L 13 R 470/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 14 R 220/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 13 R 470/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 13 R 3/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ist ein bindender Feststellungsbescheid bei Erlass eines inzwischen bestandskräftig gewordenen Rentenbescheids nicht aufgehoben worden, so begründet § 44 SGB X nach seinem Sinn und Zweck (Restitutionsgedanke) keinen Anspruch auf eine Rentenfeststellung, die auf den dem Feststellungsbescheid zugrunde liegenden und bis zum Erlass des Rentenbescheides geänderten bzw. außer Kraft getretenen Vorschriften beruht (Anschluss an die Entscheidung des 6. Senats des Bayer. Landessozialgerichts; L 6 R 332/10).
2. Mit dem Eintritt der Bestandskraft des Rentenbescheids endet die Bindung des Rentenversicherungsträgers an den früheren Feststellungsbescheid.
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München
vom 23. April 2009 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger unter Einbeziehung weiterer Anrechnungszeiten Anspruch auf eine höhere Altersrente hat.

Für den 1941 geborenen Kläger wurden im Feststellungsbescheid der Seekasse vom 08.02.1989 nach § 1325 Abs. 3 RVO die Zeiten im beigefügten Versicherungsverlauf bis 31.12.1982 verbindlich festgestellt. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass über die Anrechnung und Bewertung der Daten erst bei Feststellung einer Leistung entschieden werde. Nach dem Versicherungsverlauf absolvierte der Kläger u.a.
- vom 04.05.1957 (Vollendung des 16. Lebensjahres) bis 29.03.1958 (Datum des Abiturzeugnisses) eine 11-monatige "Schulausbildung",
- vom 01.08.1963 bis 30.09.1963 eine zweimonatige "Hochschulausbildung"; für den selben Zeitraum liegen auch Pflichtbeiträge vor,
- vom 10.10.1963 bis 31.10.1963 eine einmonatige "Hochschulausbildung"; für den Zeitraum vom 01.10.1963 bis 09.10.1963 ist auch ein Pflichtbeitrag ausgewiesen.

Insgesamt sind in dem Versicherungsverlauf 11 Monate Schulausbildung und 35 Monate Hochschulausbildung ab 01.04.1963 bis 10.02.1966 genannt (d.h. in der Summe 46 Monate).

In der Rentenauskunft vom 08.09.1997 wurde die Zeit der Schulausbildung vom 04.05.1957 bis 29.03.1958 nicht mehr angerechnet.

Mit Bescheid vom 29.03.2001 wurde dem Kläger ab 01.06.2001 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit gewährt. Im Versicherungsverlauf heißt es:
04.05.1957 - 29.03.1958 Schulausbildung, keine Anrechnung.
Ausgewiesen sind außerdem insgesamt 32 Monate mit Hochschulausbildung; in den Zeiten, in denen zugleich Pflichtbeiträge vorliegen (insgesamt 3 Monate), ist der Hochschulausbildung im Versicherungsverlauf keine Zahl an Monaten zugeordnet.

Eine Aufhebung des Bescheids vom 08.02.1989 ist dem Rentenbescheid nicht vorausgegangen. Auch im Rentenbescheid wurde der Feststellungsbescheid vom 08.02.1989 nicht erwähnt. Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.03.2001 wurde nicht erhoben.

Am 12.11.2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf Urteile des Bundessozialgerichts vom 30.04.2004 (B 4 RA 36/02 R) und des Bayer. Landessozialgerichts vom 10.08.2005 (L 13 R 4204/03), die Altersrente neu festzustellen und der Berechnung 46 Kalendermonate mit Anrechnungszeiten für Schul- und Hochschulbesuch zu Grunde zu legen.

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 20.09.2007 nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab. Ein Anspruch auf Rücknahme des Rentenbescheids hinsichtlich der Rentenhöhe bestehe nicht. Sie wies darauf hin, dass bei Erlass des Rentenbescheids nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) Anrechnungszeiten wegen Schulausbildung nur noch ab Vollendung des 17. Lebensjahres berücksichtigt werden könnten. Die Nichtberücksichtigung der geltend gemachten Zeiten entspreche den geltenden gesetzlichen Bestimmungen; zudem habe der Bescheid Bestandskraft erlangt. Auch wenn in einem früheren Bescheid entsprechend der seinerzeit geltenden Rechtslage eine Versicherungszeit vorgemerkt und später nicht mit hinreichender Bestimmtheit aufgehoben worden sei, habe der Kläger keinen Anspruch auf eine höhere Altersrente.

Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 14.01.2008 zurückgewiesen. Im Unterschied zu den vom Bundessozialgericht entschiedenen Fällen sei im vorliegenden Fall der Rentenbescheid bereits bestandskräftig geworden. Es sei nicht Sinn und Zweck des Überprüfungsverfahrens, mehr Sozialleistungen zu gewähren, als dem Berechtigten nach der materiellen Gesetzeslage insgesamt tatsächlich zustünden. Nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGB VI seien Anrechnungszeiten solche Zeiten, in denen der Versicherte nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht habe, insgesamt höchstens bis zu 8 Jahren. Die Zeit der schulischen Ausbildung vom 04.05.1957 bis 29.03.1958 habe daher nach dem am 29.03.2001 geltenden Recht nicht als Anrechnungszeit anerkannt werden können. Die übrigen Zeiten der schulischen Ausbildung (Hochschulausbildung) seien - wie auch im Feststellungsbescheid vom 08.02.1989 ausgewiesen - komplett als Anrechnungszeiten berücksichtigt worden. Bei der Rentenberechnung seien sie lediglich zum einen als beitragsfreie und zum anderen als beitragsgeminderte Zeiten ausgewiesen worden, da für einige Kalendermonate zeitgleich Pflichtbeiträge entrichtet worden seien. Das geltende Recht sei daher zum Zeitpunkt der Bescheiderteilung korrekt angewandt worden.

Mit der Klage vor dem Sozialgericht München hat der Kläger sein Anliegen weiterverfolgt und beantragt, die Zeiten der Schul- und Fachschulausbildung entsprechend dem Vormerkungsbescheid vom 08.02.1989 in vollem Umfang von 46 Kalendermonaten zu berücksichtigen.
Auf gerichtliche Nachfrage hat die Beklagte ausgeführt, dass es hier - anders als bei dem Urteil des Bundessozialgerichts - nur um die Anrechnung bzw. Bewertung von Zeiten der Schulausbildung ab Vollendung des 16. Lebensjahres bis zur Vollendung des 17. Lebensjahres gehe. Eine etwaige Höchstdauer sei vorliegend nicht tangiert. Bei der Rentenauskunft vom 08.09.1997 sei die gesetzliche Neuregelung durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz vom 26. September 1996 (WFG) bereits berücksichtigt worden. Eine formelle Aufhebung einer anerkannten rentenrechtlichen Zeit sei nicht erforderlich gewesen, da mit dem Rentenbescheid erstmalig lediglich über die Bewertung der streitgegenständlichen rentenrechtlichen Zeiten zu entscheiden gewesen sei.

Die Klage ist mit Urteil vom 23.04.2009 zurückgewiesen worden. Aus § 44 SGB X folge der Anspruch, rechtlich so gestellt zu werden, als hätte die Behörde von vornherein richtig entschieden. Zwar habe die Beklagte bei Erlass des Rentenbescheids vom 29.03.2011 insoweit rechtswidrig gehandelt, als zuvor bereits bindend festgestellte Ausbildungszeiten nicht berücksichtigt worden seien. Der Verwaltungsakt vom 08.02.1989 habe sich nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 30.03.2004 auch nicht unmittelbar kraft Gesetzes erledigt. Vielmehr hätte die Beklagte bei rechtmäßigem Verwaltungshandeln zunächst in einem gesonderten Bescheid den Feststellungsbescheid vom 08.02.1989 insoweit aufheben müssen, als Ausbildungszeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres anerkannt worden seien. Bei so beschriebenem rechtmäßigem Verwaltungshandeln hätte die Beklagte die Altersrente aber nicht anders berechnen können, als dies mit Bescheid vom 29.03.2001 geschehen sei. Der Kläger habe daher keinen Anspruch auf Aufhebung des bereits bestandskräftigen Rentenbescheids vom 29.03.2001 und auf Feststellung einer höheren Altersrente.

Gegen das am 19.05.2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 04.06.2009 Berufung eingelegt und weiterhin beantragt, die Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung entsprechend dem Bescheid vom 08.02.1989 in Höhe von insgesamt 46 Monaten zu berücksichtigen. Er hat hilfsweise beantragt, das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob das derzeitige Zwei-Klassenrecht für die unterschiedlichen Altersvorsorgesysteme noch mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Das Bayerische Landessozialgericht hätte in einem vergleichbaren Fall zu § 44 SGB X darauf hingewiesen, dass zur Beachtung der materiellen Rechtslage auch die Bindungswirkung von bestandskräftigen Verwaltungsakten gehöre. Die Beklagte hätte daher entweder die Feststellungen aus dem Kontenklärungsbescheid übernehmen oder diesen Bescheid aufheben müssen. Der Kläger habe bei Erlass des Rentenbescheids einen materiell-rechtlichen Anspruch darauf gehabt, dass der Rentenberechnung die bindend gewordenen Feststellungen zugrunde gelegt würden.

Bis zum Abschluss eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (1 BvR 718/09 zu BSG vom 13.11.2008 - B 13 R 77/07 R) wurde das Verfahren vorübergehend ruhend gestellt.
Der Kläger hat danach erklärt, dass er die Klage aufrecht erhalte, weil das Thema vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gebracht werde.
Die Beklagte hat sich insoweit auf einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München (S 12 R 2182/11) in einer anderen Angelegenheit des Klägers bezogen, wonach eine Beschwerde beim EGMR kein Ruhen des Verfahrens erfordere.

In der mündlichen Verhandlung am 12.12.2012 hat der Vertreter der Beklagten erklärt, dass sich nach seinen fiktiven vorläufigen Berechnungen ein höherer Rentenwert ergebe, wenn zusätzlich 11 Monate Schulausbildung ab dem 16. Lebensjahr berücksichtigt würden.

Der Kläger hat den Antrag gestellt,
das Urteil des SG Münchens vom 23. April 2009 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20. September 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Januar 2008 zu verpflichten, unter Abänderung des Rentenbescheids vom 29. März 2001 die Altersrente unter Berücksichtigung der Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung entsprechend dem Bescheid vom 8. Februar 1989 in Höhe von insgesamt 46 Monaten zu berücksichtigen und zu bewerten.

Der Vertreter der Beklagten hat beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Akte der Beklagten sowie des gerichtlichen Verfahrens Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid vom 20.09.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.01.2008, mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, den Rentenbescheid vom 29.03.2001 abzuändern, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Berücksichtigung weiterer Anrechnungszeiten.
Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
1. Der Rentenbescheid vom 29.03.2001 ist zwar nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Bindungswirkung von Vormerkungsbescheiden rechtswidrig.
Der Kläger beruft sich insoweit auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.03.2004 (B 4 RA 36/02 R). Dem Urteil des BSG lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem es auch um Zeiten der Schulausbildung ab dem 16. Lebensjahr und (begrenzte) Zeiten der Hochschulausbildung ging. Das BSG hat die im Vormerkungsbescheid enthaltenen einzelnen Regelungen über den Rechtscharakter und zeitlichen Umfang der rentenrechtlichen Vorleistung "Ausbildung" als nach § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der Sache bindend angesehen. Da der Vormerkungsbescheid nicht durch einen hinreichend bestimmten Verwaltungsakt aufgehoben worden war, war die Rentenhöchstwertfestsetzung im Rentenbescheid rechtswidrig. Der Kläger habe davon ausgehen können, dass der Vormerkungsbescheid Bestand habe, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben werde oder sich durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledige (§ 39 Abs. 2 SGB X).
Die Beklagte hat auch hier die Bindungswirkung des Feststellungsbescheids (§ 77 SGG) teilweise missachtet.
Sie hat keine Aufhebung des Vormerkungsbescheids - weder mit gesondertem Bescheid noch in dem Rentenbescheid - vorgenommen. Die Rentenauskunft der Beklagten vom 08.09.1997 hat nicht zur Aufhebung geführt; es handelt sich bei Rentenauskünften nicht um Verwaltungsakte.
1.1. Soweit der Feststellungsbescheid die Hochschulzeiten betrifft, sind diese Zeiten der Rentenberechnung auch zu Grunde gelegt worden. Bei den Monaten August und September 1963 sowie Oktober 1963 hat gerade deren Berücksichtigung als Hochschulzeit zur Einordnung dieser Monate als beitragsgeminderte Zeit geführt, da in diesen Monaten auch Pflichtbeiträge vorlagen.
Die Bewertung der Ausbildungszeiten/Hochschulzeiten hat der Kläger nicht ausdrücklich angegriffen. Hierzu könnte sich der Kläger von vorneherein nicht auf die Bindungswirkung des Vormerkungsbescheids berufen. Denn über die Bewertung der Zeiten wird erst bei der Anspruchsverwirklichung entschieden (§ 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI).
Abgesehen davon hat die Beklagte zutreffend eine begrenzte Gesamtleistungsbewertung nach § 74 SGB VI in der bis 31.12.2001 geltenden Fassung vorgenommen. Danach wird der sich aus der Gesamtleistungsbewertung ergebende Wert für jeden Kalendermonat mit Anrechnungszeiten wegen beruflicher oder schulischer Ausbildung auf 75 v.H. begrenzt. Zusätzlich darf die begrenzte Gesamtleistungsbewertung für Zeiten beruflicher oder schulischer Ausbildung für einen Kalendermonat 0,0625 Entgeltpunkte nicht übersteigen. An der Verfassungsmäßigkeit dieser bereits mit dem Rentenreformgesetz 1992 vom Gesetzgeber geschaffenen Regelung hat der Senat keinen Zweifel. Der Gesetzgeber darf einer "Ausbildungszeit" einen geringeren Wert beimessen als einer entgeltlichen Beschäftigung auf der Basis des Durchschnittseinkommens. (vgl. Urteil des Senats vom 10.08.2005 - L 13 R 4204/03, juris Rn. 32ff; vgl. auch zur weiteren Gesetzesänderung BSG, Urteil vom 19.04.2011 - B 13 R 27/10 R).
1.2. Die Beklagte hat die Bindungswirkung jedoch insoweit missachtet, als die im Feststellungsbescheid vom 08.02.1989 festgestellten 11 Monate Schulausbildung vom 04.05.1957 bis 29.03.1958 im Rentenbescheid nicht berücksichtigt wurden. Nach dem im Zeitpunkt des Feststellungsbescheids geltenden Recht des § 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO handelte es sich bei den nach der Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden Zeiten der weiteren Schulausbildung um Ausfallzeiten. Durch die Zuordnung im Versicherungsverlauf war insoweit eine Festlegung erfolgt.
Gegenstand eines Vormerkungsbescheides ist zwar nicht die abschließende Entscheidung über die Anrechnung und Bewertung dieser Zeiten; über diese wird nach § 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI erst bei Feststellung einer Leistung entschieden (vgl. hierzu auch BSG SozR 3-2200 § 1325 Nr. 3 S 6). Durch den Vormerkungsbescheid werden aber rechtserhebliche Tatbestände von beitragsfreien Zeiten für die jeweiligen Bezugsmonate verbindlich festgestellt mit der Folge, dass diese Zeiten als sog beitragsfreie Zeiten im Leistungsfall grundsätzlich zu berücksichtigen sind (so BSG, Urteil vom 30.03.2004, a.a.O, juris Rn. 16). Verbindlich festgestellt werden im Vormerkungsbescheid sowohl der Rechtscharakter der rentenrechtlichen Zeit als auch deren zeitlicher Umfang und damit, ob ein behaupteter Anrechnungstatbestand nach seinen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen nach dem zum Zeitpunkt des Erlasses des Vormerkungsbescheides geltenden materiellen Recht erfüllt ist, so dass die Möglichkeit besteht, dass er rentenrechtlich relevant werden kann. Dies gilt insbesondere für die Berücksichtigung der Ausbildungs-Anrechnungszeiten im Rahmen der Vorleistungsbewertung und Grundbewertung (§ 72 SGB VI). Die bindend festgestellte Anzahl der Monate mit Ausbildungsanrechnungszeiten ist im Zusammenhang mit dem Umfang des belegungsfähigen Gesamtzeitraums (§§ 71, 72 Abs. 2 und 3 SGB VI) bedeutsam, da diese als nichtbelegungsfähig außer Betracht bleiben und damit den Gesamtleistungswert mindern.
Die Rechtsbindung erstreckt sich damit zumindest darauf, dass wertbildende Faktoren im Sinne der Gesamtleistungsbewertung als Ausfall- bzw. Anrechnungszeiten für die jeweiligen Bezugsmonate bestehen. Nach den Angaben des Beklagtenvertreters würde sich bei Berücksichtigung der 11 Monate Schulausbildung ein höherer Rentenbetrag ergeben.
2. Die Missachtung der Bindungswirkung des Feststellungsbescheids bei Erlass des Bescheids vom 29.03.2001 führt jedoch nicht dazu, dass der Rentenbescheid unter Durchbrechung seiner Bestandskraft abzuändern ist.
Der Senat teilt insoweit die Auffassung des Sozialgerichts (vgl. auch Urteil des 6. Senats des Bayer. Landessozialgerichts vom 24.05.2011- L 6 R 332/10, juris; aA BayLSG, Urteil vom 17.12.2009 - L 14 R 916/08). § 44 SGB X dient nach seinem Sinn und Zweck der Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit.
Das Begehren des Klägers ist hier nicht nur auf Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts, sondern auch auf Ersetzung durch einen Neubescheid gerichtet. Es muss also über den ursprünglichen Antrag neu entschieden werden, bei dem die Sach- und Rechtslage bei Erlass des früheren Verwaltungsakts zu berücksichtigen ist, aber auch alle Änderungen seither, soweit sie sich auf den Betroffenen ausgewirkt hätten.
Dabei enthält § 44 SGB X den Restitutionsgedanken, dass der Berechtigte so zu stellen ist, als hätte die Verwaltung von vorneherein richtig entschieden (vgl. Steinwedel, in: Kasseler Kommentar, § 44 SGB X Rn. 26; vgl. BSGE 85, 151, 159; 62, 143, 146).
2.1 Der Kläger hatte bei Erlass des Rentenbescheids keinen Anspruch auf Berücksichtigung der Schulzeiten vor dem 17. Lebensjahr.
Schulzeiten vor Vollendung des 17. Lebensjahres können seit Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Rentenversicherung und Arbeitsförderung (Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz - WFG - vom 25.09.1996, BGBl I S 1461) nicht mehr Berücksichtigung bei der Rentenberechnung finden.
Die Neuregelung des § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI durch das WFG war nach Überzeugung des Senats auch verfassungsgemäß. Die Aussetzung des Rechtsstreits wegen einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht kommt nicht in Betracht. Der Senat folgt vielmehr der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 117, 272, 296 ff.; BSG, Urteil vom 13.11.2008, B 13 R 77/07 R, juris Rn. 24ff). Der Eingriff des Gesetzgebers in die Rentenanwartschaften diente einem Gemeinwohlzweck. Bei der Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ist u.a. zu berücksichtigen, dass die Zurücklegung der schulischen Ausbildung nicht auf einer eigenen Beitragsleistung beruht. Sie begründet noch keinen personalen Bezug zur Rentenversicherung, sondern liegt im Verantwortungsbereich des Versicherten.
Nach der konkludenten Wiederaufnahme des Verfahrens hatte der Senat das Verfahren auch nicht erneut im Hinblick auf einen Rechtsstreit vor dem EGMR auszusetzen oder zum Ruhen zu bringen. Ein Verstoß gegen die Rechte der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist nicht ersichtlich. Davon unabhängig besteht eine eigene Vorlagemöglichkeit des Senats nicht. Es handelt sich bei den Entscheidungen des EGMR auch nicht um höchstinstanzliche Entscheidungen, die die Rechtskraft einer Entscheidung beseitigen könnten.
2.2 Zwar hatte die Beklagte auch die Bindungswirkung des § 77 SGG zu beachten.
Diese hätte aber bei richtiger Bearbeitung des Rentenantrags überwunden werden können und müssen. Um das zum Zeitpunkt des Rentenbeginns nach § 300 SGB VI maßgebliche Recht zur Geltung zu bringen (Art. 20 Abs. 3 GG), hätte die Beklagte den entgegenstehenden Feststellungsbescheid aufheben müssen. Diesbezüglich hatte sie kein Ermessen, vgl. § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI. §§ 24 und 48 SGB X waren insoweit nicht anzuwenden. Um dieser Verpflichtung Genüge zu tun, hätte sie den Feststellungsbescheid unzweifelhaft nicht nur aufheben können, sondern müssen. Dies hätte sie entweder gesondert, aber auch noch im Rentenbescheid bzw. sogar noch ggf. im Widerspruchsbescheid (s. BSG, Urteil vom 13.11.2008 - B 13 R 43/07 R, juris Rn. 17; Urteil vom 13.11.2008 - B 13 R 77/07 R, juris Rn. 20ff) vollziehen können. Dem Gesetzgeber war bei Schaffung des § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI mit Wirkung zum 01.01.1998 daran gelegen, verwaltungsaufwändige Verfahren zu vermeiden (BTDrucks 13/8994 S. 69).
Die Beklagte war somit im Zeitpunkt des Erlasses des Rentenbescheids nicht daran gehindert, die aktuelle Rechtslage zur Rentenberechnung umzusetzen. Dauer und Umfang der Verbindlichkeit von Daten aus bindenden Feststellungsbescheiden sind durch § 149 Abs. 5 Satz 2 SGB VI eindeutig begrenzt. Bei Erlass des Rentenbescheids gab es daher nur eine im Rahmen der Gesetzesbindung richtige Handlungsweise der Beklagten. Zwar stellt die gesetzeskonforme Aufhebung des Feststellungsbescheids eine potentielle Fehlerquelle dar. Es ist aber bei einer rückschauenden Betrachtung unter dem Blickwinkel der materiellen Gerechtigkeit nicht einzusehen, wieso der Kläger durch einen vermeidbaren Fehler der Beklagten bei der Verfahrensweise besser stehen soll, als wenn die Behörde sich von vorneherein rechtmäßig verhalten hätte. Der Fehler hätte zudem auch noch in einem Widerspruchsverfahren korrigiert werden können.
Nach Ansicht des Senats kann sich der Kläger hier auch nicht mehr auf schützenswertes Vertrauen in den Bestand des Feststellungsbescheids berufen. Der Kläger stützt die Anwendung des § 44 SGB X darauf, dass die Aufhebung des Feststellungsbescheids nicht (rechtzeitig) erfolgt sei. Ein Vertrauen in den Bestand eines begünstigenden Verwaltungsakts kann aber nur solange bestehen, wie jene frühere Verwaltungsentscheidung nicht durch einen, wiederum selbst bestandskräftigen, actus contrarius außer Kraft gesetzt wurde (so überzeugend Steinwedel, DAngVers 9/89, 372, 374, vgl. auch Kasseler Kommentar, § 44 Rn. 41). Der vorgesehene Weg zur Durchsetzung vertrauensschützender Normen ist die fristgerechte Anfechtung hiergegen verstoßender Entscheidungen. Wird eine solche Entscheidung ohne fristgerechte Anfechtung hingenommen, kann sich der Betroffene nicht mehr darauf berufen, er habe noch Vertrauen in den Bestand des längst beseitigten früheren Verwaltungsaktes (s. Steinwedel, a.a.O.). Mit dem Eintritt der Bestandskraft des Rentenbescheids endet die Bindung des Rentenversicherungsträgers an die früheren Vormerkungsbescheide (vgl. auch BayLSG vom 24.05.2011, L 6 R 332/10, juris Rn. 26).
Es widerspricht auch nicht dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dass in dem vorliegenden Fall auf der Grundlage des § 44 SGB X anders als bei einer fristgemäßen Klage gegen den ursprünglichen Rentenbescheid (und einem ggf. fehlerhaften Widerspruchsbescheid) zu entscheiden ist. Die Unterscheidung je nach der verfahrensrechtlichen Situation ist für den Kläger zumutbar, da er es grundsätzlich in der Hand gehabt hätte, den Bescheid rechtzeitig anzugreifen. Es gehört zu den tragenden Prinzipien des Rechtsstaats, dass nach Abschluss eines Verfahrens durch unanfechtbare Entscheidung allenfalls ausnahmsweise eine neue Entscheidung in der Sache möglich ist. Die Verfassung als solche verpflichtet nicht dazu, rechtswidrige Verwaltungsakte ohne Rücksicht auf ihren formellen Rechtsbestand auf Antrag oder von Amts wegen zu beseitigen (vgl. BVerfG vom 11.10.1966 - BVerfGE 20, 230, 235; BVerfG vom 27.2.2007 - BVerfGE 117, 302, 315 = SozR 4-8100 Art 19 Nr. 1 RdNr 32). Vielmehr darf der Gesetzgeber bei der Regelung der Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer Verwaltungsakte zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Grundsatz der (materiellen) Gerechtigkeit abwägen.
Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass er von dem fehlerhaften Vorgehen der Beklagten erst durch die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 30.03.2004 (a.a.O) erfahren hat. Ein Wiedereinsetzungsgrund (vgl. § 67 SGG, § 27 SGB X) liegt bei fahrlässiger Unkenntnis der Gesetzeslage nicht vor. Die Berufung auf Vertrauensschutz aufgrund des Feststellungsbescheids wäre dem Kläger innerhalb der Anfechtungsfrist zumutbar gewesen.
Entscheidungen des BSG (insbesondere des 4. Senats vom 30.03.2004, a.a.O.) zur Bindung von Vormerkungsbescheiden stehen dem hier gefundenen Ergebnis nicht entgegen, da diese soweit ersichtlich noch nicht die Aufhebung unanfechtbarer Rentenbescheide zum Gegenstand hatten.
Die Kostenregelung berücksichtigt, dass der Kläger auch im Berufungsverfahren erfolglos geblieben ist (§ 193 SGG).
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da im Hinblick auf vergleichbare Rechtsstreitigkeiten eine grundsätzliche Bedeutung gegeben ist (vgl. Urteil vom 24.05.2011 - L 6 R 332/10).
Rechtskraft
Aus
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