 4.2). Ein solcher Rekruitmentnachweis gelang jedoch in den meisten der durchgeführten Verfahren nicht, worauf Dr. Strohm hingewiesen hat (vgl. hierzu die Übersicht in dessen Gutachten, Bl. 17). Lediglich die Messungen der TEOAE durch Dr. Bergbreiter und Dr. Baumann haben einen positiven Rekruitmentnachweis erbracht, dort allerdings nur für den tiefen und mittleren Frequenzbereich und nicht für die hohen Frequenzen, wo sich eine Lärmschädigung vorwiegend auswirkt. Insofern hat der Sachverständige überzeugend dargelegt, dass auch diese Tatsachen nicht für die Annahme einer lärmbedingten Schwerhörigkeit sprechen. Dies gilt umso mehr, als in den beiden vorliegenden Audiogrammen, die während der Lärmarbeit erstellt wurden, eine sogenannte c5-Senke nicht nachgewiesen werden konnte. Eine solche stellt sich aber zu Beginn einer Lärmschwerhörigkeit immer ein, weil gerade die Haarzellen besonders empfindlich sind, die für die Schalltransformation im Hochtonbereich verantwortlich sind (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 333). Soweit sich in dem Audiogramm von Dr. B. vom 16.11.2011 eine angedeutete Hochtonsenke zeigt, vermag dies eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Denn auch dieses Audiogramm erfüllt nicht die Anforderungen an ein für Lärmeinwirkungen typisches Bild. Darüber hinaus belegt es diese Hochtonsenke nicht zu Beginn einer durch Lärm verursachten Erkrankung (s.o.), sondern erst nach dem Ausscheiden aus der Lärmarbeit. Damit ist die von Prof. Dr. S. vorgenommene Beurteilung, aufgrund des untypischen Kurvenverlaufs, des ungewöhnlichen zeitlichen Verlaufs und wegen des fehlenden Rekruitmentnachweises im Hochtonbereich fehle es an einer wahrscheinlichen Verursachung durch die Lärmarbeit, nicht zu beanstanden. Denn ein wesentlicher Verursachungsbeitrag der Lärmeinwirkung lässt sich weder abgrenzen noch mit einer hierfür rechtlich erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit begründen. Gleiches gilt im Übrigen für den in den Gutachten erwähnten Tinnitus, dessen Frequenz bei einer Verursachung durch Lärm im Frequenzbereich von 4 kHz zu erwarten wäre, hier jedoch einmal bei über 8 kHz (Nerz), dann bei 750 Hz (Dr. B.) angegeben wurde.

Der letztlich willkürlichen Aufteilung in einen lärmbedingten und nicht lärmbedingten Anteil durch Dr. B. vermag sich der Senat angesichts dessen und der Vorgaben in der Königsteiner Empfehlung (s.o.) nicht anzuschließen.

Weiterer Ermittlungen von Amts wegen bedarf es nicht. Insbesondere ist ein vom Kläger gefordertes Obergutachten nicht erforderlich. Eine körperliche Untersuchung des Klägers ist mehr als 4 Jahre nach Beendigung der Lärmarbeit nicht erforderlich. Aufgrund der vorliegenden Befunde sind die Erkrankung und deren zeitlicher Verlauf für eine Beurteilung ausreichend geklärt. Rückwirkende Feststellungen, insbesondere zum Umfang und Bild eines in der Vergangenheit liegenden Zustandes, lassen sich durch eine aktuelle Begutachtung nicht mehr treffen. Ein Sprachaudiogramm wäre nur dann erforderlich, wenn der Senat auch zu einer eingetretenen MdE Stellung nehmen müsste. Dies ist hier jedoch schon deshalb nicht der Fall, weil eine durch berufliche Lärmeinwirkung verursachte Schwerhörigkeit nicht vorliegt und damit auch keine eine Entschädigungspflicht auslösende Berufskrankheit.

Die Abweisung der Klage durch das Sozialgericht Reutlingen ist daher nicht zu beanstanden, weshalb die Berufung des Klägers zurückzuweisen war.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved