L 4 KR 54/12

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 29 KR 201/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 KR 54/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 KR 5/13 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 22. Juni 2011 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 100,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem 30. März 2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens für beide Instanzen zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 100,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin die Aufwandspauschale in Höhe von 100,00 EUR gemäß § 275 Abs. 1c Satz 3 des Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zusteht.

Nach einer Verordnung der Ärztin für Allgemeinmedizin O. vom 12. September 2008 wurde die am ... 1993 geborene und bei der Beklagten versicherte T. (im Folgenden: Versicherte) wegen einer Daumengrundgliedluxation mit Instabilität noch am selben Tag stationär bei der Klägerin aufgenommen. Nach Entlassung der Versicherten am 15. September 2008 stellte die Klägerin am 17. September 2008 insgesamt 1.810,01 EUR in Rechnung. Unter der Bezeichnung "Eingriffe am Handgelenk und Hand ohne mehrseitigen Eingriff, ohne komplexen Eingriff, außer bei angeborener Anomalie der Hand, mit mäßig komplexem Eingriff, Alter ) 5 Jahre" rechnete sie neben weiteren Positionen die DRG 7010 I 32 E in Höhe von 1.717,67 EUR ab. Die Rechnung enthielt unter der Bezeichnung "Investitionszuschlag neue Länder § 14 Abs. 8" einen Posten von 16,86 EUR (3 x 5,62 EUR).

Mit Schreiben vom 9. Oktober 2008 zeigte die Beklagte gegenüber der Klägerin an, sie beabsichtigte, den Behandlungsfall überprüfen zu lassen. Anschließend legte sie dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen Sachsen-Anhalt (MDK) die Frage "Ist die gesamte Verweildauer medizinisch begründet?" vor. Die MDK Gutachterin Dr. G. hat, nachdem die Klägerin ihr auf Aufforderung weitere medizinische Unterlagen übersandt hatte, am 13. November 2008 eine Stellungnahme abgegeben. Hiernach sei wegen des mitgeteilten unkomplizierten Verlaufs der zweite postoperative Tag nach Entfernung der Drainage nicht nachvollziehbar. Die Voraussetzungen des § 39 SGB V seien daher nur für den Zeitraum vom 12. bis zum 14. September 2008 gegeben.

Mit Rechnung vom 9. März 2009 verlangte die Klägerin von der Beklagten die Zahlung einer Aufwandspauschale in Höhe von 100,00 EUR wegen erfolgloser MDK-Prüfung. Die Beklagte hält sich dazu für nicht verpflichtet und forderte ihrerseits von der Klägerin mit Schreiben vom 31. März 2009 die Rückzahlung von 5,62 EUR (Investitionszuschlag neue Länder für den 15. September 2008). Am 29. April 2009 kürzte die Beklagte eine unstreitige Rechnung der Klägerin um diesen Betrag.

§ 7 der zwischen den Beteiligten vereinbarten Entgeltregelung lautet:

"Die Krankenkasse hat die Rechnung innerhalb von 21 Tagen nach Eingang zu zahlen. Als Tag der Zahlung gilt der Tag der Übergabe des Überweisungsauftrages an ein Geldinstitut oder der Übersendung von Zahlungsmitteln an das Krankenhaus. Ist der Fälligkeitstag ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag, so verschiebt er sich auf den nächstfolgenden Arbeitstag.

Erfolgt die Zahlung nicht innerhalb von 21 Tagen, kann das Krankenhaus Zinsen in Höhe von 4 % seit dem Fälligkeitstag verlangen, ohne dass es einer Mahnung bedarf."

Die Klägerin hat am 22. Juli 2010 Klage beim Sozialgericht Halle (SG) mit dem Begehren erhoben, die Beklagte zu verurteilen, an sie 100,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 4 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 30. März 2009 zu zahlen und zur Begründung vorgetragen: Die Beklagte sei zur Zahlung der Aufwandspauschale ausnahmsweise verpflichtet. Die Kürzung der Rechnung in Höhe des Investitionszuschlages für einen Tag hindere die Klägerin nicht daran, die sog. Aufwandspauschale nach § 275 Abs.1 c SGB V zu verlangen. Der Investitionszuschlag sei nicht Bestandteil des Abrechnungsbetrages und die Kürzung keine Minderung des Abrechnungsbetrages im Sinne des § 275 Abs. 1 c SGB V, da es dort im Wesentlichen um die sachlich zutreffende Berechnung der jeweiligen DRG und nicht um den Investitionszuschlag gehe. Im Übrigen falle der Investitionszuschlag nur in den neuen Bundesländern an und müsse auch deshalb von der DRG-Abrechnung getrennt gesehen werden. Die Auffassung der Beklagten führe zu einer rechtswidrigen Ungleichbehandlung von Krankenhäusern in den neuen und den alten Bundesländern, die den Investitionszuschlag nicht geltend machen könnten.

Dagegen hat die Beklagte geltend gemacht: Durch die Prüfung des MDK sei festgestellt worden, dass der stationäre Krankenhausaufenthalt am 15. September 2008 nicht erforderlich gewesen sei und daher für diesen Tag eine Fehlbelegung vorgelegen habe. Diese Feststellung habe zwar nicht zu einer anderen DRG, jedoch zu einer Kürzung in Höhe von 5,62 EUR geführt. Die tatsächlich berechtigte Kürzung des Rechnungsbetrages schließe den Anspruch der Klägerin auf die sog. Aufwandspauschale aus.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22. Juni 2011 abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen: Der Investitionszuschlag sei Bestandteil der Abrechnung, so dass die Kürzung der Rechnung um 5,62 EUR als Minderung des Rechnungsbetrages im Sinne des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V anzusehen sei. Weder aus dem Wortlaut, noch nach dem Sinn und Zweck der Regelung und auch nicht mit der Gesetzesbegründung lasse sich die Annahme rechtfertigen, die Minderung des Abrechnungsbetrages hänge von einer bestimmten Höhe oder einer bestimmten Art der Abrechnung (DRG bzw. Investitionszuschlag) ab.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 17. November 2011 zugestellte Urteil am 8. Dezember 2011 Nichtzulassungsbeschwerde beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt erhoben (L 4 KR 93/11 NZB) und ergänzend ausgeführt: Die Rechtsauffassung des SG sei nicht haltbar. Sinn und Zweck der Regelung des § 275 Abs. 1c SGB V sei es nicht, den sog. Investitionszuschlag zu überprüfen, der nicht Gegenstand einer MDK-Prüfung im eigentlichen Sinne sein könne. Die Rechtsansicht des SG lasse sich auch mit dem Gesetzentwurf zum GKV Finanzierungsgesetz (Bundestagsdrucksache 17/3360) vom 21. Oktober 2010 widerlegen. Hiernach habe der Gesetzgeber die Einführung eines § 275 Abs. 1 Satz 4 SGB V beabsichtigt. Der darin enthaltene Satz 4 sollte lautet:

"Eine Minderung des Rechnungsbetrages durch die ausschließliche Kürzung der Benutzerentgelte nach Art. 14 Abs. 1 Satz 1 des Gesundheitsreformgesetzes vom 21 Dezember 1992 (Bundesgesetzblatt I Seite 2266), das zuletzt durch geändert worden ist, steht der Entrichtung der Aufwandspauschale nicht entgegen."

Zur gesetzgeberischen Begründung sei ausgeführt worden, dass die Praxis verschiedener Krankenkassen in den neuen Bundesländern, die Zahlung der Aufwandspauschale wegen einer Minderung der Benutzerentgelte zu verweigern, die gesetzgeberische Zielsetzung, die mit der Einführung der Aufwandspauschale verbunden gewesen sei, unterlaufe, was die geplante Klarstellungsregelung erforderlich mache. Auch wenn § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V keine Gesetzeskraft erlangt habe, lasse sich daraus doch die Intention des Gesetzgebers deutlich herauslesen. Die vorliegende Streitfrage, die eine erhebliche Fallzahl umfasse, sei nicht abschließend geklärt. Der Senat hat mit Beschluss vom 21. Juni 2012 die Berufung zugelassen.

Die Klägerin hat in der Berufung ergänzend geltend gemacht: Mit den zutreffenden Urteilen des Sozialgerichts Cottbus vom 5. April 2012 – S 12 KR 219/09 und des Sozialgerichts Gotha vom 11. Juni 2012 (S 41 KR 2949/10), die sie sich zu Eigen mache, werde ihre Rechtsauffassung bestätigt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 22. Juni 2011 aufzuheben und

die Beklagte zu verurteilen, an sie 100,00 EUR nebst 4 % Zinsen seit dem

30. März 2009 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat an ihrer Rechtsauffassung festgehalten und beruft sich auf die Urteile des SG Stralsund vom 30. März 2011 (S 3 KR 93/09) und vom 25. November 2011 (S 3 KR 104/09). In beiden Verfahren sei die Berufung vom SG zugelassen und auch eingelegt worden. Nach einer Mitteilung des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 11. September 2012 seien die entsprechenden Berufungsverfahren L 6 KR 22/11 sowie L 6 KR 69/11 noch nicht abgeschlossen und daher von einer revisionsrechtlich bedeutsamen Frage auszugehen.

Der Senat hat in einem Hinweisschreiben vom 12. September 2012 auf das BSG Urteil vom 22. Juni 2010 – B 1 KR 1/10 R hingewiesen. Nach dem vorliegenden Sachverhalt sei die Kodierung der Klägerin 7010 I32 E nie in Zweifel gezogen worden. Wegen der geringen Summe des Investitionszuschlages von nur 5,62 EUR komme ggf. ein Bagatellfall in Betracht. Dies lasse zweifelhaft erscheinen, ob ein berechtigter Anlass zur MDK-Prüfung bestanden habe. Hinweise für ein Fehlverhalten der Klägerin, wie z.B. bei einer Falschkodierung, seien dagegen nicht erkennbar.

Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat vorgetragen: Es sei ihr auf keinen Fall nur darum gegangen, lediglich 5,62 EUR einzusparen. Wenn der stationäre Aufenthalt im vorliegenden Fall nur einen Tag gedauert hätte, was keineswegs selten vorkomme, so hätte die Beklagte ein Drittel des Rechnungsbetrages kürzen können, da es dann zu einem Abschlag in Höhe von 672,23 EUR gekommen wäre. Zur Glaubhaftmachung hat sie eine Webgrouperberechnung vom 18. September 2012 (Blatt 129 der Gerichtsakte) vorgelegt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die vom Senat mit Beschluss vom 21. Juni 2012 zugelassene Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung zu verurteilen.

Die Voraussetzungen für die Zahlung der Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V (mit Wirkung vom 1.4.2007 eingefügt durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG - vom 26.3.2007, BGBl. I S. 378) sind erfüllt. § 275 Abs 1c Satz 3 SGB V in der bis zum 24. März 2009 geltenden Fassung bestimmt nach seinem Wortlaut: "Falls die Prüfung nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrags führt, hat die Krankenkasse dem Krankenhaus eine Aufwandspauschale in Höhe von 100 Euro zu entrichten." Auf dieser Grundlage ist der Anspruch der Klägerin gegeben.

Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf die Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V sind dem Grunde nach erfüllt: Auf Veranlassung der Beklagten hat Dr. G. das MDK-Gutachten vom 13. November 2008 erstattet und somit eine Prüfung im Sinne des § 275 Abs. 1 Nr. 1 sowie § 275 Abs. 1c Satz 1 SGB V vorgenommen. Die Beklagte verfolgte dabei das Ziel, zu einer Minderung des Rechnungsbetrages für die Krankenhausbehandlung (§ 39 SGB V) zu gelangen. Auch entstand der Klägerin, die sich mit dem Sachverhalt erneut befassen musste, ein zusätzlicher Verwaltungsaufwand. Schließlich musste sie weitere medizinische Unterlagen an den MDK übersenden, die auch Gegenstand der MDK-Prüfung von Dr. G. geworden sind. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und nach Prüfung der Aktenlage auch nicht zweifelhaft.

Da es im vorliegenden Fall aufgrund der MDK-Prüfung zu einer Minderung des Rechnungsbetrages um 5,62 EUR gekommen ist, wäre nach einer strengen Wortlautauslegung die Aufwandspauschale im Sinne des § 275 Abs 1c Satz 3 SGB V nicht zu zahlen. Eine derartige Auslegung greift jedoch aus systematischen Gründen sowie mit Blick auf die gesetzgeberische Zielsetzung der Norm und auf die Gesetzesmaterialien zu kurz und ist abzulehnen. Vielmehr sind bei der Auslegung der Norm wertende Gesichtspunkte zu beachten, wie sie das BSG z.B. bei Bagatellfällen sowie beim Verursachungsprinzip heranzieht. Diese wertende Betrachtung wird durch zwei aktuelle Entscheidungen des BSG bestätigt.

In dem Urteil 3. Senats vom 17. Dezember 2009 (B 3 KR 12/08 R, zitiert nach juris) verlangte ein Krankenhaus eine nachträgliche Korrektur einer Krankenhausrechnung um 58,06 EUR. Hierbei hat das BSG den Grundsatz aufgestellt, dass die Krankenkassen nach Erhalt einer "Schlussrechnung" von einem endgültigen Abschluss des Abrechnungsverfahrens ausgehen können und dies mit dem Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung begründet. Aufgrund der wechselseitigen Obhutspflichten zwischen Krankenhäusern und Krankenkassen bei der Geltendmachung von Ansprüchen kann die Korrektur eines Abrechnungsfehlers nur verlangt werden, wenn das Interesse an der Fehlerkorrektur gegenüber dem Interesse an endgültigen Abschluss überwiegt. Dies ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der nachgeforderte Betrag den Kostenaufwand der Krankenkasse für die zusätzliche Prüfung übersteigt und die Überprüfung des Behandlungsfalls auch im Verhältnis zur ursprünglichen Rechnungssumme gerechtfertigt erscheint. In diesem Fall müsste die Krankenkasse die Zusatzbelastung im Interesse des Krankenhauses hinnehmen. Die Grenze der berechtigten Nachforderung hat das BSG aus dem Rechtsgedanken des § 275 Absatz 1c Satz 3 SGB V entnommen (100,00 EUR bzw. 300,00 EUR je nach Gesetzesfassung) und zusätzlich eine Summe von mindestens 5 % des Ausgangsrechnungswertes als Mindestbetrag verlangt. Unterhalb dieser Bagatellgrenze wäre der sonst entstehende Verwaltungsaufwand der Krankenkasse für eine erneute Rechnungsprüfung unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen (BSG a.a.O.).

In dem Urteil des 1. Senats vom 22. Juni 2010 (B 1 KR 1/10 R, zitiert nach juris) verlangte ein Krankenhaus die Aufwandspauschale nach § 275 Absatz 1c Satz 3 SGB V in Höhe von 100,00 EUR in einem Fall, in dem das Krankenhaus eine fehlerhafte Kodierung abrechnete. Daher veranlasste die Krankenkasse eine MDK-Prüfung, die zu einer Neukodierung, jedoch nicht zu einer Rechnungskürzung zu Gunsten der Krankenkasse führte. Wörtlich führt das BSG unter Rdn. 18 hierzu aus:

"Der Anspruch scheidet aus, weil die Beklagte jedenfalls durch eine nachweislich fehlerhafte Abrechnung des Krankenhauses veranlasst wurde, das Prüfverfahren nach § 275 SGB V unter Beteiligung des MDK einzuleiten. In derartigen Fällen löst § 275 Abs.1c Satz 3 SGB V mit Blick auf die zentrale Bedeutung des Wirtschaftlichkeitsgebotes und die den Krankenkassen zur Wahrung dieses Gebots gesetzlich übertragenen Aufgaben keine Aufwandspauschale aus, selbst wenn sich der Gesamtabrechnungsbetrag für die Krankenhausbehandlung anschließend im Ergebnis nicht verringert. ( ) Eine isoliert aus dem Wortlaut abgeleitete Auslegung, dass schon die "nicht zu einer Minderung des Abrechnungsbetrages" für die MDK Prüfung einzige Voraussetzung für den Anspruch des Krankenhauses nach § 275 Abs.1 c Satz 3 SGB V ist, griffe dagegen zu kurz. Das folgt aus Sinn und Zweck der Regelung und ihrem funktionalen Zusammenspiel mit der Prüfpflicht nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V vor dem Hintergrund des gesamten Regelungszusammenhanges (dazu a) und wird letztlich auch durch die Gesetzesmaterialien bestätigt (dazu b)."

Nach dieser vom BSG bereits vorgezeichneten, über den eigentlichen Wortlaut hinausgehenden Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Minderung des Abrechnungsbetrages" im Sinne des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V wird die sog. Aufwandspauschale auch bei einer geringfügigen Minderung des Abrechnungsbetrages nach einer MDK-Prüfung zu Gunsten des Krankenhauses fällig, weil nur diese Auslegung, dem gesetzgeberischen Ziel, der Systematik des Gesetzes und den Gesetzesmaterialien entspricht. Dies gilt nur dann nicht, wenn nach dem Veranlassungsgedanken von Seiten des Krankenhauses durch die Abrechnung selbst (z.B. Falschkodierung) ein genügender und berechtigter Anlass gesetzt worden ist, eine MDK-Prüfung von Seiten der Krankenkasse zu veranlassen. Sofern von Seiten des Krankenhauses diese MDK-Prüfung nicht durch ein vorwerfbares Fehlverhalten praktisch "provoziert" worden ist, gibt die Höhe der Aufwandspauschale von 100,00 EUR sowie der Vergleich zwischen tatsächlich fehlerhaftem Rechnungsbetrag zur eigentlichen Rechnungssumme den rechnerischen Wertungsrahmen vor, ob die Aufwandspauschale des Krankenhauses gegenüber der Krankenkasse entstanden ist oder nicht (sog. Bagatell- oder Missbrauchsprinzip). Hierbei sind die Gesamtumstände des Einzelfalls anhand der aufgezeigten Kriterien zu würdigen.

Nach diesen Grundsätzen ist zunächst festzustellen, dass ein eklatantes Missverhältnis zwischen dem ursprünglichen Rechnungsbetrag von 1.810,01 EUR (Rechnung vom 17. September 2008) und dem mittels MDK-Prüfung erreichten Kürzungsbetrages von 5,62 EUR besteht. Schließlich erreicht die berechtigte Kürzung um lediglich 0,31 % der gesamten Rechnungssumme eine unbedeutende Höhe. Angesichts der Minderung um 5,62 EUR bei einem Rechnungsbetrag von 1.810,01 EUR drängt sich die Unwirtschaftlichkeit der MDK-Prüfung im Nachhinein geradezu auf, weil der Aufwand einschließlich der Kosten für die Prüfung einerseits und der Nutzen für die Krankenkasse anderseits offensichtlich in einem krassen Missverhältnis stehen. Für eine Heranziehung des sog. Veranlassungsgedankens nach der Rechtsprechung des BSG liegen keine Anhaltspunkte vor. Hier hat die Beklagte zu keinem Zeitpunkt die Kodierung des Behandlungsfalls unter der DRG 7010 I 32E in Zweifel gezogen. Vielmehr beabsichtigte sie nach dem Wortlaut des Prüfauftrages vom 9. Oktober 2008 nur eine Überprüfung der Verweildauer. Hierbei musste ihr aufgrund der herangezogenen DRG klar sein, dass die MDK-Prüfung nur bei einer Herabsetzung auf einen einzigen Behandlungstag zu einer Kürzung der Rechnung von einem Drittel hätte führen können. Angesichts des Missverhältnisses zwischen Aufwand und Ertrag liegt mithin ein Verstoß gegen den Bagatellgrundsatz vor.

Betrachtet man daher die ursprüngliche Rechnungssumme und den tatsächlich von Seiten der Beklagten mittels MDK-Prüfung erreichten Kürzungsbetrag steht aus Sicht des Senats ein klarer Verstoß gegen den sogenannten Bagatellgrundsatz fest. Der Klägerin steht die geltend gemachte Aufwandspauschale daher zu.

Der Einwand der Beklagten, sie habe nicht eine Kürzung um 5,62 EUR, sondern von 672,23 EUR erreichen wollen (Reduzierung der Verweildauer auf einen Behandlungstag), greift demgegenüber nicht durch. Schon der Prüfauftrag war hier rechtlich bedenklich. Wie die Beklagte selbst eingeräumt hat, konnte der Prüfauftrag an den MDK wirtschaftlich nur dann Sinn haben, wenn Aussicht auf Herabsetzung der Verweildauer auf einen Behandlungstag bestanden hat. Dies setzt objektive Anhaltspunkte voraus, die für eine so weitgehende Kürzung hätten sprechen können. Solche waren hier weder ersichtlich noch gingen sie aus dem Prüfauftrag hervor. Der eigentliche Prüfauftrag enthielt hierzu keinerlei Hinweis. Damit stellt sich die Frage, worauf die Beklagte ihre (angebliche) Hoffnung auf eine so deutliche Verkürzung der Verweildauer gestützt hat. Sie hätte Zweifel an der Notwendigkeit der stationären Behandlung überhaupt haben oder höchstens einen Tag für richtig halten müssen. Dafür gibt der Sachverhalt nichts her. Damit ist bereits zweifelhaft, ob der Prüfanlass selbst hinreichend begründet war.

Selbst wenn der Senat zu Gunsten der Beklagten von einem notwendigen Prüfanlass auszugehen hätte, ändert sich an dieser Bewertung nichts. Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals "Minderung des Abrechnungsbetrages" im Sinne des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V führt bei wertender Betrachtung unter Beachtung des Sinn und Zwecks der Norm in jedem Fall zu einem Anspruch der Klägerin auf die Aufwandspauschale. Hierbei kommt dem konkreten Kürzungsbetrag und der Qualität eines möglichen Abrechnungsfehlers des Krankenhauses (sog. Verursachungsgedanke) bei wertender Betrachtung die entscheidende Bedeutung zu.

Aufgrund der o. g. Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 22. Juni 2010, a.a.O.) stehen die Beteiligten in einem besonderen Interessenverhältnis unter Berücksichtung des Wirtschaftlichkeitsgebots sowie von Treu und Glauben. Diese Sonderbeziehung ist bei der Auslegung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V stets zu berücksichtigen. Der Sinn und Zweck des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V sowie die gesetzgeberische Intention wollte gerade unnütze Überprüfungen von Bagatellfällen, die wirtschaftlich völlig unbedeutend sind, wie gerade der vorliegende Fall mit allem Nachdruck zeigt, unterbinden. Die Auffassung der Beklagten sowie der Vorinstanz würde dieses gesetzgeberische Ziel im Ergebnis unterlaufen. Unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebot erscheint es unvertretbar, wenn Krankenkassen wegen geringer Einsparungen von z.B. nur 5,62 EUR kostenaufwändige Prüfverfahren beim MDK in Auftrag geben, die sich nach dem Ergebnis der MDK-Prüfung wirtschaftlich allenfalls im Promillegrad auf die streitige Rechnung auswirken können. Der vom Gesetzgeber erstrebte Bürokratieabbau würde damit in sein Gegenteil verkehrt, da die Krankenhäuser bei dieser Auslegung fast gezwungen wären, streitige Tagessätze von 5,62 EUR (sog. Investitionszuschlag) eingehend, ggf. sogar gerichtlich, überprüfen zu lassen, um sich ihren Anspruch auf die Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V gegenüber der Krankenkasse in jedem Fall zu erhalten. Die gegenteilige Wertung der Beklagten würde daher zu weiteren Gerichtsverfahren führen und lässt die gesetzgeberischen Ziele außer acht, die mit der Einführung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V gerade erreicht werden sollten.

Es entspricht der gesetzlichen Wertung, dass die den MDK beauftragende Krankenkasse das eigentliche Prognoserisiko tragen muss, dass sich der Prüfauftrag im Nachhinein als wirtschaftlich unnütz herausstellt. Gerade wegen des Anspruchs des Krankenhauses auf die Aufwandspauschale muss jede Beauftragung des MDK aus Sicht der Krankenkassen eingehend auf seine wirtschaftlichen Erfolgschancen überprüft werden, um die nachteilige Rechtsfolge des § 275 Abs.1c Satz 3 SGB V zu vermeiden. Flächendeckende sowie überzogene MDK-Prüfungen ohne hinreichende Erfolgswahrscheinlichkeit, die der Gesetzgeber über die Aufwandspauschale gerade verringern wollte, bergen die Gefahr, dass die Krankenkassen zusätzlich mit der Aufwandspauschale belastet werden. Es entspricht daher der gesetzgeberischen Intention, die Krankenkassen anzuhalten, MDK Prüfungsaufträge nur bei einer "greifbaren" und auch wirtschaftlich bedeutsamen Auswirkung zu veranlassen. Die unbegründete Erwartung der Beklagten, eine Reduzierung des vorliegenden Behandlungsfalles auf einen Behandlungstag zu erreichen, obliegt allein ihrer Risikoabwägung zwischen möglichem Erfolg (erhebliche Kürzung des Rechnungsbetrages) oder Misserfolg (keine oder nur geringfügige Kürzung des Rechnungsbetrages und zusätzliche Zahlung der Aufwandspauschale an das Krankenhaus). Nachdem sich nach der MDK Prüfung herausgestellt hat, dass dieser Prüfauftrag objektiv unwirtschaftlich gewesen war, entspricht es damit der gesetzlichen Wertung, die Beklagte zusätzlich mit der Aufwandspauschale zu belasten.

Dieses Auslegungsergebnis steht in vollem Einklang mit den Gesetzesmaterialien. Nach der Gesetzesbegründung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V sah der Gesetzgeber Handlungsbedarf, weil einzelne Krankenkassen ihre generelle Prüfmöglichkeit "in unverhältnismäßiger und nicht sachgerechter Weise" zur Einzelfallsteuerung genutzt hatten. Hierbei hatten sich Prüfquoten bis zu 45 % aller Krankenhausfälle ergeben. Dies führe – so die Gesetzesbegründung – insbesondere bei nicht zeitnahen Prüfungen zu "unnötiger Bürokratie", nämlich zu einer teilweise erheblichen Belastung der Abläufe in den Krankenhäusern mit zusätzlichem personellen und finanziellen Aufwand sowie zu in der Regel hohen und nicht gerechtfertigten Außenständen und Liquiditätsproblemen mit Unsicherheiten bei Erlösausgleichen und Jahresabschlüssen. Um vor diesem Hintergrund "einer ungezielten und übermäßigen Einleitung von Begutachtungen entgegenzuwirken", wurde eine Aufwandspauschale von 100 Euro (ab 25.3.2009 durch das Krankenhausfinanzierungsreformgesetz vom 17.3.2009, BGBl I S. 534, erhöht auf 300 Euro) eingeführt. Mit dieser Pauschale sollten unter dem Blickwinkel eines angestrebten Bürokratieabbaus Anreize gesetzt werden, Einzelfallprüfungen "zukünftig zielorientierter und zügiger" einzusetzen [(so zum Ganzen: Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Entwurf des GKV-WSG, BT-Drucks 16/3100 S. 171 zu Nr. 185 (§ 275) zu Buchst a); vgl. BSG a.a.O.].

Die Rechtsprechung des BSG hat den gesetzgeberischen Willen bei der Auslegung des § 275 Abs.1 Satz 3 SGB V damit in seinen aktuellen Entscheidungen zutreffend bekräftigt und die geplante Einführung des § 275 Abs. 1 Satz 4 SGB V damit entbehrlich gemacht.

Der zuletzt beantragte Zinsanspruch ergibt sich aus der entsprechenden Anwendung der zwischen den Beteiligten geltenden Entgeltvereinbarung.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Abs.1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO. Die hinsichtlich der Zinshöhe von der Klägerin erklärte Teilklagerücknahme ist in ihrem Wert unbedeutend und hat keinen Einfluss auf die Kostenquote.

Die BSG Urteile vom 22. Juni 2010 – B 1 KR 1/10 R und vom 17. Dezember 2009 B 3 KR 12/08 R, die bei der Auslegung des § 275 Abs. 1c Satz 3 zum einen das Bagatell- und Missbrauchsprinzip und zum anderen den Verursachungsgedanken hervorgehoben haben, bedürfen einer weiteren Rechtsfortbildung. Dies zumal sich der 3. Senat des BSG in dem noch rechtshängigen Verfahren B 3 KR 20/12 R erneut mit der Auslegung des § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V auseinanderzusetzen hat. Auch weicht der Senat von der gegenteiligen Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. November 2009 – L 1 KR 90/09 ab. Die Zulassung der Revision rechtfertigt sich auch aus der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage.

Die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abs. 1, 3 GKG.
Rechtskraft
Aus
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