S22 AS 17/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
22
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S22 AS 17/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage gegen die Beklagte wird abgewiesen. Die Beigeladene wird verpflichtet, den Antrag des Klägers auf Gewährung von Fahrtkosten für Besuche seines Sohnes in A. für die Zeit vom 13.01.2006 bis 30.06.2006 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Die Beigeladene hat dem Kläger dessen erstattungsfähige außergerichtliche Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob und in welchem Umfang der Kläger die Erstattung von Fahrtkosten verlangen kann, die ihm durch Besuche seines Sohnes in Ausübung seines Umgangsrechts entstanden sind.

Der xxx geborene Kläger ist der Vater des am xxx geborenen Kindes A., das in den vorliegend in Rede stehenden Monaten des Jahres 2006 mit seiner Mutter, der früheren Lebensgefährtin des Klägers, in A. lebte.

Am 20.7.2005 schloss der Kläger mit A.´s Mutter vor dem Familiengericht eine vorläufige Umgangsvereinbarung, in der ihm das Recht zugestanden wurde, "den Umgang mit seinem Kind A ...14-tägig an einem Wochentag für etwa 2 – 3 Stunden ...gemäß vorheriger Absprache ...wahrzunehmen". Diese Umgangsvereinbarung sollte ab 20.8.2005 für "etwa 6 Monate" gelten. Daneben sollten "weitere Umgangskontakte jeglicher Art (Telefongespräche, Briefe)" ausgeschlossen sein.

Am 28.12.2005 beantragte der Kläger, der für die Zeit ab 1.1.2005 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bezieht, bei der Beklagten Leistungen zur Wahrnehmung seines Umgangsrechts und machte insoweit "bis auf Weiteres" einen Bedarf von monatlich 255,67 EUR geltend. Zur Begründung führte er aus, dass sich die Fahrtkosten für Hin- und Rückreise laut Auskunft der Deutschen Bahn AG pro Termin auf 118 EUR beliefen, so dass sich bei 13 Umgangsterminen in 6 Monaten ein Sonderbedarf von 255,67 EUR monatlich ergebe.

Nachdem er der Beklagten mitgeteilt hatte, dass ihm im Rahmen einer vorläufigen Umgangsregelung ein Besuchstermin am 13.1.2007 zugestanden worden sei, (zu dem der Kläger dann mit einem Mietwagen anreiste), erklärte sich die Beklagte mit Bescheid vom 4.1.2006 bereit, die "angemessenen" Kosten für diese Fahrt nach A. als Darlehen zu übernehmen. Die Kosten seien unter Ausnutzung sämtlicher Einsparmöglichkeiten so gering wie möglich zu halten. Für anschließende Besuchsfahrten sei eine Kostenübernahme jeweils immer gesondert zu beantragen.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 6.1.2006 Widerspruch ein, mit dem er die lediglich darlehensweise und außerdem auch nur jeweils auf eine Besuchsfahrt beschränkte Hilfegewährung beanstandete.

Ebenfalls am 6.1.2006 stellte er einen erneuten Fahrtkostenantrag für einen Besuchstermin am 27.1.2006 und die in jeweils 14-tägigem Abstand nachfolgenden Tage.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20.1.2006 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 4.1.2006 zurück. Sie vertrat die Ansicht, dass Beihilfen für Sonderbedarfe im Rahmen des SGB II nur nach § 23 Abs. 3 SGB II gewährt werden könnten. Fahrtkosten zur Wahrung des Umgangsrechts würden von dem Leistungskatalog dieser Vorschrift jedoch nicht umfasst.

Daraufhin hat der Kläger am 30.1.2006 die vorliegende Klage erhoben.

Zuvor hatte die Beklagte mit Bescheid vom 18.1.2006 – darlehensweise – Leistungen für den Besuchstermin am 27.1.2006 in Höhe von 118 EUR und ab 1.2.2006 in Höhe von 236 EUR monatlich bewilligt, die sie jeden Monat im Voraus gewähren werde.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 27.1.2006 wegen der lediglich darlehensweisen Leistungsgewährung ebenfalls Widerspruch eingelegt, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10.2.2006 zurückwies.

Daraufhin hat der Kläger am 17.2.2006 seine Klage entsprechend erweitert. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des SG Dresden, Az.: S 23 AS 982/05 ER führt er aus, dass die Leistungen zur Wahrung seines ihm als Vater verfassungsrechtlich garantierten Umgangsrechts in analoger Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 SGB XII von der Beklagten als Zuschuss zu gewähren seien. Eine lediglich darlehensweise Gewährung dieser regelmäßig immer wieder anfallenden Kosten würde ihn in eine Schuldenspirale treiben, und die Rückzahlung des Darlehens würde zu einer dauerhaften Unterdeckung seines Bedarfs führen. Es verstieße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden nur Leistungsberechtigte nach dem SGB XII eine Beihilfe für Fahrtkosten erhielten, Arbeitssuchende nach dem SGB II jedoch nicht. Obwohl er die Voraussetzungen für einen Antrag auf Privatinsolvenz erfülle, habe er den

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entsprechenden Antrag nicht gestellt, weil er durch die Verfahrensweise der Beklagten weiter Schulden anhäufe und dadurch nicht in den Genuss der Restschuldbefreiung kommen könne.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 4.1.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.1.2006 und ihres Bescheides vom 18.1.2006 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 10.2.2006 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 13.1.2006 bis zum Ende des bis zum 30.6.2006 reichenden Bewilligungszeitraums für die die laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt die alle zwei Wochen anfallenden notwendigen Fahrtkosten für den Besuch seines Sohnes in A. als verlorenen Zuschuss zu gewähren,

hilfsweise, die Beigeladene zu verpflichten, über die Gewährung eines verlorenen Zuschusses für diesen Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest, dass das SGB II eine endgültige Übernahme der Fahrtkosten durch den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht zulasse.

Die Beigeladene beantragt,

den Hilfsantrag abzuweisen.

Sie führt aus, dass die Kosten zur Wahrnehmung des Umgangsrechts den Regelleistungen zuzuordnen seien; eine Anwendung des § 73 SGB XII als Anspruchsgrundlage scheide damit aus.

Nachdem der Kläger auf Anregung des Gerichts im Hinblick auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 7.11.2006, Az.: B 7b AS 14/06, am 13.12.2006 bei der Beigeladenen die Übernahme der Kosten für Besuchsfahrten zu seinem inzwischen nach B. verzogenen Sohn beantragt hatte, hatte sich die Beigeladene mit Bescheid vom 12.1.2007 bereit erklärt, die Fahrtkosten des Klägers zu übernehmen. Mit Bescheid vom 27.3.2007 hatte sie dem Kläger dann aber mitgeteilt, dass sie ihre Rechtsauffassung geändert habe und ihm über den 31.3.2007 hinaus keine Leistungen zur Wahrnehmung seines Umgangsrechts mehr erbringen werde. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers ist noch nicht entschieden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf die zu dem Verfahren S 22 SO 101/07 eingereichten Verwaltungsvorgänge der Beigeladenen Bezug genommen; diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist mit dem Hauptantrag als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, aber nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, dem Kläger den beantragten Fahrtkostenzuschuss als Leistung nach dem SGB II zu gewähren. Denn eine solche Leistung lässt das SGB II nicht zu.

Nach dem Konzept dieses Gesetzes werden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mit Ausnahme der Kosten für Unterkunft und Heizung grundsätzlich in pauschalierter Form, nämlich durch die Regelleistung erbracht. Vorbehaltlich der vorliegend nicht einschlägigen Bestimmungen der §§ 21 und 23 Abs. 3 SGB II kommen darüber hinausgehende Leistungen nach dem SGB II nicht in Betracht, weil der gesamte Lebensunterhalt insoweit aus den Regelsätzen zu bestreiten ist (vgl. § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II). Deshalb kann der Träger der Grundsicherung nach dem SGB II weder in analoger Anwendung des § 28 Abs. 1 Satz 2, Alt. 2 des Sozialgesetzbuches Zwölftes (so aber Sozialgericht (SG) Dresden, Beschluss vom 5.11.2005, Az.: S 23 AS 982/05 ER; SG

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Stuttgart, Beschluss vom 22.9.2005, Az.: S 17 AS 5846/05 ER) in Anspruch genommen werden noch lässt sich das Begehren des Klägers rechtlich zulässig über die mit einem Erlass nach § 44 SGB II verbundene und damit ad absurdum geführte Darlehensgewährung nach § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB II verwirklichen (zu diesem Ansatz vgl. z. B. Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.3.2006, Az.; L 7 AS 363/05 ER, und vom 28.4.2005, Az.: L 8 AS 57/07; Verwaltungsgericht (VG) Bremen, Urteil vom 10.3.2006, Az.: S 3 K 379/05): Im Ergebnis würden beide Lösungswege zu einer Umgehung der vom Gesetzgeber ausgeschlossenen Erhöhung der Regelsätze führen (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 7.11.2006, Az.: B 7b AS 14/06 R; SG Darmstadt, Urteil vom 15.3.2006, Az.: S 18 AS 146/05).

Der als Verpflichtungsklage im Sinne einer Bescheidungsklage gegen die Beigeladene gerichtete Hilfsantrag ist zulässig. Insbesondere bedarf es keines Vorverfahrens seitens der Beigeladenen (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 75 Rdnr. 18) und kann gemäß 75 Abs. 5 SGG eine Verurteilung des nach § 75 Abs. 2, Alt. 2 SGG beigeladenen Sozialhilfeträgers erfolgen.

Der Bescheidungsantrag hat auch in der Sache Erfolg. Der Kläger kann nach § 39 des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I) beanspruchen, dass die Beigeladene über das Begehren des Klägers gemäß § 73 des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch (SGB XII) nach pflichtgemäßem Ermessen entscheidet.

§ 73 SGB XII bestimmt, dass Leistungen des Sozialhilfeträgers "auch in sonstigen Lebenslagen" erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen; Geldleistungen können als Beihilfe oder als Darlehen erbracht werden. In einer solchen "sonstigen Lebenslage" hat sich der Kläger in dem in Rede stehenden Zeitraum vom 13.1.2006 bis 30.6.2006 mit Blick auf seine familiäre Situation befunden.

Aus Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes ergibt sich, dass es auch dem nicht sorgeberechtigten Elternteil im Fall seiner wirtschaftlichen Bedürftigkeit aus staatlichen Mitteln ermöglicht werden muss, sein Umgangsrecht auszuüben (vgl. Bundes-verfassungsgericht, Beschluss vom 25.10.1994, Az.: 1 BvR 1197/93). Dementsprechend war unter der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) anerkannt, dass die Kosten des Umgangsrechts zu den persönlichen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehören, für die über die Regelsätze für den laufenden Lebensunterhalt hinaus einmalige oder laufende Leistungen zu erbringen waren (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 22.8.1995, Az.: 5 C 15/94; Oberverwaltungsgericht (OVG) fuer das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.12.1994, Az.: 24 A 3424/93; Beschluss vom 10.10.2002, Az.: 12 E 658/00)

Da es wegen der verfassungsrechtlichen Relevanz des Umgangsrechts – zum einen - außer Frage steht, dass der Staat auch nach der Ablösung des BSHG durch SGB II und XII die Ausübung des Umgangsrecht im Rahmen der ihm obliegenden Sicherung des Existenzminimums gewährleisten muss, und da – zum anderen - wie oben ausgeführt das Konzept des SGB II einer Leistungsgewährung nach jenem Gesetz prinzipiell entgegensteht, schließt sich das erkennende Gericht der Auffassung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7.11.2006, Az.: b 7b AS 14/06 R; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.2006, S 12 AS 4596/06 ER) an, wegen der besonderen Schwierigkeit, den Umgang mit dem eigenen Kind, das mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einen entfernt liegenden Wohnort verzogen ist, über längere Zeit aufrecht zu erhalten, eine atypische Bedarfslage anzunehmen, die die Anwendung des § 73 SGB XII rechtfertigt. In diesem Rahmen ermöglicht § 73 SGB XII die Übernahme der Fahrtkosten, die der nicht sorgeberechtigte Elternteil aufwendet, um das Umgangsrecht wahrzunehmen.

Der Anspruch des Klägers auf eine ermessensfehlerfreie Bescheidung seines Antrags nach § 73 SGB XII scheitert nicht an dem in § 18 SGB XII enthaltenen "Kenntnisgrundsatz". Nach Abs. 1 dieser Vorschrift setzt die Sozialhilfe u.a. bei den Leistungen nach § 73 SGB XII ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Absatz 2 bestimmt: Wird einem nicht zuständigen Träger der Sozialhilfe oder einer nicht

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zuständigen Gemeinde im Einzelfall bekannt, dass Sozialhilfe beansprucht wird, so sind die darüber bekannten Umstände dem zuständigen Träger oder der von ihm beauftragten Stelle unverzüglich mitzuteilen und vorhandene Unterlagen zu übersenden. Ergeben sich daraus die Voraussetzungen für die Leistung, setzt die Sozialhilfe zu dem nach Satz 1 maßgebenden Zeitpunkt ein.

Vorliegend hat die Beigeladene als zuständiger Sozialhilfeträger zwar erst von dem Bedarf erfahren, als der Kläger gemäß dem gerichtlichen Hinweis auf das oben erwähnte Urteil des Bundessozialgerichts vom 7.11.2006 am 13.12.2006 bei ihr einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Auch handelt es sich bei der beklagten Arbeitsgemeinschaft nicht um eine vom Sozialhilfeträger beauftragte Stelle im Sinne des § 18 SGB XII (vgl. SG Darmstadt, Urteil vom 26.1.2007, Az.: S 19 AS 238/06). Denn die nach nordrhein-westfälischem Landesrecht als Anstalten des öffentlichen Rechts errichteten Arbeitsgemeinschaften (vgl. § 3 Abs. 1 des nordrhein-westfälischen Ausführungsgesetzes zum SGB II) handeln nicht im Auftrag der Sozialhilfeträger, sondern sind im Verhältnis zu diesen unterschiedliche Behörden mit selbständigen Funktionen.

Dass sich die Beigeladene die Kenntnis der beklagten Arbeitsgemeinschaft dennoch zurechnen lassen muss, ergibt sich jedoch aus § 18 Abs. 2 SGB XII in Verbindung mit § 16 SGB I aus folgenden Erwägungen: Grundsätzlich gehen Irrtümer über den zuständigen Leistungsträger im Sozialrecht nicht zu Lasten des Hilfesuchenden. § 16 Abs. 2 Satz 1 SGB I bestimmt, dass der beim unzuständigen Leistungsträger gestellte Antrag unverzüglich an den zuständigen Träger weiterzuleiten ist. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt der Antrag zu dem Zeitpunkt als gestellt, in dem er beim unzuständigen Leistungsträger eingegangen ist, wenn die begehrte Leistung von einem Antrag abhängig ist. Bei den Leistungen der Sozialhilfe nach dem SGB XII (mit Ausnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) handelt es sich zwar - ebenso wie bei denen nach dem BSHG - um antragsunabhängige Leistungen. Solange § 5 BSHG in seiner dem § 18 Abs. 1 SGB XII entsprechenden Fassung galt, wurde im Anschluss an das Urteil des Bundesverwaltungsgericht vom 18.5.1995, Az.: 5 C 1/93) trotzdem zu Recht allgemein anerkannt, dass § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I grundsätzlich auch im Sozialhilferecht anwendbar sei. Habe der Sozialhilfeträger nämlich nicht schon anderweitig Kenntnis von der Bedürftigkeit, sondern erlange sie erst mit dem Antrag des Hilfesuchenden, so sei die Sozialhilfe von diesem Antrag, wenngleich nur mittelbar wegen der mit ihm vermittelten Kenntnis, abhängig. Dementsprechend sei die Sozialhilfe rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Antragstellung beim unzuständigen Träger zu gewähren.

Nachdem der Gesetzgeber die Vorschrift des § 5 BSHG a.F. mit Wirkung zum 01.08.1996 um einen (dem § 18 Abs. 2 SGB XII entsprechenden) Abs. 2 ergänzt hat, stellt sich die Frage, ob hierdurch bzw. durch § 18 Abs. 2 SGB XII die Anwendung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I im Bereich der Sozialhilfe ausgeschlossen worden ist (so Grube in Grube/Wahrendorf, SGB XII, § 18 Rdnr. 53; Dauber in Mergler/Zink, SGB XII, § 18 Rdnr. 27). Gegen eine solche Annahme spricht jedoch, dass dann derjenige, der Sozialhilfe beantragt, insoweit schlechter gestellt wäre als ein Antragsteller, dem es um andere Sozialleistungen geht. Das liefe aber dem Zweck der §§ 5 BSHG, 18 SGB XII zuwider, die den auf Sozialhilfe angewiesenen Personenkreis gegenüber Beziehern antragsabhängiger Leistungen durch einen erleichterten Leistungszugang begünstigen wollen. Da § 37 SGB I u. a. die Vorschrift des § 16 SGB I von dem Vorbehalt abweichender Regelungen in den Sozialgesetzbüchern für die einzelnen Sozialleistungsbereiche insgesamt nicht ausnimmt und § 2 Abs. 2 SGB I eine Gesetzesauslegung vorschriebt, bei der die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, muss § 18 Abs. 2 SGB XII bzw. § 5 Abs. 2 BSHG im Zweifel so ausgelegt werden, dass § 16 SGB I daneben noch möglichst weitgehend anwendbar bleibt. Dies ließe sich durch die Lesart erreichen, nach der § 5 Abs. 2 BSHG bzw. § 18 Abs. 2 SGB XII nur den Fall der Anspruchsbegründung ohne Antrag betreffen sollen. Von den mit Sozialhilfefällen vertrauten Leistungsträgern bzw. Gemeinden sei zu erwarten, dass sie auch ohne ausdrückliche Antragstellung das Vorliegen eines Sozialhilfebegehrens erkennen und die ihnen bekannt gewordenen Informationen an den zuständigen Sozialhilfeträger weiterleiten. Für die Anspruchsbegründung auf einen Antrag hin sei aber § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I weiterhin anwendbar (so Niedersächsisches OVG, Urteil vom 19.1.1999, Az.: 4 L 2970/98 und vom 21.10.1999, Az.: 12 L 3780/99; VG Braunschweig, Urteil vom 15.1.2002, Az.: 4 A 318/00; Armborst/Birk in LPK-SGB XII, § 18 Rdnr. 13f.; offen gelassen von Neumann in Hauck/Noftz, SGB XII, § 18, Rdnr. 12).

Selbst wenn man dieser Auffassung aber nicht folgen wollte, müsste eine Zurechnung der Kenntnis vorliegend jedenfalls über § 18 Abs. 2 SGB XII erfolgen, indem der Begriff des "nicht zuständigen Trägers der Sozialhilfe" auch auf die beklagte Arbeitsgemeinschaft angewandt wird. Allerdings gehören Arbeitsgemeinschaften nicht zu den in § 3 SGB XII definierten Trägern der Sozialhilfe. Jedoch besteht für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit den Prinzipien der Bedürftigkeit, der

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Bedarfsdeckung durch pauschale Regelleistungen, der nur ausnahmsweisen Zulassung ergänzender Leistungen, der Anrechnung von Einkommen und Vermögen, der Finanzierung aus Steuermitteln eine strukturelle Identität mit den Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII (vgl. Münder in LPK-SGB II, Einleitung, Rdnr. 5). Der Sache nach handelt es sich bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II um Sozialhilfe für den durch § 7 SGB II bestimmten Personenkreis, der demgemäß durch § 21 SGB XII von den entsprechenden Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen wird. Vor diesem Hintergrund erscheint es vom Wortlaut des § 18 Abs. 2 SGB XII her noch vertretbar und vom Sinn der Vorschrift her geboten, Arbeitsgemeinschaften nach § 44 b SGB XII bei einer Fallkonstellation wie der vorliegenden als "unzuständige Träger der Sozialhilfe" anzusehen. Wegen ihrer vergleichbaren Nähe zu den (im wesentlichen mit denen des SGB II identischen) Leistungsangeboten der Hilfe zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB XII können sie ebenso wie ein Leistungsträger der Sozialhilfe nach § 3 SGB XII das Vorliegen eines diesbezüglichen Sozialhilfebegehrens erkennen, so dass es gerechtfertigt ist, auch sie der Mitteilungs- und Übersendungspflicht des § 18 Abs. 2 Satz 1SGB XII zu unterwerfen und gemäß Satz 2 die Sozialhilfe zu dem nach Satz 1 maßgebenden Zeitpunkt einsetzen zu lassen.

Ob dies auch dann gelten kann, wenn es sich - anders als bei der Hilfe in "sonstigen" Lebenslagen nach § 73 SGB XII - um eine der konkret umschriebenen besonderen Bedarfslagen der Kapitel 5 ff. des SGB XII handelt, die sich von der Sicherung des Lebensunterhalts klar abgrenzen lassen, mag dahinstehen. Geht es aber, wie vorliegend bei der Ausübung des Umgangsrechts, um einen Bedarf, der unter der Geltung des BSHG einhellig der Sicherung des Lebensunterhalts zugeordnet wurde und auch nach Inkrafttreten von SGB II und XII – jedenfalls bis zur Entscheidung des BSG vom 7.11.2006 – von einem erheblichen Teil der Rechtsprechung (vgl. z.B. Thüringer LSG, Beschluss vom 15.6.2005, Az.: L 7 AS 261/05 ER; SG Stuttgart, Beschluss vom 22.9.2005, Az.: S 17 AS 5846/05 ER; SG Dresden, Beschluss vom 5.11.2005, Az.: S 23 AS 982/05 ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14.3.2006, Az.; L 7 AS 363/05 ER, und vom 28.4.2005, Az.: L 8 AS 57/07; Verwaltungsgericht Bremen, Urteil vom 10.3.2006, Az.: S 3 K 379/05) und Literatur (vgl. O’ Sullivan, Die Sozialgerichtsbarkeit,

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2005, S. 369 (372)) sowie zunächst von der Beklagten selbst weiterhin als Teil des notwendigen Lebensunterhalts verstanden worden ist und von der Beigeladenen noch immer so verstanden wird, muss jedenfalls bis zum Bekanntwerden der Entscheidung des BSG eine hinreichend enge Verzahnung mit den Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhalts angenommen werden, die aus den oben dargelegten Gründen zur Anwendbarkeit des § 18 Abs. 2 SGB XII führt.

Dem Anspruch des Klägers steht auch nicht der sozialhilferechtliche Grundsatz entgegen, dass keine Hilfe für die Vergangenheit zu gewähren ist. Dieser Grundsatz, wie er vom Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 19.06.1980, Az.: 5 C 26.79) aus dem Wesen der Sozialhilfe als staatlicher Hilfe zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage hergeleitet worden ist und wie er für die antragsunabhängigen Leistungen des SGB XII auch weiterhin gilt (vgl. Rothkegel, Sozialhilferecht, S. 97), bedeutet, dass die Notlage auch noch im Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung fortbestehen muss. Sieht man vorliegend die Ausübung des Umgangsrechts als solche bzw. die Aufbringung der entsprechenden Fahrtkosten als Bedarf an, so ist dieser Bedarf durch die - wenn auch nur darlehensweise erbrachten - Leistungen der Beklagten bereits gedeckt worden. Jedoch gilt das Verbot von Leistungen für die Vergangenheit aus Gründen der Effektivität des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe und der Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. Rothkegel, a.a.O., S. 101) nicht ausnahmlos und ist auch vorliegend ein solcher Ausnahmefall anzuerkennen: Dass der Anspruch auf eine vom Gesetz als verlorener Zuschuss vorgesehene Leistung der Sozialhilfe nicht dadurch verloren gehen kann, dass die Notlage als solche schon durch die vom Sozialhilfeträger lediglich darlehensweise erbrachte Leistung behoben worden ist, versteht sich von selbst. Nichts anderes kann aber gelten, wenn – wie im Fall des Klägers - die in Streit stehende Sozialhilfeleistung von dem insoweit nicht zuständigen Träger darlehensweise erbracht worden ist, der Betroffene zur Durchsetzung seines Anspruchs auf verlorenen Zuschuss ein Klageverfahren betreibt und die vor dessen Abschluss die darlehenweise empfangenen Mittel bereits eingesetzt hat, weil die Deckung des Bedarfs, wie bei der Ausübung des Umgangsrechts, keinen Aufschub duldet.

Schließlich ist der Anspruch des Klägers auch nicht aufgrund der Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X erloschen. Denn es fehlt an dem hierfür erforderlichen Erstattungsanspruch der Beklagten gegen die Beigeladene nach §§ 102 ff. SGB X. Insbesondere kommt kein Erstattungsanspruch nach § 105 SGB X in Betracht. Zwar hat die Beklagte im Sinne des Abs. 1 dieser Vorschrift als unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht. Jedoch besteht gemäß § 105 Abs. 3 SGB X ein Erstattungsanspruch gegenüber Trägern der Sozialhilfe nur von dem Zeitpunkt ab, von dem ihnen bekannt war, dass die Voraussetzungen für ihre Leistungspflicht vorlagen. Nach dem ausdrücklichen Wortlaut dieser Vorschrift genügt insoweit eine (z.B. nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I oder § 18 Abs. 2 SGB XII bzw. § 5 Abs. 2 BSHG) zugerechnete Kenntnis nicht, sondern kommt es stets auf eine tatsächliche Kenntnis an (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.6.2000, Az.: 5 C 35/99; VG Leipzig, Urteil vom 21.8.2003, Az.: 2 K 2270/99; anders nur OVG des Saarlandes, Urteil vom 19.3.2004, Az.: 3 R 8/03, für die vorliegend aber nicht in Rede stehende Möglichkeit einer Zurechnung nach § 5 Abs. 1 BSHG bzw. § 18 Abs. 1 SGB II), die die Beigeladene im vorliegenden Fall seinerzeit aber eben noch nicht hatte. Im Übrigen dürfte die Annahme einer Erfüllung aber auch daran scheitern, dass eine nur darlehensweise Bewilligung hinter einem Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Antrag auf Gewährung eines verlorenen Zuschusses zurückbleibt.

Im Rahmen der Ermessensentscheidung, die die Beigeladene nach alledem gemäß § 73 SGB XII noch zu treffen hat, sind von ihr grundsätzlich nur die Kosten für die jeweils preisgünstigste zumutbare Fahrgelegenheit zugrunde zu legen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27.10.2006, Az.: L 7 AS 4806/06 ER-B). Allerdings wird die Beigeladene in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, ob und inwieweit die Beklagte durch ihre Vorgaben beim Kläger hinsichtlich der Höhe der Fahrtkosten und der Häufigkeit der Fahrten einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. Eine Kostenerstattung kommt selbstverständlich nur insoweit in Betracht, als der Kläger nachweist, dass er zu den von ihm angegebenen Terminen nicht nur tatsächlich zum Wohnort seines Sohnes gefahren ist, sondern dass diese Fahrten auch wirklich zu Besuchszwecken, und nicht vorrangig zwecks Wahrnehmung von Gerichts- oder Gutachterterminen oder aus anderen Gründen vorgenommen wurden. Durch die vom Gericht eingeholte Bescheinigung des Paritätischen Sozialwerks sind bisher jedenfalls erst sechs Besuchstermine im fraglichen Zeitraum nachgewiesen. Bei der Ausübung ihres Ermessens wird die Beigeladene schließlich auch

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zu berücksichtigen haben, dass § 73 SGB XII eine Leistungsgewährung nur insoweit vorsieht, als der Einsatz öffentlicher Mittel gerechtfertigt ist. Hieraus dürfte sich auch eine gewisse, wenn auch nur geringe Selbstbeteiligung des Klägers an den Fahrtkosten herleiten lassen, bei der die Wahrnehmung des Umgangsrechts noch nicht als unzumutbar erscheint.

Soweit die Beigeladene Leistungen als verlorenen Zuschuss bewilligt und die Beklagte entsprechende Beträge bereits darlehensweise erbracht hat, wird die Beigeladene den Anspruch des Klägers nach § 73 SGB XII durch Auszahlung an die Beklagte erfüllen, die den Kläger insoweit von dessen Verpflichtung zur Rückzahlung des Darlehens freistellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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