S 26 R 1179/12 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
26
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 26 R 1179/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die aufschiebende Wirkung des am 17.05.2012 bei der Antragsgegnerin eingegangenen Widerspruchs vom 09.05.2012 gegen den Beitragsbescheid der Antragsgegnerin vom 23.04.2012 wird angeordnet. 2. Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin und die gerichtlichen Kosten für das Antragsverfahren. 3. Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 353.194,55 Euro festgesetzt.

Gründe:

I. Die Antragsgegnerin hat unter dem 23.04.2012 nach Anhörung im Rahmen einer Betriebsprüfung einen Beitragsbescheid erlassen, mit dem sie von der Antragstellerin Sozialversicherungsbeiträge nebst Umlagen und darauf entfallende Säumniszuschläge fordert, insgesamt in Höhe von 1.412.778,21 Euro. Die Antragstellerin hat fristgerecht mit einem Schriftsatz vom 09.05.2012, der am 17.05.2012 bei der Antragsgegnerin einging, Widerspruch eingelegt. Die Antragsgegnerin hat mit Schriftsatz vom 24.05.2012 dem Bevollmächtigten der Antragstellerin mitgeteilt, einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht zuzustimmen. Mit am gleichen Tage bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 31.05.2012 hat die Antragstellerin nun begehrt, die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs anzuordnen. Zur Begründung beruft sie sich unter anderem darauf, dass die Antragsgegnerin ihre eigentliche Beitragsforderung gar nicht ausreichend begründet habe bzw. mit einer nur sehr knappen Begründung kaum Anhaltspunkte biete, die einzelnen Vorwürfe einer konkreten Überprüfung zu unterziehen. In der Sache selbst seien die Forderungen der Antragsgegnerin aus verschiedenen Gründen nicht berechtigt. Dies ergebe sich unter anderem auch aus den beigefügten eidesstattlichen Versicherungen diverser Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Antragstellerin. In der Sache sei auch Eile geboten, weil nach einer Ankündigung der Einzugsstellen die Einziehung der geforderten Summe am 3. letzten Bankarbeitstag des Monats Juni zu befürchten sei. Der Erfolg der Stundungsverhandlungen könne noch nicht beurteilt werden. Zumindest eine der Einzugsstellen habe eine ablehnende Haltung bereits erkennen lassen.

Die Antraggegnerin ist nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen nicht bereit, von der sofortigen Vollstreckbarkeit des Beitragsbescheides abzusehen bzw. aufschiebende Wirkung des Widerspruchs einzuräumen. Sie trägt schriftsätzlich sinngemäß vor, es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides. Sie habe sich auf Feststellungen des Hauptzollamtes gestützt und dürfe dies auch. Sie gehe weiterhin davon aus, dass die Antragstellerin sich bei der Gewinnung und Anstellung rumänischer Saisonarbeitnehmer einer rumänischen gewerblichen Arbeitsvermittlung bedient habe. Die Antragstellerin greife generell zurück auf Arbeitskräfte, die ihre Aufgaben schon im Betrieb gekannt hätten. Zwar könne angesichts des jetzigen Vorbringens nicht ausgeschlossen werden, dass im Widerspruchsverfahren aufgrund diverser Einwendungen noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen seien, was allerdings eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht rechtfertige.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II. Dem Antrag der Antragstellerin war stattzugeben.

Der Antrag der Antragstellerin ist zulässig. Denn der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Beitragsbescheid hat keine aufschiebende Wirkung, § 86 a Abs. 1 Nr. 1 SGG. In diesem Fall kann – wie hier – einstweiliger Rechtsschutz nach Maßgabe des § 86 b Abs. 1 Nr. 2 SGG beantragt werden dahingehend, die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs des Widerspruchs anzuordnen. Dies bezieht sich im Übrigen auch auf die Forderung der Säumniszuschläge, die einen Annex zu den Beitragsforderungen darstellen (LSG NRW, Beschluss vom 07.01.2011 – L 8 R 864/10 B ER) Die Entscheidung, ob die aufschiebende Wirkung ausnahmsweise durch das Gericht angeordnet wird, erfolgt nun aufgrund einer umfassenden Abwägung des Aufschubinteresses der Antragstellerin einerseits und des öffentlichen Interesses an der Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung ist in Anlehnung an § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG zu berücksichtigen, in welchem Ausmaß Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen und ob die Vollziehung für den Antragsteller eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene, Härte zur Folge hätte. Danach ist der Antrag der Antragstellerin begründet. Angesichts der Höhe der geltend gemachten – potenziell existenzgefährdenden – Beitragsforderung nebst Säumniszuschlägen von über 1,4 Millionen Euro, und angesichts des Umstandes, dass nun auch die Antragsgegnerin es mit Seite 5 ihres Schriftsatzes vom 06.06.2012 nicht mehr ausschließt, dass sie – im Rahmen ihres Widerspruchsverfahrens – noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen hat (insbesondere im Hinblick auch auf die eidesstattlichen Versicherungen von Mitarbeiterin der Antragstellerin), und angesichts auch bloßer Übernahme der Feststellungen des Hauptzollamtes im bisherigen Verwaltungsverfahren bei ganz erheblichen Einwänden der Antragstellerin – auch was die angebliche Inanspruchnahme einer rumänischen Arbeitsvermittlung angeht –, ist hier nicht auszuschließen im Sinne von § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG, dass der Bescheid vom 23.04.2012 ganz oder zumindest teilweise in auch erheblichem Umfang unrechtmäßig und deshalb aufzuheben ist; mithin ist hier summarisch eine Abwägung vorzunehmen, also unter Berücksichtigung a) der Interessen der Antragstellerin einerseits sowie b) der öffentlichen Interessen oder Interessen anderer Personen andererseits sowie c) der potenziellen Erfolgsaussichten des Widerspruchs abzuwägen, ob es der Antragstellerin zuzumuten ist, die Hauptsacheentscheidung – also das Ergebnis des Widerspruchsverfahrens – abzuwarten, dessen Dauer im Wesentlichen die Antragsgegnerin selbst in der Hand hat (vgl. Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 04.10.2005 – L 10 B 472/05 AS ER allgemein zur Abwägung).

Hier ist angesichts des bisherigen sinngemäßen schriftsätzlichen Vorbringens der Antragstellerin, wenn die streitige hohe Forderung schon jetzt so vollzogen werden sollte, angesichts der erweckten ernstlichen Zweifel – die auch die Antragsgegnerin selbst mit bloßer Übernahme der Feststellungen des Hauptzollamtes genährt hat – an der Rechtmäßigkeit bzw. vollen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Beitragssummenbescheides es nicht als zumutbar anzusehen, dass die Antragstellerin bereits jetzt mit der Vollstreckung des angefochtenen Bescheides gefährdet wird. Wie bereits oben wiedergegeben, hat die Antragsgegnerin den Beitragsbescheid in der bloßen Vermutung erlassen, es würden die Feststellungen des Hauptzollamtes voll umfänglich oder nahezu vollumfänglich zutreffen; auf diese Vermutung kann sich die Antragsgenerin aber im Verwaltungsverfahren – und erst recht in einem gerichtlichen Verfahren – nicht allein stützen, denn § 28 p SGB IV begründet eine Verpflichtung der Antragsgegnerin beim Arbeitgeber selbst zu prüfen, ob und inwieweit Beiträge bisher zu Unrecht nicht erhoben wurden. Die Antragsgegnerin wird von einer eigenen Prüfungspflicht also nicht völlig frei; selbst die Bestimmungen des Gesetzes zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung (SchwarzArbG), dort § 6, begründen nur eine Übermittlungspflicht der Zollverwaltung, nicht aber eine gesetzliche Vermutung oder Fiktion der Richtigkeit der Ermittlungsergebnisse des Hauptzollamtes; auf Vermutungen kann sich die Antragsgegnerin also im Verwaltungsverfahren nicht allein stützen, und wird die notwendigen näheren Feststellungen zu allen bisherigen Einwänden der Antragstellerin und ihrem Vorbringen und ihrem Bestreiten und ihren eidesstattlichen Versicherungen noch selbst nachzuholen haben und im Widerspruchsbescheid – sofern und soweit sie an der Beitragsforderung festhalten sollte – auch darzulegen haben; anderenfalls wäre anzunehmen, dass eine künftige potenzielle Klage gegen einen den Widerspruch zurückweisenden Widerspruchsbescheid schon nach § 131 Abs. 5 SGG Erfolg hätte (im Sinne der Zurückverweisung der Angelegenheit an die Verwaltung, wenn diese nicht die ihr möglichen und erforderlichen Feststellungen und Ermittlungen durch ihre Betriebsprüfer selbst durchführt). Es ist nämlich angesichts des bisherigen Vorbringens der Antragstellerin nicht zu verkennen, dass es ernstliche Zweifel gibt, in welchem Umfang wie viele Personen in welcher Zeit regelmäßig oder nur aushilfsweise tätig geworden sind und durch gewerbliche Vermittlung einer Arbeitsvermittlung tätig geworden sind oder nicht. All dies lässt sich allein aus dem bisherigen Inhalt der von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten nicht mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit hinreichend feststellen. Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten bestehen im Wesentlichen aus äußerst umfangreichen Tabellen und enormem Zahlenmaterial, jedoch ohne substanziierte Erhebungen zu den Einwänden der Antragstellerin. Dem dem Band III der Akte der Antragsgegnerin vorgehefteten Vermerk fehlt zumindest eine Seite (nach Seite 1 des Vermerks); in Band I – Erhebungshilfe – der Akte der Antragsgegnerin findet sich eine Aufstellung der Säumniszuschläge, dort in Höhe von 391.803,33 Euro, die aber abweicht von der jetzt in der Antragserwiderung genannten Zahl von 332.922 Euro. Wie dies zustande kommt und was nun zutreffend ist, ist bisher nicht eindeutig ersichtlich, zumal ein Schreiben in dem zuletzt genannten Band an eine Frau E einräumt, dass die Antragsgegnerin gar kein Programm habe, um von den Beiträgen auch die Säumniszuschläge zu berechnen. Man würde bestimmte Entgeltsummen pro Jahr benötigen; auf diesem Schreiben befindet sich dann nur eine handschriftliche Aufstellung – wieder anders laufendenden – über einen Betrag von 398.562,76 Euro, sodass bisher jedenfalls schon die Berechnung der Säumniszuschläge für das Gericht nicht nachvollziehbar ist. Hinzu kommt ferner gerade hier der beachtliche Einwand der Antragstellerin unter Punkt II der Antragsschrift, dass der angefochtene Beitragsbescheid auch trotz einer Forderung von mehr als 1,4 Millionen Euro nur ca. 10 Zeilen als Begründung angibt mit der Folge, dass der angefochtene Bescheid – scheinbar – kaum Angriffsfläche bietet für gezielte Einwände; die knappe Begründung der äußerst hohen Forderung kann dann aber nicht zum Nachteil der Antragstellerin gereichen und bewirkt hier eher eine gesteigerte Begründungspflicht der Antragsgegnerin, wenn sie auch angesichts aller in der Antragsschrift erhobenen Einwände weiterhin an ihrer Forderung ganz oder teilweise festhalten will. Insgesamt spricht hier mehr für als gegen die Aussetzung der Vollziehung bzw. mehr für als gegen die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides (vgl. § 86 a Abs. 3 Satz 2 SGG), und es ist im Übrigen auch deshalb der Antragsgegnerin zuzumuten vorläufig aufschiebende Wirkung zu gestatten, weil es die Antragsgegnerin selbst in der Hand hat durch eigene Ermittlungen Einfluss darauf zu nehmen, wie lange es dauert, bis der Widerspruch beschieden wird. Die Antragsgegnerin ist nach alledem nicht hinreichend befugt, allein aufgrund von bisher streitigen Feststellungen der Zollverwaltung Schätzungen oder Annahmen vorzunehmen, die das Gericht so anhand der Verwaltungsakte noch gar nicht ausreichend nachvollziehen kann. Ist also nach gesamter bisheriger Sachlage durchaus nicht unwahrscheinlich, dass der Beitragsbescheid zumindest teilweise aufzuheben ist, gerade als Beitragssummenbescheid, lässt dies den Beitragsbescheid insgesamt nicht mehr als rechtmäßig erscheinen mit der Folge, dass eine Vollstreckung daraus als unbillig anzusehen wäre – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Die Kostenentscheidung für das Antragsverfahren folgt aus § 154 Abs. 1, § 161 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 197 a SGG.

Der Streitwert war nach § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 52 GKG nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen, nachdem sich das erstinstanzliche Verfahren mit diesem Beschluss über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung erledigt hat. Hier war für den Rechtsstreit betreffend Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Nachforderung der Gesamtsozialversicherungsbeiträge und Umlagebeiträge und Säumniszuschläge ein Streitwert von 25 % der streitigen Gesamtforderung (1.412.778,21 Euro) festzusetzen, also ein Betrag von 353.194,55 Euro. Die Bewertung des Streitwerts für ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes mit 25 % der streitigen Gesamtnachforderung entspricht allgemeiner Meinung der Rechtsprechung (u. a. LSG NRW Beschluss vom 02.09.2009 – L 8 B 15/09 R). Dabei sind bei der Bestimmung des Streitwerts auch die in der Gesamtforderung der Beklagten enthaltenen Säumniszuschläge zu berücksichtigen, wie hier geschehen; dies hat auch bereits das LSG NRW in mehreren Entscheidungen bestätigt (u. a. in der bereits oben genannten Entscheidung vom 02.09.2009). Denn Säumniszuschläge gemäß § 24 SGB IV gehören nicht zu den in § 43 Abs. 1 GKG genannten – den Streitwert nicht erhöhenden – Nebenforderungen. Sie wirken also auch streitwerterhöhend bzw. streitwertmitbetstimmend, sodass 1/4 von 1.412.778,21 Euro hier festzusetzen war.
Rechtskraft
Aus
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