Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 12 AS 5755/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 822/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Für die Beschwerde gegen einen die Verzögerungsrüge eines Beteiligten zurückweisenden Beschluss des
Sozialgerichts fehlt jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis, weil dadurch die Rechtsstellung des Beteiligten in einem nachfolgenden Entschädigungsverfahren nach §§ 198 bis 202 GVG nicht beeinflusst werden kann.
2. Jedenfalls seit Inkrafttreten der §§ 198 bis 202 GVG besteht kein Raum mehr für die in der Rechtsprechung zuvor diskutierte „Untätigkeitsbeschwerde“, da der Gesetzgeber das Rechtschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer mit dem neuen Entschädigungsverfahren abschließend gelöst hat.
Sozialgerichts fehlt jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis, weil dadurch die Rechtsstellung des Beteiligten in einem nachfolgenden Entschädigungsverfahren nach §§ 198 bis 202 GVG nicht beeinflusst werden kann.
2. Jedenfalls seit Inkrafttreten der §§ 198 bis 202 GVG besteht kein Raum mehr für die in der Rechtsprechung zuvor diskutierte „Untätigkeitsbeschwerde“, da der Gesetzgeber das Rechtschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer mit dem neuen Entschädigungsverfahren abschließend gelöst hat.
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 17. Juli 2012, mit dem die Verzögerungsrüge vom 12.07.2012 zurückgewiesen wurde, wird verworfen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Klägerin) begehrt in der Hauptsache die (Weiter-)Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.11.2011.
Die Klägerin bezieht seit 2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Nach vorangegangener Bewilligung von Leistungen bis einschließlich 31.01.2012 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (im Folgenden: Beklagter) am 20.10.2011 einen Versagungs- und Entziehungsbescheid, gegen den die Klägerin nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 07.12.2011 beim Sozialgericht Chemnitz Klage (S 12 AS 5755/11) erhoben hat, ohne diese näher zu begründen; zur Klageerwiderung des Beklagten hat sie keine Stellungnahme abgegeben. Mit gerichtlichem Schreiben vom 18.06.2012 sind die Beteiligten zu der für den 17.07.2012 terminierten mündlichen Verhandlung geladen worden.
Mit Schreiben vom 12.07.2012, beim Sozialgericht am 16.07.2012 eingegangen, hat die Klägerin eine Verzögerungsrüge gemäß § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erhoben, weil dem Gericht seit Klageerhebung bekannt sei, dass der Beklagte keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelbetrages erbringe. Dem Gericht sei seit spätestens März 2012 (Inhalt der Verwaltungsakte) bekannt, dass der Beklagte seit Januar 2012 keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mehr erbringe. Leistungen würden mit fragwürdigen Begründungen verwehrt. Dies sei nicht nur mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar sondern verstoße zudem gegen die selbstvollziehenden Normen des ICESCR.
In der mündlichen Verhandlung am 17.07.2012 hat das Sozialgericht die Verzögerungsrüge durch Beschluss zurückgewiesen, da die erforderliche Untätigkeit des Gerichts aufgrund des vorliegenden Sachverhalts nicht gegeben sei. Gegen diesen Beschluss sei binnen eines Monats die Beschwerde zum Sächsischen Landessozialgericht zulässig.
Außerdem hat das Sozialgericht mit Urteil vom 17.07.2012 die Klage abgewiesen. Dagegen hat die Klägerin am 13.08.2012 beim Sächsischen Landessozialgericht Berufung eingelegt (L 7 AS 804/12), über die noch nicht entschieden ist.
Am 13.08.2012 hat die Klägerin beim Sächsischen Landessozialgericht auch Beschwerde gegen den die Verzögerungsrüge abweisenden Beschluss vom 17.07.2012 erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, die Verzögerungsrüge sei kein Rechtsmittel, das einer Entscheidung des Ausgangsgerichts bedürfe. Eine Prüfung der Wirksamkeitsvoraussetzungen obliege insoweit dem Ausgangsgericht nicht und es könne die Entschädigungspflicht nicht durch Verfahrenserledigung innerhalb der Sechsmonatsfrist abwenden. Das Gesetz gebe dem Gericht des Ausgangsverfahrens eine Frist, in der es das Verfahren fördern und so einer weiteren Verzögerung abhelfen könne. Der bereits eingetretenen Verzögerung könne es nicht mehr abhelfen.
Sie beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 17.07.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.
Er trägt vor, die Beschwerde sei entgegen der erteilten Rechtsbehelfsbelehrung unstatthaft und damit unzulässig. Das Sozialgericht habe nur mit Abhilfe bzw. Nichtabhilfe reagieren können. Letzteres sei geschehen. Dagegen sei kein Rechtsmittel gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und der Gerichtsakte im Verfahren S 12 AS 5755/11 bzw. L 7 AS 804/12 verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Offen bleiben kann, ob die Beschwerde gegen den die Verzögerungsrüge der Klägerin vom 12.07.2012 zurückweisenden Beschluss des Sozialgerichts bereits nicht statthaft ist (so OLG Rostock, Beschluss vom 25.07.2012 – I Ws 176/12, zitiert nach Juris, RdNr. 11). Der Beschwerde der Klägerin fehlt jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis und sie ist daher als unzulässig zu verwerfen.
Gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet die Beschwerde an das Landessozialgericht gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist. Zweifelhaft ist schon, ob eine Entscheidung des Sozialgerichts in diesem Sinne vorliegt.
Als Reaktion auf die seit Jahren geübte Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ((EGMR), vgl. Entscheidung vom 02.09.2010, Rechtssache R .../. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 46344/06, zitiert nach Juris) hat der Gesetzgeber mit dem Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl. I 2011, 2302 (ÜberlVfR¬SchG)) allgemeine Bestimmungen geschaffen, die als §§ 198 bis 201 GVG eingefügt wurden und gemäß § 202 SGG auch für die Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gelten. Damit sollte die Rechtsschutzlücke für Gefährdungen des durch Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährten Anspruchs der Bürger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit geschlossen werden, für den es bis zum 02.12.2011 keinen speziellen Rechtsbehelf gab. Nach der Übergangsvorschrift in Art. 23 ÜberlVfR¬SchG gilt das Gesetz auch für bereits anhängige Verfahren.
Der Gesetzgeber hat sich für eine Entschädigungslösung entschieden, um einem Betroffenen bei Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer die daraus resultierenden Nachteile (Vermögensnachteile und Wiedergutmachung) zu ersetzen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 15). Das neue Rechtsmittel kombiniert ein Instrument zur Beschleunigung des Verfahrens, die Verzögerungsrüge, die vor dem Gericht erhoben werden muss, bei dem die angebliche Verfahrensverzögerung eingetreten ist (im Folgenden: Ausgangsgericht), mit einer späteren Entschädigungsklage, die bei dem sog. Entschädigungsgericht erhoben werden muss. Allerdings soll der neue Anspruch keine unangemessenen Belastungen für die Gerichte bewirken: Die einer Entschädigungsklage vorgeschaltete Verzögerungsrüge soll dem Ausgangsgericht Gelegenheit zur Prüfung geben und eine Abhilfemöglichkeit eröffnen. Als Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch stellt sie lediglich eine Obliegenheit und keinen neuen Rechtsbehelf dar, so dass keine Pflicht zur förmlichen Entscheidung über die Verzögerungsrüge entsteht (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 5). Mit der Verzögerungsrüge soll ein konkret-präventiver Beschleunigungseffekt bewirkt werden, indem die Ausgangsgerichte im betreffenden Verfahren mit Abhilfe, also beschleunigter Verfahrensförderung, reagieren (so auch OLG Rostock, Beschluss vom 25.07.2012, a.a.O., RdNr. 13). Eine Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe ist nicht vorgesehen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 4). Damit soll dem Ziel der Gewährung von zeitnahem Rechtsschutz durch eine verfahrensimmanente Obliegenheit (Verzögerungsrüge) und durch die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs gegen die jeweilige für das betreffende Gericht zuständige Gebietskörperschaft Rechnung getragen werden, so dass regelmäßig für Lösungen der Problematik einer unangemessen langen Verfahrensdauer zwischen den Beteiligten und mit Bezug auf den Streitgegenstand kein Raum mehr ist (vgl. BSG, Beschluss vom 15.08.2012 – B 6 KA 15/12 B, zitiert nach Juris, mit Hinweis darauf, dass die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG vom 12.12.2005 – B 4 RA 220/04 B – überholt ist).
Der EGMR hat zudem anerkannt, dass das ÜberlVfR¬SchG verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter Berücksichtigung der Anforderungen der EMRK anzugehen. Er hat keinen Grund für die Annahme gesehen, der neue Rechtsbehelf werde nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung für berechtigte Klagen zu erhalten, oder keine hinreichenden Erfolgssaussichten bieten. Zudem ergebe sich ganz eindeutig, dass die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Entscheidung über Entschädigungsansprüche die Konventionskriterien so anwenden müssen, wie es der Rechtsprechung des EGMR entspricht; insbesondere sollte die verschuldensunabhängige Entschädigung im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls, die Dauer der Verzögerung und die Bedeutung ihrer Folgen für den Beschwerdeführer festgesetzt werden (vgl. EGMR, Entscheidung vom 29.05.2012, Nr. 53126/07, RdNrn. 39, 40).
§ 198 GVG sieht vor, dass angemessen entschädigt wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet (Abs. 1 Satz 1). Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge; Abs. 3 Satz 1), was das Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer berücksichtigt (Abs. 3 Satz 4). Das Entschädigungsgericht ist zuständig für die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (Abs. 4 Satz 1), die in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden kann (Abs. 4 Satz 3).
Aus der eindeutigen gesetzlichen Regelung und der Gesetzesbegründung zu § 198 GVG ergibt sich somit, dass eine Entscheidung des Ausgangsgerichts über die Verzögerungsrüge nicht vorgesehen ist. Der Beschluss des Sozialgerichts vom 17.07.2012 zur Verzögerungsrüge vom 12.07.2012 geht daher ins Leere. Denn die Verzögerungsrüge dient der Vorwarnung, ohne ein eigenständiges Verfahren einzuleiten oder eine Pflicht zur förmlichen Entscheidung auszulösen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 20). Der Beschluss vom 17.07.2012 bleibt darüber hinaus wirkungslos, weil dem Ausgangsgericht insofern keine eigene Entscheidungszuständigkeit übertragen ist, also auch nicht die Befugnis, selbst festzustellen, ob das Verfahren unangemessen lang dauert oder nicht. Denn ausschließlich das Entschädigungsgericht kann in eigener Zuständigkeit gemäß § 198 Abs. 2 und Abs. 4 GVG i.V.m. § 201 GVG über die Entschädigung, deren Höhe und die Wiedergutmachung durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, entscheiden. Der Beschluss des Sozialgerichts kann das Entschädigungsgericht somit nicht binden und war daher überflüssig.
Daher fehlt der Klägerin für das Beschwerdeverfahren das Rechtsschutzbedürfnis. Denn unabhängig davon, ob allein deswegen von einer Entscheidung des Sozialgerichts i.S.d. § 172 Abs. 1 SGG die Rede sein kann, weil das Sozialgericht zur Verzögerungsrüge einen Beschluss gefasst hat, ohne dazu befugt zu sein – was die Klägerin im Übrigen selbst erkannt hat –, ist sie hierdurch nicht beschwert. Weder entfaltet der Beschluss des Sozialgerichts eine Bindungswirkung für ein späteres Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff. GVG, noch wird dadurch die Wirksamkeit der Verzögerungsrüge der Klägerin beeinflusst. Die Klägerin ist ihrer Rechts¬obliegenheit gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nachgekommen und daran kann auch der Beschluss des Sozialgerichts vom 17.07.2012 nichts ändern. Auch kann sie durch eine Aufhebung des Beschlusses ihre rechtliche Stellung nicht verbessern.
Im Übrigen könnte eine Untätigkeit des Sozialgerichts im Sinne eines Nichtentscheidens nicht Gegenstand einer Beschwerde nach § 172 Abs 1 SGG sein (vgl. LSG Bad-Württ., Beschluss vom 30.04.2012 – L 11 KR 1687/12 B, m.w.N zum Meinungsstand; BayLSG, Beschluss vom 24.02.2012 – L 16 SB 282/11 B). Jedenfalls seit Inkrafttreten der §§ 198 bis 202 GVG besteht kein Raum mehr für die in der Rechtsprechung zuvor diskutierte "Untätigkeitsbeschwerde" (so auch OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.08.2012 11 SchH 3/12, RdNr. 2; LSG Bad-Württ., Beschluss vom 30.04.2012, a.a.O., RdNr. 5; LSG NRW; Beschluss vom 01.02.2012 – L 19 AS 111/12 B, RdNr. 6). Denn der Gesetzgeber hat das Rechtsschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer mit dem neuen Entschädigungsverfahren abschließend gelöst (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 6).
Die Klägerin beabsichtigte mit ihrer Verzögerungsrüge vom 12.07.2012 vermutlich nur, die Vorgaben des Verfahrens nach ÜberlVfR¬SchG i.V.m. den am 03.12.2011 in Kraft getretenen §§ 198 bis 201 GVG einzuhalten, um ihre Rechte zur Durchsetzung eines etwaigen Entschädigungsanspruchs zu wahren. Soweit ersichtlich begehrt sie (noch) keine Entscheidung über eine Entschädigung für das "überlange Verfahren" beim Sozialgericht. § 198 Abs. 5 GVG bestimmt zudem, dass eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs wegen eines Nachteils infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahren frühestens sechs Monate nach der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Die Frist von sechs Monaten, die vor Erhebung einer Entschädigungsklage verstreichen muss, ist derzeit noch nicht abgelaufen. Vor diesem Hintergrund kommt auch eine Abtrennung des etwaigen Entschädigungsanspruchs und Verweisung bzw. Abgabe an den zuständigen 8. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts (vgl. § 202 Satz 2 SGG in der Fassung des ÜberlVfRSchG i.V.m. § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG i.V.m. mit dem Geschäftverteilungsplans des Sächsischen Landessozialgerichts ab 01.08.2012) nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG in entsprechender Anwendung. Zwar hat die Klägerin zutreffend darauf hingewiesen, dass die von ihr erhobene Verzögerungsrüge kein Rechtsmittel ist, über das das Sozialgericht zu entscheiden gehabt hätte. Eine Kostenerstattung zu ihren Gunsten im vorliegenden Beschwerdeverfahren kommt dennoch nicht in Betracht, da sie demzufolge auch hätte erkennen können, dass der Beschluss des Sozialgerichts wirkungslos bleiben musste. Einer Beschwerde hätte es daher nicht bedurft. Im Übrigen sind keine Aufwendungen der Klägerin ersichtlich, die Gegen¬stand einer Kostenerstattung sein könnten.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Weinholtz Reichert Wagner
Gründe:
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Klägerin) begehrt in der Hauptsache die (Weiter-)Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) ab 01.11.2011.
Die Klägerin bezieht seit 2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Nach vorangegangener Bewilligung von Leistungen bis einschließlich 31.01.2012 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (im Folgenden: Beklagter) am 20.10.2011 einen Versagungs- und Entziehungsbescheid, gegen den die Klägerin nach erfolglosem Widerspruchsverfahren am 07.12.2011 beim Sozialgericht Chemnitz Klage (S 12 AS 5755/11) erhoben hat, ohne diese näher zu begründen; zur Klageerwiderung des Beklagten hat sie keine Stellungnahme abgegeben. Mit gerichtlichem Schreiben vom 18.06.2012 sind die Beteiligten zu der für den 17.07.2012 terminierten mündlichen Verhandlung geladen worden.
Mit Schreiben vom 12.07.2012, beim Sozialgericht am 16.07.2012 eingegangen, hat die Klägerin eine Verzögerungsrüge gemäß § 198 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG), Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erhoben, weil dem Gericht seit Klageerhebung bekannt sei, dass der Beklagte keine Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Form des Regelbetrages erbringe. Dem Gericht sei seit spätestens März 2012 (Inhalt der Verwaltungsakte) bekannt, dass der Beklagte seit Januar 2012 keinerlei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts mehr erbringe. Leistungen würden mit fragwürdigen Begründungen verwehrt. Dies sei nicht nur mit Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) unvereinbar sondern verstoße zudem gegen die selbstvollziehenden Normen des ICESCR.
In der mündlichen Verhandlung am 17.07.2012 hat das Sozialgericht die Verzögerungsrüge durch Beschluss zurückgewiesen, da die erforderliche Untätigkeit des Gerichts aufgrund des vorliegenden Sachverhalts nicht gegeben sei. Gegen diesen Beschluss sei binnen eines Monats die Beschwerde zum Sächsischen Landessozialgericht zulässig.
Außerdem hat das Sozialgericht mit Urteil vom 17.07.2012 die Klage abgewiesen. Dagegen hat die Klägerin am 13.08.2012 beim Sächsischen Landessozialgericht Berufung eingelegt (L 7 AS 804/12), über die noch nicht entschieden ist.
Am 13.08.2012 hat die Klägerin beim Sächsischen Landessozialgericht auch Beschwerde gegen den die Verzögerungsrüge abweisenden Beschluss vom 17.07.2012 erhoben. Sie trägt im Wesentlichen vor, die Verzögerungsrüge sei kein Rechtsmittel, das einer Entscheidung des Ausgangsgerichts bedürfe. Eine Prüfung der Wirksamkeitsvoraussetzungen obliege insoweit dem Ausgangsgericht nicht und es könne die Entschädigungspflicht nicht durch Verfahrenserledigung innerhalb der Sechsmonatsfrist abwenden. Das Gesetz gebe dem Gericht des Ausgangsverfahrens eine Frist, in der es das Verfahren fördern und so einer weiteren Verzögerung abhelfen könne. Der bereits eingetretenen Verzögerung könne es nicht mehr abhelfen.
Sie beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 17.07.2012 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Beschwerde zu verwerfen.
Er trägt vor, die Beschwerde sei entgegen der erteilten Rechtsbehelfsbelehrung unstatthaft und damit unzulässig. Das Sozialgericht habe nur mit Abhilfe bzw. Nichtabhilfe reagieren können. Letzteres sei geschehen. Dagegen sei kein Rechtsmittel gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens wird auf den Inhalt der Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und der Gerichtsakte im Verfahren S 12 AS 5755/11 bzw. L 7 AS 804/12 verwiesen.
II.
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
Offen bleiben kann, ob die Beschwerde gegen den die Verzögerungsrüge der Klägerin vom 12.07.2012 zurückweisenden Beschluss des Sozialgerichts bereits nicht statthaft ist (so OLG Rostock, Beschluss vom 25.07.2012 – I Ws 176/12, zitiert nach Juris, RdNr. 11). Der Beschwerde der Klägerin fehlt jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis und sie ist daher als unzulässig zu verwerfen.
Gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet die Beschwerde an das Landessozialgericht gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist. Zweifelhaft ist schon, ob eine Entscheidung des Sozialgerichts in diesem Sinne vorliegt.
Als Reaktion auf die seit Jahren geübte Kritik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ((EGMR), vgl. Entscheidung vom 02.09.2010, Rechtssache R .../. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 46344/06, zitiert nach Juris) hat der Gesetzgeber mit dem Erlass des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl. I 2011, 2302 (ÜberlVfR¬SchG)) allgemeine Bestimmungen geschaffen, die als §§ 198 bis 201 GVG eingefügt wurden und gemäß § 202 SGG auch für die Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit gelten. Damit sollte die Rechtsschutzlücke für Gefährdungen des durch Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährten Anspruchs der Bürger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit geschlossen werden, für den es bis zum 02.12.2011 keinen speziellen Rechtsbehelf gab. Nach der Übergangsvorschrift in Art. 23 ÜberlVfR¬SchG gilt das Gesetz auch für bereits anhängige Verfahren.
Der Gesetzgeber hat sich für eine Entschädigungslösung entschieden, um einem Betroffenen bei Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer die daraus resultierenden Nachteile (Vermögensnachteile und Wiedergutmachung) zu ersetzen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 15). Das neue Rechtsmittel kombiniert ein Instrument zur Beschleunigung des Verfahrens, die Verzögerungsrüge, die vor dem Gericht erhoben werden muss, bei dem die angebliche Verfahrensverzögerung eingetreten ist (im Folgenden: Ausgangsgericht), mit einer späteren Entschädigungsklage, die bei dem sog. Entschädigungsgericht erhoben werden muss. Allerdings soll der neue Anspruch keine unangemessenen Belastungen für die Gerichte bewirken: Die einer Entschädigungsklage vorgeschaltete Verzögerungsrüge soll dem Ausgangsgericht Gelegenheit zur Prüfung geben und eine Abhilfemöglichkeit eröffnen. Als Voraussetzung für einen Entschädigungsanspruch stellt sie lediglich eine Obliegenheit und keinen neuen Rechtsbehelf dar, so dass keine Pflicht zur förmlichen Entscheidung über die Verzögerungsrüge entsteht (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 5). Mit der Verzögerungsrüge soll ein konkret-präventiver Beschleunigungseffekt bewirkt werden, indem die Ausgangsgerichte im betreffenden Verfahren mit Abhilfe, also beschleunigter Verfahrensförderung, reagieren (so auch OLG Rostock, Beschluss vom 25.07.2012, a.a.O., RdNr. 13). Eine Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe ist nicht vorgesehen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 4). Damit soll dem Ziel der Gewährung von zeitnahem Rechtsschutz durch eine verfahrensimmanente Obliegenheit (Verzögerungsrüge) und durch die Gewährung eines Entschädigungsanspruchs gegen die jeweilige für das betreffende Gericht zuständige Gebietskörperschaft Rechnung getragen werden, so dass regelmäßig für Lösungen der Problematik einer unangemessen langen Verfahrensdauer zwischen den Beteiligten und mit Bezug auf den Streitgegenstand kein Raum mehr ist (vgl. BSG, Beschluss vom 15.08.2012 – B 6 KA 15/12 B, zitiert nach Juris, mit Hinweis darauf, dass die Rechtsprechung des 4. Senats des BSG vom 12.12.2005 – B 4 RA 220/04 B – überholt ist).
Der EGMR hat zudem anerkannt, dass das ÜberlVfR¬SchG verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter Berücksichtigung der Anforderungen der EMRK anzugehen. Er hat keinen Grund für die Annahme gesehen, der neue Rechtsbehelf werde nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung für berechtigte Klagen zu erhalten, oder keine hinreichenden Erfolgssaussichten bieten. Zudem ergebe sich ganz eindeutig, dass die innerstaatlichen Gerichte bei ihrer Entscheidung über Entschädigungsansprüche die Konventionskriterien so anwenden müssen, wie es der Rechtsprechung des EGMR entspricht; insbesondere sollte die verschuldensunabhängige Entschädigung im Hinblick auf die Umstände des Einzelfalls, die Dauer der Verzögerung und die Bedeutung ihrer Folgen für den Beschwerdeführer festgesetzt werden (vgl. EGMR, Entscheidung vom 29.05.2012, Nr. 53126/07, RdNrn. 39, 40).
§ 198 GVG sieht vor, dass angemessen entschädigt wird, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet (Abs. 1 Satz 1). Entschädigung erhält ein Verfahrensbeteiligter nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat (Verzögerungsrüge; Abs. 3 Satz 1), was das Gericht, das über die Entschädigung zu entscheiden hat (Entschädigungsgericht), bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer berücksichtigt (Abs. 3 Satz 4). Das Entschädigungsgericht ist zuständig für die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war (Abs. 4 Satz 1), die in schwerwiegenden Fällen neben der Entschädigung ausgesprochen werden kann (Abs. 4 Satz 3).
Aus der eindeutigen gesetzlichen Regelung und der Gesetzesbegründung zu § 198 GVG ergibt sich somit, dass eine Entscheidung des Ausgangsgerichts über die Verzögerungsrüge nicht vorgesehen ist. Der Beschluss des Sozialgerichts vom 17.07.2012 zur Verzögerungsrüge vom 12.07.2012 geht daher ins Leere. Denn die Verzögerungsrüge dient der Vorwarnung, ohne ein eigenständiges Verfahren einzuleiten oder eine Pflicht zur förmlichen Entscheidung auszulösen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 20). Der Beschluss vom 17.07.2012 bleibt darüber hinaus wirkungslos, weil dem Ausgangsgericht insofern keine eigene Entscheidungszuständigkeit übertragen ist, also auch nicht die Befugnis, selbst festzustellen, ob das Verfahren unangemessen lang dauert oder nicht. Denn ausschließlich das Entschädigungsgericht kann in eigener Zuständigkeit gemäß § 198 Abs. 2 und Abs. 4 GVG i.V.m. § 201 GVG über die Entschädigung, deren Höhe und die Wiedergutmachung durch die Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, entscheiden. Der Beschluss des Sozialgerichts kann das Entschädigungsgericht somit nicht binden und war daher überflüssig.
Daher fehlt der Klägerin für das Beschwerdeverfahren das Rechtsschutzbedürfnis. Denn unabhängig davon, ob allein deswegen von einer Entscheidung des Sozialgerichts i.S.d. § 172 Abs. 1 SGG die Rede sein kann, weil das Sozialgericht zur Verzögerungsrüge einen Beschluss gefasst hat, ohne dazu befugt zu sein – was die Klägerin im Übrigen selbst erkannt hat –, ist sie hierdurch nicht beschwert. Weder entfaltet der Beschluss des Sozialgerichts eine Bindungswirkung für ein späteres Entschädigungsverfahren nach §§ 198 ff. GVG, noch wird dadurch die Wirksamkeit der Verzögerungsrüge der Klägerin beeinflusst. Die Klägerin ist ihrer Rechts¬obliegenheit gemäß § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nachgekommen und daran kann auch der Beschluss des Sozialgerichts vom 17.07.2012 nichts ändern. Auch kann sie durch eine Aufhebung des Beschlusses ihre rechtliche Stellung nicht verbessern.
Im Übrigen könnte eine Untätigkeit des Sozialgerichts im Sinne eines Nichtentscheidens nicht Gegenstand einer Beschwerde nach § 172 Abs 1 SGG sein (vgl. LSG Bad-Württ., Beschluss vom 30.04.2012 – L 11 KR 1687/12 B, m.w.N zum Meinungsstand; BayLSG, Beschluss vom 24.02.2012 – L 16 SB 282/11 B). Jedenfalls seit Inkrafttreten der §§ 198 bis 202 GVG besteht kein Raum mehr für die in der Rechtsprechung zuvor diskutierte "Untätigkeitsbeschwerde" (so auch OLG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.08.2012 11 SchH 3/12, RdNr. 2; LSG Bad-Württ., Beschluss vom 30.04.2012, a.a.O., RdNr. 5; LSG NRW; Beschluss vom 01.02.2012 – L 19 AS 111/12 B, RdNr. 6). Denn der Gesetzgeber hat das Rechtsschutzproblem bei überlanger Verfahrensdauer mit dem neuen Entschädigungsverfahren abschließend gelöst (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 16 Nr. 6).
Die Klägerin beabsichtigte mit ihrer Verzögerungsrüge vom 12.07.2012 vermutlich nur, die Vorgaben des Verfahrens nach ÜberlVfR¬SchG i.V.m. den am 03.12.2011 in Kraft getretenen §§ 198 bis 201 GVG einzuhalten, um ihre Rechte zur Durchsetzung eines etwaigen Entschädigungsanspruchs zu wahren. Soweit ersichtlich begehrt sie (noch) keine Entscheidung über eine Entschädigung für das "überlange Verfahren" beim Sozialgericht. § 198 Abs. 5 GVG bestimmt zudem, dass eine Klage zur Durchsetzung eines Anspruchs wegen eines Nachteils infolge der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahren frühestens sechs Monate nach der Verzögerungsrüge erhoben werden kann. Die Frist von sechs Monaten, die vor Erhebung einer Entschädigungsklage verstreichen muss, ist derzeit noch nicht abgelaufen. Vor diesem Hintergrund kommt auch eine Abtrennung des etwaigen Entschädigungsanspruchs und Verweisung bzw. Abgabe an den zuständigen 8. Senat des Sächsischen Landessozialgerichts (vgl. § 202 Satz 2 SGG in der Fassung des ÜberlVfRSchG i.V.m. § 201 Abs. 1 Satz 1 GVG i.V.m. mit dem Geschäftverteilungsplans des Sächsischen Landessozialgerichts ab 01.08.2012) nicht in Betracht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG in entsprechender Anwendung. Zwar hat die Klägerin zutreffend darauf hingewiesen, dass die von ihr erhobene Verzögerungsrüge kein Rechtsmittel ist, über das das Sozialgericht zu entscheiden gehabt hätte. Eine Kostenerstattung zu ihren Gunsten im vorliegenden Beschwerdeverfahren kommt dennoch nicht in Betracht, da sie demzufolge auch hätte erkennen können, dass der Beschluss des Sozialgerichts wirkungslos bleiben musste. Einer Beschwerde hätte es daher nicht bedurft. Im Übrigen sind keine Aufwendungen der Klägerin ersichtlich, die Gegen¬stand einer Kostenerstattung sein könnten.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Weinholtz Reichert Wagner
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