L 6 R 238/10

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 7 R 771/09 A-FdV
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 6 R 238/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 46/13 B
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Beschäftigungszeiten im Zwangsarbeitslager N. erfüllen nicht die gesetzlichen Voraussetzungen einer fiktiven Beritragszeit nach §§ 1 und 2 ZRBG.
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 22. Februar 2010 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Regelaltersrente durch Anrechnung fiktiver Ghetto-Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG).

Die 1927 geborene Klägerin besitzt die slowakische Staatsangehörigkeit und hält sich an ihrem Wohnsitz in der Slowakei ständig auf. Dort war sie bis 1983 sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Mit Schreiben an die Beklagte vom 26.06.2003 (eingegangen am 27.06.2003) beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin für diese Altersrente mit der Begründung, sie sei Verfolgte im Sinne des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG). In dem am 17.11.2003 nachgereichten Fragebogen gab die Klägerin an, sie habe in der Zeit vom 16.11.1942 bis 28.05.1943 täglich acht bis zehn Stunden im Arbeitslager für Juden in N. gearbeitet und habe für ihre Beschäftigung "nur Lebensmittel" erhalten. Sie habe dort Handarbeiten verrichtet, Unterwäsche und Taschentücher genäht.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 20.11.2003 hat die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe keine auf die Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten zurückgelegt. Bei der geltend gemachten Zeit handele es sich nicht um eine Beschäftigung in einem Ghetto, sondern um einen Aufenthalt in einem Zwangsarbeitslager. Ferner habe sich das Lager N. nicht in einem vom Deutschen Reich eingegliederten oder besetzten Gebiet befunden. Mangels anrechenbarer Beitragszeiten scheide die Berücksichtigung der Verfolgungszeit als Ersatzzeit aus.

Den hiergegen erhobenen Widerspruch hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - unter Hinweis auf ein Gutachten des Historischen Armeeinstituts P. vom 13.01.2004 und auf eine Stellungnahme von Frau Dr. jur. K. Z., Institut des Staates und des Rechtes der Akademie der Wissenschaften, Slowakei, vom 01.02.2004 - im Wesentlichen damit begründet, dass es sich bei der Slowakei nicht um einen "verbündeten Staat" gehandelt habe. Ferner habe es sich bei dem Ghetto-Lager N. um kein klassisches Arbeitslager, sondern um ein Muster-Ghetto gehandelt, welches den Bewohnern "äußerst gute Lebensbedingungen ermöglicht" habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.07.2004 hat die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch im Wesentlichen mit der Begründung zurückgewiesen, die Slowakei sei im maßgeblichen Zeitraum (vom 16.11.1942 bis 28.05.1943) jedenfalls nicht vom damaligen Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert gewesen. Dem zur Begründung des Widerspruchs vorgelegten Gutachten (des Historischen Armeeinstituts P.) könne nicht gefolgt werden, da es der in der historischen Forschung vorherrschenden Auffassung widerspreche.

Die hiergegen am 05.08.2004 zum Sozialgericht (SG) Landshut erhobene Klage hat der Klägerbevollmächtigte damit begründet, dass der Klägerin die Tätigkeit im "Ghetto N." aufgrund eigener Bemühungen durch den Judenrat vermittelt worden sei. Als Entlohnung habe sie täglich drei Mahlzeiten und zusätzliche Lebensmittel erhalten. Ergänzend ist eine schriftliche Abhandlung zu den jüdischen Arbeitslagern (Ghettos) in N., S. und V. durch Dozent E. N. eingereicht worden.

Das SG hat - im Hinblick auf ausstehende Entscheidungen des Bayerischen Landessozialgerichts (Bayer.LSG) zur entscheidungserheblichen Rechtsfrage - auf Antrag der Beteiligten mit Beschluss vom 06.12.2005 das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Rechtskraft einschlägiger Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) und des Bayer. LSG ist auf Antrag der Beklagten das Verfahren im August 2009 vorgeführt worden.
Nach entsprechender Anhörung der Beteiligten hat die 7. Kammer des SG Landshut die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22.02.2010 abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Klägerin habe keinen Rentenanspruch, da sie die erforderliche Wartezeit als gesetzliche Voraussetzung des § 1248 Abs. 5 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfülle. Nach § 1 Abs. 1 ZRBG könnten nur Beschäftigungszeiten in einem Gebiet, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war, gegebenenfalls den Anspruch begründen. Die Slowakei sei von deutschen Truppen aber nicht besetzt gewesen; diese hätten die Slowakei vielmehr gegen den Partisanenaufstand unterstützt, die deutschstämmige Bevölkerung geschützt und militärstrategische Aufgaben erfüllt. Damit komme es nicht darauf an, ob sich die Klägerin in einem Ghetto oder in einem Lager aufgehalten habe. Der Gerichtsbescheid ist dem Klägerbevollmächtigten am 04.03.2010 zugestellt worden.

Die hiergegen am 31.03.2010 zum Bayerischen Landessozialgericht eingelegte Berufung hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme des Instituts für Zeitgeschichte M.-B. vom 06.04.2006 - damit begründet, dass der Beschäftigungsort N. in einem vom Deutschen Reich faktisch besetzten Gebiet gelegen habe. Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.05.2009 (B 5 R 26/06 R) werde die Einholung eines historischen Sachverständigengutachtens beantragt.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

die Beklagte unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG Landshut vom 22.02.2010 sowie des Bescheides der Beklagten vom 20.11.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.07.2004 zu verurteilen, ihr auf Antrag vom 27.06.2003 Regelaltersrente zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, es sei höchstrichterlich geklärt, dass die Slowakei ein völkerrechtlich "selbständiger Staat" geblieben sei.

Im Übrigen wird auf den Inhalt der Akten der Beklagten, des SG Landshut und des LSG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ist auch im Übrigen zulässig, sachlich aber nicht begründet. Die Beklagte und das Sozialgericht haben den Rentenanspruch der Klägerin zu Recht verneint, da die hierfür erforderliche Wartezeit nicht erfüllt ist.

Rechtsgrundlage für den erhobenen Anspruch (im Sinne des § 123 SGG) sind die gesetzlichen Regelungen des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) in Verbindung mit dem "Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto" vom 20.06.2002 (ZRBG). Denn der Altersrentenantrag stützt sich auf das ZRBG vom 20.06.2002, nach dessen § 3 Abs. 1 ein Rentenbeginn frühestens im Jahr 1997 - also nach in Kraft treten des SGB VI - in Betracht kommt. Nach § 99 Abs. 1 SGB VI wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Anragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird. Gemäß § 300 Abs. 1 SGB VI sind die Vorschriften des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden, wenn bereits vor diesem Zeitpunkt der Sachverhalt oder der Anspruch bestanden hat. Die im angefochtenen Gerichtsbescheid zitierten Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung sind also nicht einschlägig und damit nicht als gesetzlicher Prüfungsmaßstab heranzuziehen.

Nach §§ 35, 50 Abs. 1, 99 Abs. 1, 300 Abs. 1, 302 SGB VI haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Die Erfüllung ist auch dann erforderlich, wenn - wie hier - ein Rentenanspruch aufgrund von Ghettobeitragszeiten geltend gemacht wird (BSG vom 12.02.2009, B 5 R 70/06 R). Eine Erfüllung der Wartezeit von 60 Monaten kommt vorliegend unter Berücksichtigung weiterer in der Slowakei zurückgelegter Beitragszeiten nur dann in Betracht, wenn mindestens ein (1) rechtswirksam entrichteter Beitrag zur deutschen Rentenversicherung festzustellen ist (vgl. BSG vom 19.05.2009, B 5 R 26/06 R).
Die Klägerin hat unstreitig keine Beitragszeiten in der deutschen Rentenversicherung nach der Reichsversicherungsordnung (RVO), nach dem SGB VI oder dem Fremdrentengesetz (FRG) zurückgelegt. Entgegen der Auffassung der Klägerin sind auch die geltend gemachten Beschäftigungszeiten im Lager N. nicht nach § 2 ZRBG als fiktive Beitragszeit zu berücksichtigen.

Nach § 1 Abs. 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war.
Es ist vorliegend weder erwiesen noch hat die Klägerin in entsprechender Anwendung des § 4 Abs. 1 FRG bzw. 3 Abs. 1 WGSVG glaubhaft gemacht, dass sie in der Zeit vom 16.11.1942 bis 18.05.1943 eine Beschäftigung im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG ausgeübt hat.
Glaubhaft gemacht ist eine Tatsache, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 4 Abs. 1 FRG, § 3 Abs. 1 WGSVG). Glaubhaftmachung bedeutet danach mehr als das Vorhandensein einer bloßen Möglichkeit, aber auch weniger als die an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit. Es genügt die "gute Möglichkeit", dass der entscheidungserhebliche Vorgang sich so zugetragen hat, wie er behauptet wird. Es muss mehr für als gegen den behaupteten Sachverhalt sprechen. Als Mittel der Glaubhaftmachung kommen neben der eidesstattlichen Versicherung alle Mittel in Betracht, die geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit der Tatsache in ausreichendem Maße darzutun. Dabei sind ausgesprochen naheliegende, der Lebenserfahrung entsprechende Umstände zu berücksichtigen. Bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten muss das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten sein, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Tatsache spricht (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 16.02.2012, L 6 R 345/11 m.w.N.). Entsprechende Mittel zur Beweisführung sind weder im Verwaltungs- noch im Gerichtsverfahren bezeichnet oder benannt worden.
Die Klägerin hat den Umstand einer freiwilligen, gegen Entgelt ausgeübten Beschäftigung lediglich vorgetragen, hierfür jedoch keine Nachweise vorgelegt oder anderweitig Beweis angetreten bzw. angeboten.
Die Behauptung bzw. Einlassung ihres Prozessbevollmächtigten, dass es sich bei diesem Lager um ein Arbeitslager mit Ghettocharakter gehandelt habe, ist nicht geeignet, die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 ZRBG glaubhaft zu machen. Denn bei dem Lager N. handelte es sich nach einhelliger Auffassung nicht um ein Ghetto i.S.d. ZRBG (so Weinmann, Kossoy, Encyclopedia of Jewish Life 2001). Die von der Klägerin geschilderten Bedingungen des Arbeitseinsatzes - Erhalt von Nahrungsmitteln anstelle monetärer Entlohnung bei täglich acht- bis zehnstündigem Arbeitseinsatz - sprechen zudem eher für eine unfreie Beschäftigung.

Aber selbst wenn man den Vortrag der Klägerin als glaubhaft gemacht unterstellt, folgt hieraus keine Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten nach dem ZRBG. Denn N. befand sich im streitgegenständlichen Zeitraum nicht in einem Gebiet, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war (§ 1 Abs. 1 Satz 1 ZRBG). "Die Slowakei, auf deren Territorium das Lager N. errichtet war, war im streitgegenständlichen Zeitraum nach dem geschichtlichen Ablauf weder vom Deutschen Reich besetzt noch in dieses eingegliedert. Die Slowakei ist niemals formell in das Deutsche Reich eingegliedert worden (so BSG, Urteil vom 18.03.1982, Az.: 11 RA 28/81 und BVerwGE 38, 122, 124). Der Einmarsch der deutschen Truppen am 15.03.1939 in das Gebiet der späteren Schutzzone ist mangels Machtfülle der deutschen Staatsführung innerhalb dieses Gebietes noch keine Besetzung der Slowakei (so BVerwGE 39, 22, 24). Auch wenn die Slowakei ab dem 28.07.1940 wegen einer von Hitler erzwungenen Regierungsumbildung durch Staatspräsident Tiso in den unmittelbaren Einflussbereich der deutschen Staatsführung gelangt war, so ist dieser Zeitpunkt nur als Beginn des Verfolgungszeitraums im Sinne des Lastenausgleichsgesetzes, nicht aber als Beginn der Besetzung eines fremden Gebietes zu qualifizieren (BVerwGE 38, 122 f). "Die Slowakei ist ab der Selbständigkeitserklärung ... vom 14.03.1939 bis 1945 ein völkerrechtlich selbständiger Staat (vom NS-Regime geschützter Fremdstaat) geblieben" (Urteil des 16. Senats des Bayerischen LSG vom 08.11.2006, L 16 R 891/05 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 18.03.1982, a. a. O.; so im Ergebnis auch Bayerisches LSG, Urteil vom 27.04.2006, Az.: L 13 R 61/06). Auch eine Besetzung der Slowakei durch das Deutsche Reich ist nicht anzunehmen, weil die deutsche Staatsführung nicht in die innenpolitischen Verhältnisse der Slowakei eingegriffen hat (vgl. Urteil des 16. Senats des Bayerischen LSG vom 08.11.2006, a.a.O. und Urteil des erkennenden Senats vom 16.02.2012, L 6 R 345/11 m.w.N.).

Gestützt auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hat das Bayerische LSG in ständiger Rechtsprechung eine Eingliederung der damaligen Slowakei in das Gebiet des Deutschen Reiches bzw. eine Besetzung durch Truppen des Deutschen Reiches verneint (vgl. hierzu z.B. auch Beschlüsse vom 23.01.2007 - L 14 R 613/06 und vom 07.02.2007 - L 14 R 65/06, m.w.N.).

Der erkennende Senat hält es bei unveränderter Sach- und Rechtslage nicht für geboten, weitere historische Gutachten zum Status der Slowakei im streitgegenständlichen Zeitraum einzuholen. Insoweit wird auch auf die ausführlichen Entscheidungsgründe im Urteil des erkennenden Senats vom 16.02.2012 (L 6 R 345/11) Bezug genommen.

Nach alledem war der Berufung der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Ziffern 1 und 2 SGG liegen nicht vor (vgl. auch hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 16.02.2012, a. a. O.).
Rechtskraft
Aus
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