L 3 U 38/11

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 10 U 171/07
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 38/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Januar 2011 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt gegenüber der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit.

Der 1945 geborene Kläger war seit Beginn seiner Ausbildung im September 1961, welche er im August 1964 erfolgreich abschloss, bis August 1999 zumeist als Dachdecker beschäftigt. Von 1974 bis 1992 war er bei seiner Beschäftigung, bei welcher er u.a. auch Asbestzementplatten bearbeitete, gegenüber Asbestfaserstaub exponiert. In der Zeit von 1961 bis 1970 kam zusätzlich eine Exposition durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK) durch die Verarbeitung von Heißteer hinzu.

Beim Kläger wurde im Oktober 2002 eine Kehlkopfkrebserkrankung (Glottisches Larynxkarzinom rechts) festgestellt, welche in demselben Monat operativ behandelt wurde.

Die im anschließenden Verfahren zur Anerkennung einer Berufskrankheit gemäß Nr. 4104 (Kehlkopfkrebserkrankung in Verbindung mit Asbesteinwirkung, BK 4104) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) beigezogene Bewertung des Technischen Aufsichtsdiensts (TAD) der Bau-Berufsgenossenschaft Hannover vom 26. April 2004 ergab eine Gesamtexposition für Asbest von 13,0 Faserjahren und für PAK von 15,6 Benzo(a)pyren-Jahren (BaP-Jahren). Die Beklagte lehnte die Anerkennung der BK 4104 mit Bescheid vom 26. November 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 15. März 2005 ab, nachdem ihre Ermittlungen weder das tatsächliche Vorliegen der arbeitsmedizinischen noch der medizinischen Voraussetzungen der BK erbracht hatten; insbesondere wurden keine asbestassoziierten Veränderungen an der Pleura bzw. dem Lungenparenchym festgestellt (vgl. Gutachten des Oberarztes am Institut für Radiologie vom 11. Juni 2004 und gutachterliche Stellungnahme des Chefarztes des Radiologisch-diagnostischen Instituts vom 18. Oktober 2004). Die gegen die Ablehnung gerichtete Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) (SG) blieb ohne Erfolg, vgl. Urteil vom 14. Dezember 2006 - S 18 U 46/05 -.

Im Anschluss beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung einer BK nach § 9 Abs. 2 des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII). Die Beklagte lehnte die Anerkennung nach Beiziehung einer gewerbeärztlichen Stellungnahme des Landesamts für Arbeitsschutz des Landes Brandenburg vom 03. August 2007, in welcher sich die Gewerbeärztin K gegen eine Anerkennung aussprach, mit Bescheid vom 12. Oktober 2007 ab und wies den hiergegen gerichteten Widerspruch vom 08. November 2007 mit Widerspruchsbescheid vom 21. November 2007 als unbegründet zurück.

Der Kläger hat sein Begehren mit der am 13. Dezember 2007 zum SG erhobenen Klage weiterverfolgt. Er hat zur Untermauerung seines Vorbringens auf Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V. (DGAUM) zum Thema Arbeit unter Einwirkung fibrogener, chemisch-irritativ, sensibilisierend oder kanzerogen wirkender Aerosole, Arbeit unter Einwirkung von Asbeststaub verwiesen. Er hat behauptet, seine Kehlkopfkrebserkrankung sei mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf den Umgang mit den oben aufgeführten Stoffen zurückzuführen und seine Expositionsdauer gegen PAK betrage 39,6 BaP-Jahre. Der Kläger hat einen von ihm ausgefüllten Fragebogen zur Person nebst Arbeitsunterlagen vorgelegt, auf den bei ihm anerkannten Grad der Behinderung (GdB) von 70 hingewiesen und Atteste bzw. Berichte der ihn behandelnden Ärzte vorgelegt.

Das SG hat aus dem o.g. gerichtlichen Verfahren S 18 U 46/05 diverse Patientenunterlagen beigezogen und eine Auskunft beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 03. Juli 2008 eingeholt, wonach der Sachverständigenrat "Berufskrankheiten" die Frage "Kehlkopfkrebs durch PAK" eingehend diskutiert und dazu festgestellt habe, dass es zu dieser Frage zur Zeit lediglich Hinweise, aber keine gesicherten Erkenntnisse über ein erhöhtes Kehlkopfkrebsrisiko PAK-exponierter Beschäftigter gebe. Nach dieser Empfehlung sei die Fragestellung nicht mehr geprüft worden. Zur Frage "Kehlkopfkrebs durch synkanzerogenetisches Zusammenwirken von PAK und Asbest" habe der Sachverständigenbeirat am 29. November 2006 die Empfehlung für eine BK "Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen" abgegeben und von einer Aussage zur berufsbedingten Verursachung von Kehlkopfkrebs abgesehen.

Das SG hat im Anschluss einen Befundbericht des den Kläger behandelnden Facharztes für Innere Medizin Dr. E vom 19. April 2009 eingeholt, welchem eine Vielzahl von Befunden und Arztbriefen unterschiedlicher Fachrichtungen sowie ein Operationsbericht beigefügt gewesen sind.

Eine weitere vom SG beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingeholte Auskunft vom 22. September 2009 hat keine weiteren Erkenntnisse erbracht. Das SG hat das unter dem 01. Juli 2010 erstellte schriftliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Arbeits- und Allgemeinmedizin Dr. E eingeholt. Der Sachverständige ist hierin nach Aktenlage zur Einschätzung gelangt, die epidemiologischen Daten reichten im Hinblick auf das Kehlkopfkarzinom für eine den versicherungsrechtlichen Anforderungen genügende Risikobewertung nicht aus. Dementsprechend habe sich der Sachverständigenbeirat auch nur darauf verständigen können, aufgrund des vorhandenen Kenntnisstandes das Zusammenwirken von Asbest und PAK im Sinne der synkanzerogenen, mindestens additiven Wirkungssteigerung als generell geeignet für die Verursachung von Lungenkrebs anzusehen. Zwar sei es biologisch plausibel, auch ein Kehlkopfkarzinom-Risiko bei kombinierter Exposition anzunehmen. Jedoch seien für eine vergleichbare Schadstoffexposition noch keine ausreichenden epidemiologischen Nachweise für den Kehlkopfkrebs erbracht. Deshalb sei die zu fordernde gruppentypische Risikoerhöhung noch nicht erwiesen. Eine quantitative Analogbewertung entsprechend der für den Lungenkrebs vorgegebenen Dosisgrenzwerte sei deshalb nicht möglich. Aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen für derartige Studien würden sich wahrscheinlich auch in naher Zukunft keine evidenzbasierten Aussagen zu dieser Fragestellung treffen lassen. Ferner sei nach den durchgeführten arbeitsmedizinischen Ermittlungen selbst bei einer hypothetischen Betrachtung die zu fordernde Verursachungswahrscheinlichkeit im konkreten Fall nicht gegeben.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 21. Januar 2011 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Voraussetzungen für eine Anerkennung nach § 9 Abs. 2 SGB VII lägen nicht vor. Vielmehr stehe nach dem arbeitsmedizinischen Gutachten Dr. Es fest, dass für die nach § 9 Abs. 2 SGB VII zu fordernde gruppentypische Risikoerhöhung für durch PAK verursachten oder durch Zusammenwirken von PAK und Asbest verursachten Kehlkopfkrebs keine hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnisse bestünden, so dass dahinstehen könne, ob und gegebenenfalls mit welcher Intensität der Kläger Asbest bzw. PAK während seiner Beschäftigung ausgesetzt gewesen sei. Die Einschätzungen des Sachverständigen stünden im Übrigen auch im Einklang mit den beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eingeholten Auskünften.

Der Kläger hat gegen das ihm am 28. Januar 2011 zugestellte Urteil am 08. Februar 2011 Berufung eingelegt und sein erstinstanzliches Vorbringen vertieft. Er hat ferner ausgeführt, die Ermittlung der BaP-Jahre sei von Bedeutung, weil infolge der Kombination einer Exposition von Asbestfasern und PAK auch nach Auffassung des Sachverständigen Dr. E eine entsprechende Verstärkung der Asbesteinwirkung durch die chronische Koexposition auf den Kehlkopf angenommen werden könne, da es sich beim Zielgewebe im Kehlkopf um ein weitgehend gleichartiges biologisches Substrat (respiratorisches Epithel) handele und eine Exposition der Lunge immer mit einer Exposition der Atemwege verbunden sei. Die hiernach erforderlichen arbeitstechnischen Ermittlungen der Beklagten seien unvollständig und hätten richtigerweise durch das SG veranlasst werden müssen, zumal mit den vom Kläger angegebenen 39,6 BaP-Jahren die versicherungsrechtliche Grenze überschritten sei. Schließlich sei darauf hinzuweisen, dass keine ausschließliche Festlegung auf die Epidemiologie zu erfolgen habe, sondern in Ausnahmefällen auch ein herabgestuftes Maß an wissenschaftlicher Nachforschung, etwa Erkenntnisse aus Einzelfallstudien, der tierexperimentellen Forschung, Erkenntnisse und Anerkennungen aus anderen Ländern für die generelle Geeignetheit ausreiche. So sprächen tierexperimentelle Studien für ein zumindest additives Zusammenwirken hinsichtlich einer Tumorauslösung im Bereich der Atemwege und des Kehlkopfes durch eine Koexposition von Asbest und PAK.

Der Kläger beantragt (sachdienlich gefasst),

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 21. Januar 2010 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Oktober 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 21. November 2007 aufzuheben und festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 SGB VII vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Berichterstatter hat den Beteiligten mit Schreiben vom 01. Juli 2011 den rechtlichen Hinweis erteilt, dass die rechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK nach § 9 Abs. 2 SGB VII nicht vorlägen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 30. November 2011 und 09. Dezember 2011 einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter anstelle des Senats zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Berichterstatter kann, weil die vorliegende Streitsache weder besondere Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist noch von grundsätzlicher Bedeutung ist, in Ausübung des insofern eröffneten richterlichen Ermessens anstelle des Senats im schriftlichen Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, vgl. §§ 155 Abs. 3 und 4, 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer BK gemäß § 9 Abs. 2 SGB VII. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird zunächst abgesehen, weil die Berufung aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils als unbegründet zurückzuweisen ist, § 153 Abs. 2 SGG. Ergänzend wird auf die Verfügung des Berichterstatters vom 01. Juli 2011 verwiesen und inhaltlich Bezug genommen und nochmals betont, dass der Verordnungsgeber aufgrund jüngerer medizinischer Erkenntnisse zwar die Möglichkeit einer gruppenspezifischen Risikoerhöhung für Kehlkopfkrebserkrankungen bei einer (kombinierten) Exposition gegen Asbest und PAK erkannte, jedoch aufgrund des Votums des Sachverständigenbeirats sehenden Auges davon absah, eine entsprechende BK in Anlage 1 zur BKV aufzunehmen. Anhaltspunkte für hierbei unberücksichtigt gebliebene Erkenntnisse, denen aufgrund der dem Senat obliegenden Untersuchungsmaxime aus § 103 SGG von Amts wegen nachzugehen gewesen wäre, sind nicht ersichtlich, zumal auch der Kläger auf keine neueren medizinischen Erkenntnisse insbesondere zur Synkanzerogenität von Asbest und PAK zu verweisen vermag und der Sachverständige des erstinstanzlichen Verfahrens Dr. E plausibel darauf hingewiesen hat, dass aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen für epidemiologische Studien sich wahrscheinlich auch in naher Zukunft keine evidenzbasierten Aussagen zu dieser Fragestellung treffen lassen.

Demgegenüber verhilft zunächst der Verweis des Klägers auf eine Veröffentlichung im Saarländischen Ärzteblatt ("Asbest – Eine Bilanz aus arbeitsmedizinischer Sicht" von Univ.-Prof. em. Dr. med. Hans-Joachim Woitowitz, Ausgabe 10/ 2008, S. 10 ff., 14) seinem Begehren nicht zum Erfolg. Diese Veröffentlichung spiegelt lediglich den bis zur Aufnahme der BK 4114 in die BKV am 01. Juli 2009 vorhandenen medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstand zur Synkanzerogenität von Asbest und PAK für die Atemwege

Auch lässt sich nicht unter Bezugnahme auf ein Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) vom 22. September 2004 – L 17 U 27/02 - mit Erfolg einwenden, dass keine ausschließliche Festlegung auf die Epidemiologie zu erfolgen habe, sondern auch ein herabgestuftes Maß an wissenschaftlicher Nachforschung, etwa Erkenntnisse aus Einzelfallstudien, der tierexperimentellen Forschung, Erkenntnisse und Anerkennungen aus anderen Ländern für die generelle Geeignetheit ausreichten. Ganz im Gegenteil reicht es für die Annahme einer "generellen Geeignetheit" grundsätzlich gerade nicht aus, dass überhaupt medizinisch wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem jeweils relevanten medizinischen Problemfeld existieren, sondern es muss sich diesbezüglich bereits eine so genannte herrschende Meinung im einschlägigen medizinischen Fachgebiet gebildet haben. Denn im Regelfall kann die Annahme einer gruppentypischen Risikoerhöhung nur durch die Dokumentation einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und einer langfristigen Überwachung derartiger Krankheitsbilder begründet werden (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), etwa Urteil vom 04. Juni 2002 – B 2 U 16/01 R -, zitiert nach juris Rn. 19). Nur im Ausnahmefall einer äußerst selten vorkommenden Krankheit können im Sinne eines herabgestuften Maßes an wissenschaftlicher Erforschung etwa Erkenntnisse aus Tierexperimenten für die Feststellung der generellen Geeignetheit ausreichen (BSG, a.a.O.). Das vom Kläger angeführte Urteil des LSG NRW vertritt hierzu nichts anderes, sondern bezieht sich ausdrücklich auf die vorgenannte Rechtsprechung des BSG (LSG NRW, a.a.O., zitiert nach juris Rn. 23). Dafür indes, dass hier mit dem Kehlkopfkrebs des Klägers solch ein Ausnahmefall vorliegen könnte, sind keinerlei Anhaltspunkte gegeben.

Nach alldem ist es nicht maßgeblich, welcher Exposition der Kläger überhaupt tatsächlich ausgesetzt war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Die Revision ist mangels Zulassungsgrunds nach § 160 Abs. 2 SGG nicht zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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