S 3 U 13/09

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 13/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 38/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII setzt voraus, dass die Ausbildungsveranstaltung eine unmittelbare, hinreichende Sachnähe zur Hilfe bei Unglücksfällen hat. Die Teilnehmer müssen gerade für diesen Zweck des Unternehmens ausgebildet werden.
2. Der Versicherungsschutz folgt aus dem öffentlichen Interesse, möglichst viele Personen zur Hilfeleistung für Dritte zu qualifizieren, auch wenn sie die erworbenen Kenntnisse nicht sofort unmittelbar anwenden. Daher kann ein Versicherungsverhältnis auch nur bei solchen Ausbildungsmaßnahmen angenommen werden, die in erster Linie der Fremdrettung dienen, also eine überwiegend altruistische Motivation der Teilnehmer voraussetzen.
3. Diese teleologische Begrenzung der § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII unterfallenden Ausbil-dungsveranstaltungen muss an deren Inhalt anknüpfen und nicht an der persönlichen Zwecksetzung des einzelnen Teilnehmers.
4. Berufung anhängig beim Hess. LSG (Az.: L 9 U 38/13).
1. Der Bescheid der Beklagten vom 14.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2009 wird aufgehoben und es wird festgestellt, dass es sich bei dem klägerischen Verkehrsunfall vom 10.05.2003 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

2. Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung eines Verkehrsunfalls des Klägers am 10.05.2003 als Arbeitsunfall.

Der 1985 geborene Kläger war seinerzeit als Beifahrer in dem PKW seiner Mutter unterwegs. Sie fuhren mit zwei weiteren Mitfahrern auf der L xxx in Richtung B-Stadt. Gegen 7:45 Uhr kam es in Höhe von km 0,75 zu einem Frontalzusammenstoß mit einem entgegenkommenden Fahrzeug. Dabei wurde die Mutter des Klägers getötet; der Kläger wurde schwer verletzt. Daraufhin wurde der Kläger als Notfall in ärztliche Behandlung verbracht, operiert und stationär aufgenommen. In der Folgezeit füllte der Kläger, vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter, einen Unfallfragebogen seiner Krankenkasse aus. Dabei wurden keine Angaben zu einem gesetzlich unfallversicherten Wegeunfall gemacht.

Vier Jahre später erfuhr die Beklagte erstmals von dem Unfallereignis des Klägers, als dieser unter dem 29.08.2007 die Gewährung von Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung begehrte. Im Verwaltungsverfahren schilderte der Kläger der Beklagten Einzelheiten zu dem Unfall und seinen Folgen. Er gab an, er sei auf dem Weg zu dem Seminar "Sofortmaßnahmen am Unfallort" in B-Stadt gewesen. Auf die Rückfrage, in welcher "Eigenschaft" er an dem Seminar habe teilnehmen wollen, teilte er mit, dies habe er im Hinblick auf sein "zukünftig geplantes Engagement im Rettungswesen" beabsichtigt. Es habe sich um ein Seminar des DRK B-Stadt gehandelt, das unter der Bezeichnung "Lebensrettende Sofortmaßnahmen" am Samstag, dem 10.05.2003 ganztägig stattfand. Nach weiteren Ermittlungen der Beklagten begann die Veranstaltung, ein Seminar für Führerscheinbewerber, um 8 Uhr. Eine vorherige Anmeldung der Teilnehmer sei nicht erfolgt. Weiterhin wurde festgestellt, dass das streitgegenständliche Ereignis gegenüber einer anderen Mitfahrerin des Unfallfahrzeugs als Arbeitsunfall anerkannt wurde. Sodann ließ die Beklagte den Kläger im Wege der Amtshilfe vernehmen. Seine Antworten auf die Fragen der Beklagten wurden handschriftlich auf dem Fragebogen vermerkt, auf den verwiesen wird (Bl. 162 f. der Beklagtenakte). Mit Bescheid vom 14.04.2008 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfallereignisses vom 10.05.2008 als Versicherungsfall und dessen Entschädigung ab. Der Kläger habe sich nicht auf einem versicherten Weg befunden. Versicherungsschutz bestehe etwa für Ausbildungsveranstaltungen des DRK für Führerscheinbewerber. Der Kläger habe jedoch nicht angegeben, bei einer Fahrschule angemeldet gewesen zu sein. Vielmehr habe er mehrfach erklärt, es sei ihm um die Teilnahme an einem Seminar für angehende Rettungsassistenten gegangen. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger fristgerecht Widerspruch. Im Vorverfahren ließ die Beklagte die übrigen Mitfahrer des Unfallfahrzeugs zeugenschaftlich vernehmen. Mit Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 21.01.2009 wurde der klägerische Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen.

Am 20.02.2009 hat der Kläger, vertreten durch seine Prozessbevollmächtigten, dagegen Klage zum Sozialgericht Marburg erhoben.

Der Kläger behauptet, er sei bereits vor dem Unfalltag bei der Fahrschule CZ., A-Stadt, angemeldet gewesen. Dort sei ihm die Teilnahme an dem für Führerscheinbewerber obligatorischen Kurs "Lebensrettende Sofortmaßnahmen" beim DRK B-Stadt empfohlen worden.

Er ist der Ansicht, das Seminar, das er am Unfalltag besuchen wollte, von Anfang an zutreffend bezeichnet zu haben. Seine gegenüber der Beklagten geäußerte Absicht, den Kurs auch im Hinblick auf sein "zukünftig geplantes Engagement im Rettungswesen" zu besuchen, stehe einer Anerkennung als Arbeitsunfall nicht entgegen.

Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 14.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2009 aufzuheben und festzustellen, dass es sich bei dem klägerischen Verkehrsunfall vom 10.05.2003 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf die widersprüchlichen Angaben des Klägers zu seiner Motivation am Unfalltag. Seine Zugehörigkeit zum versicherten Personenkreis sei so nicht bewiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands, insbesondere wegen des jeweiligen weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte. Ferner wird auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht hat der Klage stattgegeben, da sie zulässig und begründet ist.

Die vom Kläger form- und fristgerecht erhobene kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage ist statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Sie ist auch begründet.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14.04.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.01.2009 war aufzuheben, da er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung, dass es sich bei seinem Verkehrsunfall vom 10.05.2003 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

Arbeitsunfälle sind gemäß § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII stellt auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit eine versicherte Tätigkeit dar.

Diese gesetzlichen Voraussetzungen sind bei dem klägerischen Verkehrsunfall am Morgen des 10.05.2003 erfüllt worden. Bei dem Frontalzusammenstoß des von der Mutter des Klägers geführten Kraftfahrzeugs mit einem entgegenkommenden Fahrzeug handelte es sich unzweifelhaft um ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper des Klägers einwirkendes Ereignis, das zu einem Gesundheitsschaden geführt hat. Auch die Kausalität zwischen der Tätigkeit (Zurücklegen des Weges nach B-Stadt durch das Mitfahren in dem Unfallfahrzeug) und der äußeren Einwirkung erscheint der Kammer (ebenso wie den Beteiligten) unproblematisch. Die Beteiligten streiten nur um die Frage des Versicherungsschutzes bei dieser Tätigkeit. Da es sich um einen Wegeunfall handelt, kommt es darauf an, ob der Kläger seinerzeit einen Ort aufsuchen wollte, an dem er einer versicherten Tätigkeit nachgegangen wäre. Dies ist nach Ansicht der Kammer zu bejahen.

Das Gericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger bei seiner Fahrt nach B-Stadt am 10.05.2003 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII kraft Gesetzes versichert war. Dieser Versicherungsschutz kommt Personen zugute, die in Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich tätig sind oder an einer Ausbildungsveranstaltung dieser Unternehmen teilnehmen. Bei dem DRK B-Stadt handelt es sich um ein solches Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz. Der Kläger war zwar seinerzeit für das DRK B-Stadt nicht unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich tätig; er wollte aber an einer Ausbildungsveranstaltung des DRK B-Stadt teilnehmen. Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung besteht dann nicht nur während der Teilnahme (§ 8 Abs. 1 SGB VII), sondern auch während des Zurücklegens des unmittelbaren Weges zum Ort der Teilnahme (§ 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII).

Zur Überzeugung der erkennenden Kammer steht fest, dass der Kläger am 10.05.2003 auf dem Weg zu dem vom DRK B-Stadt an diesem Tag unter der Bezeichnung "Lebensrettende Sofortmaßnahmen am Unfallort" ab 8:00 Uhr ganztägig veranstalteten Seminar war. Diese Angabe des Klägers ist von der Beklagten nie in Zweifel gezogen worden. Auch aus Sicht der Kammer bestehen keine vernünftigen Zweifel an der Annahme, dass der Kläger diese Veranstaltung aufsuchen wollte. Der Unfall ereignete sich auf der L xxx in Höhe von km 0,75 in Fahrtrichtung B-Stadt. Der Unfallzeitpunkt passt zu dem Veranstaltungsbeginn. Das DRK B-Stadt hat im Verwaltungsverfahren gegenüber der Beklagten nicht nur bestätigt, dass der entsprechende Kurs stattgefunden hat, sondern auch, dass für ihn keine Anmeldung erforderlich gewesen ist. In dem Unfallfahrzeug befanden sich schließlich zwei weitere Altersgenossen des Klägers, die bestätigt haben, zu dem entsprechenden Seminar des DRK B-Stadt unterwegs gewesen zu sein. Zumindest gegenüber einer Mitfahrerin ist dies von der Beklagten auch bestandskräftig anerkannt worden.

Weitere Tatbestandsvoraussetzungen sind dem Wortlaut der Norm nicht zu entnehmen. In Schrifttum und Rechtsprechung besteht jedoch Einigkeit darüber, dass der Tatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII teleologisch zu begrenzen ist. Hinzukommen muss ein finales Element: Die Ausbildungsveranstaltung muss eine unmittelbare, hinreichende Sachnähe zur Hilfe bei Unglücksfällen haben. Die Teilnehmer müssen gerade für diesen Zweck des Unternehmens ausgebildet werden (so Lauterbach/Schwerdtfeger, § 2 SGB VII, Rn. 414). Dem folgt die Kammer. Denn die Einbeziehung in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gründet sich auf altruistisch motiviertes Tätigwerden für die von der Vorschrift erfassten Unternehmen, das dem öffentlichen Interesse und Wohl dient. Der Versicherungsschutz folgt aus dem öffentlichen Interesse, möglichst viele Personen zur Hilfeleistung für Dritte zu qualifizieren, auch wenn sie die erworbenen Kenntnisse nicht sofort unmittelbar anwenden. Daher kann ein Versicherungsverhältnis auch nur bei solchen Ausbildungsmaßnahmen angenommen werden, die in erster Linie der Fremdrettung dienen, also eine überwiegend altruistische Motivation der Teilnehmer voraussetzen (siehe Franke, in Becker/Franke/Molkentin, Sozialgesetzbuch VII, 3. Auflage 2010, § 2 Rn. 115).

Verdeutlicht man sich diese Hintergründe der gesetzlichen Regelung, mag es durchaus verwundern, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung Führerscheinbewerber in den Versicherungsschutz einbezogen hat (vgl. BSGE 51, 176), die den vorgeschriebenen Erste-Hilfe-Kurs sicher häufig nur notgedrungen absolvieren, um die begehrte Fahrerlaubnis erhalten zu können. Bezüglich dieses vordergründig ausschließlich eigennützigen Verhaltens bestehen seitens der Beklagten indes keine Bedenken gegen die Bejahung von Versicherungsschutz. Erst recht müsste dies aber für den Fall gelten, dass der Kläger den am Unfalltag terminierten Kurs "Sofortmaßnahmen am Unfallort" doch aus wahrlich altruistischen Motiven besuchen wollte, nämlich um sich ehrenamtlich im Rettungswesen zu engagieren. Unterstellt man eine solche Zwecksetzung (wie in den angefochtenen Bescheiden geschehen), bestünde sicherlich eine größere Sachnähe zur Hilfe bei Unglücksfällen als bei Führerscheinbewerbern. Denn eine solche Ausbildung würde umso mehr im Interesse der Allgemeinheit liegen. Deswegen ist etwa auch ein Lehrgang für Rettungsschwimmer vom Versicherungsschutz umfasst, nicht jedoch ein Anfängerschwimmkurs, bei dem die altruistische Motivation nicht im Vordergrund steht.

Nach alledem ist es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht entscheidungserheblich, aus welchem Grund der Kläger an der Ausbildungsveranstaltung des DRK B-Stadt teilnehmen wollte. Daher hat die Kammer im vorliegenden Fall auch keine weiteren Sachverhaltsermittlungen von Amts wegen für erforderlich gehalten. Entgegen der Ansicht der Beklagten war nicht etwa Beweis über die Tatsache zu erheben, ob der Kläger an dem Seminar "Sofortmaßnahmen am Unfallort" als angemeldeter Führerscheinbewerber teilnehmen wollte. Eine andere Zwecksetzung könnte seinen Versicherungsschutz nicht ausschließen. Im vorliegenden Fall ist in beiden Varianten der Schutzzweck der Norm erfüllt. Insoweit geht die Kammer (unabhängig von den obigen Ausführungen) davon aus, dass die teleologische Begrenzung der § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII unterfallenden Ausbildungsveranstaltungen an deren Inhalt anknüpfen muss und nicht an der persönlichen Zwecksetzung des einzelnen Teilnehmers. Schon aus Praktikabilitätsgründen muss die Frage nach der versicherten Tätigkeit für alle Teilnehmer einheitlich beantwortet werden. Auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung sprechen dafür, dass die dort privilegierten Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen oder im Zivilschutz durch die Art der von ihnen organisierten Veranstaltung beeinflussen können, ob § 2 Abs. 1 Nr. 12 SGB VII Anwendung findet oder nicht. Danach hängt der Versicherungsschutz nicht von einer fremdnützigen Motivation des einzelnen Teilnehmers ab. Es kommt vielmehr auf die Ausgestaltung und das Ziel der jeweiligen Ausbildungsveranstaltung an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz und folgt dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.
Rechtskraft
Aus
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