L 9 AL 367/12 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 19 AL 286/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 AL 367/12 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Zulässigkeit und Begründetheit einer erst im April 2012 erhobenen Untätigkeitsklage bei Nichtbescheidung eines bereits im August 2008 gestellten Antrags auf Insolvenzgeld
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.11.2012 geändert. Der Klägerin wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Düsseldorf ab dem 05.09.2012 ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. I aus L beigeordnet. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das Sozialgericht (SG) hat den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für die auf Bescheidung des am 11.08.2008 gestellten Antrags auf Insolvenzgeld gerichtete Untätigkeitsklage zu Unrecht abgelehnt.

1. Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 114 Satz 1, 115 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Entgegen der Auffassung des SG bietet die Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die von der Klägerin am 16.12.2012 erhobene Untätigkeitsklage nach § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG war im maßgeblichen Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs, die hier nach Darlegung aller für die Bedürftigkeitsprüfung maßgeblichen Umstände am 05.09.2012 mit der Klarstellung, dass die Klägerin ledig ist, eingetreten ist, zulässig und begründet.

aa) Warum die Untätigkeitsklage im Zeitpunkt ihrer Erhebung unzulässig gewesen sein soll, wie das SG gemeint hat, erschließt sich nicht, zumal das SG nicht dargelegt hat, an welcher Zulässigkeitsvoraussetzung es fehlen soll. Die in § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG selbst genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen (vgl. hierzu auch Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 88 Rn. 3 ff.) sind offensichtlich erfüllt. Die Klägerin hat einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes (Gewährung von Insolvenzgeld) gestellt, den die Beklagte bislang nicht sachlich beschieden hat. Die Sperrfrist von 6 Monaten nach Antragstellung mit anwaltlichem Schriftsatz vom 11.08.2088 war im Zeitpunkt der Erhebung der Untätigkeitsklage längst verstrichen.

Eine Pflicht oder Obliegenheit, vor der Erhebung der Untätigkeitsklage eine Sachstandsanfrage an die Behörde zu richten, sieht das Gesetz nicht vor, schon gar nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung. Dass eine Untätigkeitsklage mangels vorheriger Sachstandsanfrage unzulässig sein kann, wird, soweit ersichtlich, in Rechtsprechung und Literatur auch nicht vertreten. Umstritten ist lediglich, ob und unter welchen Voraussetzungen eine unterbliebene Sachstandanfrage bei der nach § 193 Abs. 1 SGG nach Erledigung der Untätigkeitsklage zu treffenden Kostengrundentscheidung berücksichtigt werden und eine Kostentragungspflicht der Behörde bei an sich zulässiger und begründeter Untätigkeitsklage unter Veranlassungsgesichtspunkten ausschließen oder einschränken kann (vgl. hierzu im Überblick LSG Baden- Württemberg, Beschl. v. 14.09.2005 - L 10 LW 4563/04 AK-B -, juris Rn. 29 ff. m.w.N.; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 06.03.2006 - L 30 B 168/04 AL -, juris Rn. 9 ff.; Hessisches LSG, Beschl. v. 15.02.2008 - L 7 B 184/07 AS -, juris Rn. 18 ff.). Hierüber ist im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden.

Für die Erhebung der Untätigkeitsklage hat auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis gefehlt. Dies wäre denkbar gewesen, wenn eine vorherige Sachstandsanfrage dazu geführt hätte, dass der Antrag der Klägerin beschieden worden wäre. Dann hätte der Klägerin möglicherweise ein einfacherer Weg ohne Erhebung der Klage zur Verfügung gestanden, um die Bescheidung ihres Antrags herbeizuführen. Dies war hier jedoch nicht der Fall, denn die Beklagte hat den Antrag der Klägerin nach wie vor nicht beschieden und wäre hierzu auch bei einer Sachstandsanfrage vor Erhebung der Untätigkeitsklage nicht in der Lage gewesen.

Der Zulässigkeit der Untätigkeitsklage steht schließlich auch nicht der Einwand unzulässiger Rechtsausübung oder rechtsmissbräuchlicher Erhebung wegen Verwirkung des Klagerechts gemäß § 242 BGB analog entgegen.

Ebenso wie für die verwaltungsgerichtliche Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO ist für die Untätigkeitsklage nach § 88 SGG anerkannt, dass das Klagerecht verwirkt sein kann, wenn der Betroffene das Verwaltungsverfahren jahrelang nicht mehr betreibt. Neben einem erheblichen Zeitablauf müssen hierfür besondere Umstände hinzutreten, die die späte Klageerhebung als widersprüchliches Verhalten des Klägers erscheinen lassen. Verwirkung tritt danach ein, wenn der Kläger sich im Vorfeld so verhalten hat, dass die verklagte Behörde davon ausgehen durfte, dass es nicht mehr zur Klageerhebung kommen würde, und entsprechende Dispositionen getroffen hat, die es als unzumutbar erscheinen lassen, das als abgeschlossen betrachtete Verwaltungsverfahren wiederaufnehmen zu lassen und auch formell zum Abschluss zu bringen (vgl. zum Ganzen Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10 Aufl. 2008, § 88 Rn. 13; LSG NRW, Beschl. v. 09.05.2011 - L 7 AS 218/11 B -, juris Rn. 3; SG Freiburg, Beschl. v. 30.06.2011 - S 21 AS 577/11 -, juris Rn. 14 f., 17 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Zwar hat die Klägerin durchaus erhebliche Zeit zwischen ihrer letzten Erinnerung gegenüber der Beklagten mit Schreiben vom 25.06.2010 und der Erhebung der Untätigkeitsklage am 16.04.2012, nämlich über 21 Monate, verstreichen lassen. Dies führt jedoch nicht zur Verwirkung ihres Klagerechts, denn im vorliegenden Fall sind besondere Umstände, die die späte Klageerhebung als widersprüchlich erscheinen lassen, nicht ersichtlich. Es fehlt sowohl an einem über den bloßen Zeitablauf hinaus gehenden Verhalten der Klägerin, aufgrund dessen die Beklagte davon ausgehen und darauf vertrauen durfte, dass eine Untätigkeitsklage unterbleibt, als auch an Dispositionen der Beklagten im Hinblick darauf.

bb) Die Untätigkeitsklage war im Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs am 05.09.2012 auch begründet. Ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Antrags der Klägerin lag weder bei Klageerhebung noch bis zum 05.09.2012 vor. Entsprechendes macht die Beklagte auch nicht geltend. Sie hat vielmehr erst nach Klageerhebung überhaupt angefangen zu ermitteln, ob in Ansehung des letzten Arbeitgebers der Klägerin ein Insolvenzereignis im Sinne von § 183 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch in der hier anwendbaren, bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung (SGB III a.F.) und ggf. welches vorliegt. Weitere Ermittlungen hat sie erst Mitte Oktober 2012 eingeleitet. Warum sie die erforderlichen Ermittlungen nicht bereits im Jahre 2010 hätte vornehmen können, erschließt sich nicht.

Ob in Anbetracht der im Oktober 2012 eingeleiteten Ermittlungen nunmehr ein zureichender Grund für die bislang unterbliebene Bescheidung des Antrags der Klägerin gegeben ist, kann dahinstehen, denn für die Begründetheit des Prozesskostenhilfegesuchs kommt es im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Prozesskostenhilfe, den Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren mit anwaltlicher Vertretung zu ermöglichen, auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife, d.h. den Zeitpunkt, zu dem frühestens eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe hätte erfolgen können, an. Sofern das SG nunmehr einen zureichenden Grund annimmt, hat es das Klageverfahren nach Maßgabe von § 88 Abs. 1 Satz 2 SGG auszusetzen.

b) Die Rechtsverfolgung der Klägerin erscheint auch nicht mutwillig. Es wird zwar vertreten, dass die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Untätigkeitsklage wegen Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung nach den Umständen des Einzelfalls zu versagen sein kann, wenn ein nichtbedürftiger Beteiligter, der die Kosten für einen Rechtsanwalt selbst aufbringen müsste, die Untätigkeitsklage nicht sofort, sondern erst nach vorheriger Sachstandsanfrage erhoben hätte (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschl. v. 20.11.2008 - L 8 B 426/08 -, juris Rn. 28; Beschl. v. 16.08.2011 - L 8 B 296/09 -, juris Rn. 12 ff.). Da die Beklagte hier jedoch trotz der Mitte 2010 erfolgten Erinnerung jegliche Bearbeitung des Antrags der Klägerin unterlassen hat und erst infolge der Erhebung der Untätigkeitsklage überhaupt tätig geworden ist, kann die Rechtsverfolgung der Klägerin nicht als mutwillig bewertet werden. Abgesehen davon, dass eine vorherige Sachstandsanfrage oder die Ankündigung der Erhebung der Untätigkeitsklage offensichtlich nicht zur umgehenden Bescheidung des Antrags geführt hätte, wie der Verlauf des Klageverfahrens zeigt, ist davon auszugehen, dass in Anbetracht der langandauernden Untätigkeit der Beklagten auch ein Bemittelter sofort Untätigkeitsklage erhoben hätte. Ob die unterbliebene Sachstandsanfrage der Klägerin nach Erledigung der Untätigkeitsklage im Rahmen der nach § 193 Abs. 1 SGG zu treffenden Kostengrundentscheidung zu berücksichtigen ist, braucht hier, wie bereits ausgeführt, nicht entschieden zu werden.

c) Die Klägerin ist ausweislich des Vermerks der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 17.09.2012, auf den der Senat Bezug nimmt, nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen außerstande, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 73a SGG i.V.m. § 115 ZPO), so dass ihr ratenfrei Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen ist.

d) Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe konnte jedoch erst ab dem Zeitpunkt der Bewilligungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs am 05.09.2012 erfolgen.

2. Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin folgt aus § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO. Von der Erforderlichkeit der Anwaltsbeiordnung ist hier in Anbetracht der langandauernden Untätigkeit der Beklagten auszugehen.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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