L 4 P 4017/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 P 1018/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 4017/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Juli 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt, ihr Pflegegeld nach der Pflegestufe II auch für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 30. September 2008 zu zahlen.

Die 1957 geborene Klägerin ist als Bezieherin einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit versicherungspflichtiges Mitglied der beklagten Pflegekasse. Sie leidet an Multipler Sklerose.

Die Klägerin beantragte am 25. Januar 2005 Geldleistungen der Pflegeversicherung. Arzt Dr. S., Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK), verneinte in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 28. Februar 2005 Pflegebedürftigkeit. Die Beklagte lehnte es ab, Leistungen der Pflegeversicherung zu zahlen (Bescheid vom 8. April 2005). Die Klägerin erhob am 20. April 2005 Widerspruch. Pflegefachkraft Sp., MDK, nannte in seinem Gutachten vom 16. November 2005 als pflegebegründende Diagnosen eine Bewegungseinschränkung bei Erkrankung an Multipler Sklerose sowie eine Harninkontinenz und schätzte den täglichen Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf 49 Minuten (Körperpflege 20 Minuten, Ernährung zehn Minuten, Mobilität 19 Minuten). Von der seit 1985 bekannten Erkrankung an Multipler Sklerose, die sich ab 2002 deutlich verschlechtert habe, sei insbesondere die linke Seite mit Zittern, Gefühls- und Sensibilitätsstörungen sowie zeitweisen Spastiken betroffen. Die rechte Seite sei etwas besser. Insbesondere das Gehen und Stehen sowie die Feinmotorik und Koordination der Hände sei deutlich erschwert. Die Beklagte bewilligte der Klägerin ab 1. Januar 2005 Pflegegeld nach der Pflegestufe I (Bescheid vom 21. November 2005).

Auch gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch. Sie begehrte Pflegegeld der Pflegestufe II und legte ein Pflegetagebuch für die Zeit vom 6. bis 12. März 2006 vor, in welchem sie den Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege an den einzelnen Tagen zwischen 450 Minuten und 545 Minuten bezifferte. Pflegefachkraft B., MDK nannte in ihrem Gutachten vom 10. Mai 2006 als pflegebegründende Diagnosen eine Bewegungseinschränkung bei Erkrankung an Multipler Sklerose sowie eine partielle Harninkontinenz und schätzte den täglichen Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf 55 Minuten (Körperpflege 29 Minuten, Ernährung vier Minuten, Mobilität 22 Minuten). Verzögert durchführbar seien der Versuch des Anheben der Arme beidseits, der Nackengriff, der Pinzettengriff und der Kleinfinger-Daumen Kontakt. Der Faustschluss beidseits sei komplett. Der Versuch, beide Beine anzuheben, sei möglich. Aufstehen erfolge teilweise selbstständig, teilweise mit der Pflegeperson. Das Gehen sei innerhalb der Wohnung mit Halten an Wänden und Mobiliar möglich, phasenweise sei eine Begleitung erforderlich, der Rollator werde nur im Notfall benutzt. Hilfestellung sei erforderlich beim täglichen Waschen, wöchentlichen Baden oder Duschen, hier vor allen Dingen im Bereich des Rückens und des Unterkörpers. Bei der Zahnpflege werde die Zahnpasta durch die Pflegeperson aufgetragen. Die Klägerin reinige die Zähne selbstständig. Teilweise sei Hilfestellung bei den Toilettengängen, beim Richten der Kleider, beim Aufstehen und Zubettgehen, beim An- und Entkleiden, beim Transfer in die Dusche oder Badewanne sowie bei der Begleitung zu den Verrichtungen notwendig. Es müssten Nahrung klein geschnitten und Getränke eingeschenkt werden. Die Kompressionsstrümpfe würden nicht immer getragen. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch der Klägerin "vom 20. April 2005" zurück (Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2007). Zur Begründung nahm er auf das Gutachten der Pflegefachkraft B. vom 10. Mai 2006 Bezug.

Die Klägerin erhob am 20. Februar 2007 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Zur Begründung verwies sie auf das der Beklagten vorgelegte Pflegetagebuch. Sie sei hilflos und in fast allen Lebenslagen auf die Unterstützung ihres Ehemanns angewiesen. Wegen der Inkontinenz erfolge ein häufiger Wechsel der Vorlagen und es bestehe ein stark erhöhtes Erfordernis der Körperhygiene. Sie leide an einer Taubheit in Armen und Beinen. Die Aussagekraft des Gutachtens der Pflegefachkraft B. sei unzutreffend und zu relativieren, da diese keine Ärztin sei.

Die Beklagte trat der Klage unter Verweis auf den Widerspruchsbescheid entgegen.

Das SG hörte behandelnde Ärzte als sachverständige Zeugen. Neurologe und Psychiater Dr. B. berichtete in seiner Auskunft vom 31. Juli 2008 von einer deutlichen Geheinschränkung der Klägerin. Sie könne sich kaum noch ohne Rollator bewegen. Die Gehstrecke sei auf etwa 100 m reduziert. Weiter bestehe eine Inkontinenz, eine Störung der Feinmotorik der Hände, eine Artikulationsstörung und eine Sprachstörung. Die Klägerin habe auch von einem starken Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrom berichtet, das zu Konzentrationsstörungen und Müdigkeitsgefühl führe. Der Schweregrad der Erkrankung an Multipler Sklerose sei erheblich, so dass Pflegestufe I erfahrungsgemäß nicht ausreiche. Praktische Ärztin T. gab an (Auskunft vom 11. September 2008), an Funktionseinschränkungen bestehe eine zunehmende Schwäche beider Beine mit einer Gehstrecke von ca. 100 m mit Rollator und innerhalb der Wohnung mit Halten an Möbeln, eine starke Spastik beider Beine, eine Ataxie, Gleichgewichtsstörungen, eine zunehmende Schwäche und Ataxie beider Arme, eine leichte Dysarthrie und Dysphagie, eine Depression, ein Fatigue-Syndrom, eine Vergesslichkeit sowie ein starker Harndrang mit Harninkontinenz. Die Klägerin benötige mehr Hilfe als in dem Gutachten der Pflegefachkraft B. beschrieben. Beigefügt waren Arztbriefe des Prof. G. vom 5. März 2008 und der Dr. N. vom 6. August 2008, beide Neurologisch-Neurochirurgische Poliklinik des Universitätsspital B., die die Erkrankung anhand der Expanded Disability Status Scale (EDSS) aktuell mit 5,5 bewertete.

Das SG erhob von Amts wegen das Gutachten des Arztes für Innere Medizin und Allgemeinmedizin Dr. Gr. vom 17. März 2009 aufgrund einer Untersuchung der Klägerin in ihrer häuslichen Umgebung am 23. Oktober 2008 sowie unter Berücksichtigung von Ärztin T. übersandter Befundberichte des Dr. B. vom 25. September und 20. November 2007 und eines von der Klägerin erstellten Pflegeprotokolls. Er nannte als pflegebegründende Diagnosen eine Multiple Sklerose mit seit 2006 sekundärer Progredienz und einer Gehstrecke von unter 100 m, eine Urininkontinenz, ein nicht vorhandenes Kalt-/Wärmeempfinden, eine gestörte Feinmotorik der Hände, eine Sensibilitätsstörung beider Beine, eine Sprach-, Artikulations- und Schluckstörung, ein Erschöpfungs- und Müdigkeitssyndrom mit Konzentrationsschwäche, eine Spastik beider Beine, eine Ataxie der Beine, eine Armschwäche beidseits sowie Gleichgewichtsstörungen. Den täglichen Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege schätzte er auf 127 Minuten (Körperpflege 90 Minuten, Ernährung sechs Minuten, Mobilität 31 Minuten) seit der Antragstellung am 25. Januar 2005. Pflegeerschwerende Faktoren seien ein Körpergewicht von über 80 kg und die hochgradige Spastik. Die Körperpflege werde täglich morgens in der Badewanne sitzend durchgeführt, indem der Transfer unterstützt werde und Rücken, Beine und Haare gewaschen würden. Bei der Abendtoilette sei eine Teilübernahme erforderlich. Die Zahnpflege erfolge selbstständig, wobei die elektrische Zahnbürste gerichtet und angereicht werde. Die Pflegeperson sei jedoch während des gesamten Vorgangs der Körperpflege im Rahmen der aktivierenden Pflege anwesend. Unterstützung erforderlich sei ebenfalls beim Kämmen, An- und Auskleiden und Transfer auf die Toilette, insbesondere nachts. Wegen der Inkontinenz seien Hilfestellungen beim Wasserlassen, beim Stuhlgang sowie beim Richten der Vorlagen und der Kleidung vor und nach dem Toilettengang erforderlich. Nahrungsmittel müssten wegen der feinmotorischen Störungen mundgerecht zubereitet werden, die Nahrungsaufnahme erfolge noch weitgehend selbstständig. Weiter seien Hilfestellungen erforderlich beim An- und Ausziehen, beim Aufstehen und Zubettgehen sowie einmal wöchentlich zum Aufsuchen entweder des Krankengymnasten oder der Ärzte beim Treppensteigen und Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung.

Die Beklagte anerkannte, Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II ab 1. Oktober 2008 zu gewähren. Sie legte das Gutachten des Arztes Dr. H., MDK, vom 2. Juni 2009 vor, der den täglichen Zeitaufwand für die Verrichtungen der Grundpflege auf 122 Minuten (Körperpflege 82 Minuten, Ernährung sechs Minuten, Mobilität 34 Minuten) seit Oktober 2008 schätzte. Da die Voraussetzungen von Schwerpflegebedürftigkeit zum Zeitpunkt des Hausbesuches des Sachverständigen im Oktober 2008 soeben erreicht gewesen seien, sei nicht nachvollziehbar, dass dies bereits bei Antragstellung im Januar 2005 der Fall gewesen sein soll. Dies gehe auch nicht eindeutig aus den sachverständigen Zeugenauskünften des Dr. B. und der Ärztin T. sowie in dem Arztbrief des Prof. G. vom 5. März 2008 hervor. Es sei davon auszugehen, dass der Hilfebedarf entsprechend der Progredienz der Erkrankung wesentlich zugenommen habe.

Die Klägerin nahm das Teilanerkenntnis der Beklagten an, verfolgte ihr Begehren für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 30. September 2008 aber weiter. Die Progredienz der Erkrankung sei bereits im Jahre 2006 eingetreten.

Das SG hörte Dr. B. erneut als sachverständigen Zeugen. In seiner Auskunft vom 23. Oktober 2009, der er ihm zugegangene Befundberichte der Neurologischen-Neurochirurgischen Poliklinik des Universitätsspital B. aus den Jahren 2001 bis 2009 beifügte, gab er an, die Klägerin habe am 5. Juli 2006 von einer völligen Kraftlosigkeit und einer Gehstrecke ohne Hilfe von maximal 500 m berichtet sowie dass sie sich stark erschöpft und ermüdet fühle. Am 12. Juni 2008 habe die anamnestisch erhobene Gehstrecke 50 m ohne Hilfsmittel betragen mit der Angabe, sie benötige einen Rollator. Die Störung der Feinmotorik der Hände bestehe in Form von reduzierten schnellen Bewegungen mit ungenauer Präzision.

Das SG wies die Klage mit Urteil vom 22. Juli 2010 ab. Da die Beklagte mit dem Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2007 in der Sache entschieden und sich nicht damit begnügt habe, den Widerspruch als unzulässig abzuweisen, sei der Rechtsweg zu den Sozialgerichten wieder eröffnet worden. Der Schlussfolgerung des Sachverständigen Dr. Gr., der Grundpflegebedarf von 127 Minuten täglich habe schon für die Jahre vor seiner Untersuchung am 23. Oktober 2008 vorgelegen, könne nicht gefolgt werden. Die Angaben der sachverständigen Zeugen Dr. B. und Ärztin T. deuteten darauf hin, dass der für die Pflegestufe II erforderliche Grundpflegebedarf von mindestens 120 Minuten täglich erst 2008 erreicht worden sei. Ein Nachweis, dass dieser zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen habe, sei nicht zu führen. Den Befunden könne insgesamt nur entnommen werden, dass die Gehstrecke im Verlauf des Sommers 2008 immer noch wechselhaft gewesen sei und zwischen 50 m ohne Hilfsmittel und ca. 200 bis 300 m ohne Hilfe geschwankt habe. Nachdem der Sachverständige bei seiner Untersuchung am 23. Oktober 2008 wieder von einer Gehstrecke von unter 100 m mit Rollatorhilfe ausgehe, könne zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen werden, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe II grenzwertig vorgelegen hätten. Ein Beweis dafür, dass schon vor Oktober 2008 regelmäßig Transferleistungen in dem vom Sachverständigen festgestellten Umfang erforderlich gewesen seien, lasse sich dagegen nicht erbringen. Den Aussagen des Dr. B. lasse sich entnehmen, dass die sekundäre Progredienz ein schleichender Prozess der Verschlechterung gewesen sei, der erst im Laufe des Jahres 2008 so deutlich ausgeprägt gewesen sei, dass die Voraussetzungen für die Pflegestufe II bei der Begutachtung durch den Sachverständigen erreicht worden seien.

Gegen das ihren früheren Prozessbevollmächtigten, einem Rentenberater, am 14. August 2010 zugestellte Urteil, hat die Klägerin, vertreten durch ihren früheren Prozessbevollmächtigten, am 24. August 2010 Berufung eingelegt. Sie verweist auf das Gutachten des Sachverständigen. Allein auf die Wegefähigkeit komme es bei der Pflegestufe II nicht an.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 22. Juli 2010 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 21. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Februar 2007 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr Pflegegeld nach der Pflegestufe II auch für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 30. September 2008 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat mit Beschluss vom 16. November 2012 den früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin zurückgewiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte, die Akte des SG sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, da der Senat die Berufung der Klägerin einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Der Rechtsstreit weist nach Einschätzung des Senats keine besonderen Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf, die mit den Beteiligten in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müssten. Zu der beabsichtigten Verfahrensweise hat der Senat die Beteiligten angehört.

1. Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und auch statthaft. Die Berufung ist nicht nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen. Denn die Klägerin begehrt höhere Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Im Berufungsverfahren ist noch darüber zu entscheiden, ob die Klägerin für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 30. September 2008 Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II anstatt des von der Beklagten für diesen Zeitraum gezahlten Pflegegeldes nach der Pflegestufe I hat. Gegenstand des Rechtsstreits ist insoweit der Bescheid der Beklagten vom 21. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Februar 2007. Der Bescheid vom 8. April 2005, mit welchem die Beklagte es zunächst abgelehnt hatte, Leistungen der Pflegeversicherung zu zahlen, ist gegenstandslos. Denn der Bescheid vom 21. November 2005 ersetzte diesen Bescheid.

Der Widerspruch der Klägerin vom 20. April 2005 gegen den Bescheid vom 8. April 2005, mit welchem die Beklagte es abgelehnt hatte, Leistungen der Pflegeversicherung zu zahlen, war nicht erledigt. Zwar half die Beklagte diesem Widerspruch insoweit ab, als sie mit dem Bescheid vom 21. November 2005 der Klägerin Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1. Januar 2005 bewilligte und in der Folge dann auch zahlte. Dieser Bescheid wurde nach § 86 SGG Gegenstand des anhängigen Widerspruchsverfahrens. Die Klägerin erklärte zu keinem Zeitpunkt, ihr ursprünglicher Widerspruch vom 20. April 2005 sei erledigt, was schon daran zum Ausdruck kommt, dass sie auch nach Erlass des Bescheids vom 21. November 2005 ihren Anspruch auf Pflegegeld nach der Pflegestufe II weiter verfolgte. Daraus folgt dann, dass der Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2007 auch den von der Klägerin zusätzlich noch erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid vom 21. November 2005 umfasst. Die deswegen erhobene Untätigkeitsklage war überflüssig und verursachte nur unnötige Kosten.

3. Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 21. November 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Februar 2007 ist rechtmäßig, soweit er die Zahlung von Pflegegeld nach der Pflegestufe II für die Zeit vom 1. Juni 2006 bis 30. September 2008 abgelehnt.

Pflegebedürftige können nach § 37 Abs. 1 Satz 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) anstelle der Pflegesachleistungen ein Pflegegeld erhalten. Pflegebedürftig sind nach § 14 Abs. 1 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die im Einzelnen in § 14 Abs. 4 SGB XI genannt sind, auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate in erheblichem oder höherem Maß (§ 15 SGB XI) der Hilfe bedürfen. Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI). Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (§ 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI) und der Mobilität (§ 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Zur Grundpflege zählt ein Hilfebedarf im Bereich der Körperpflege beim Waschen, Duschen, Baden, der Zahnpflege, dem Kämmen, Rasieren, der Darm- und Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung beim mundgerechten Zubereiten der Nahrung und der Aufnahme der Nahrung sowie im Bereich der Mobilität beim selbstständigen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, dem An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen und dem Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung. Das Ausmaß des Pflegebedarfs ist nach einem objektiven ("abstrakten") Maßstab zu beurteilen. Maßgebend für den zeitlichen Aufwand ist grundsätzlich die tatsächlich bestehende Pflegesituation unter Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des zu Pflegenden, allerdings am Maßstab des allgemein Üblichen. § 14 SGB XI stellt allein auf den "Bedarf" an Pflege und nicht auf die im Einzelfall unterschiedliche Art der Deckung dieses Bedarfs oder die tatsächlich erbrachte Pflege ab (vgl. BSG, Urteil 21. Februar 2002 - B 3 P 12/01 R - SozR 3-3300 § 14 Nr. 19). Bei der Bestimmung des erforderlichen Zeitbedarfs für die Grundpflege sind als Orientierungswerte die Zeitkorridore der Richtlinie der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI (Begutachtungs-Richtlinie) zu berücksichtigen. Diese Zeitwerte sind zwar keine verbindlichen Vorgaben; es handelt sich jedoch um Zeitkorridore mit Leitfunktion (Abschnitt F Nr. 1 Begutachtungs-Richtlinie; vgl. dazu BSG, Urteil vom 22. Juli 2004 - B 3 P 6/03 R - SozR 4-3300 § 23 Nr. 3 m.w.N.). Dabei beruhen die Zeitkorridore auf der vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft. Die Zeiten für den Hilfebedarf bei den einzelnen Verrichtungen beruhen regelmäßig auf Schätzungen, denen eine gewisse und auf wenige Minuten beschränkte Unschärfe nicht abgesprochen werden kann und die dennoch hinzunehmen sind (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2010 - B 3 P 10/08 R - SozR 4-3300 § 15 Nr. 4).

Der Senat vermag nicht festzustellen, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe II bereits vor dem 1. Oktober 2008 vorlagen. Aufgrund des sich aus den vorliegenden Arztbriefen ergebenden Verlaufs der Erkrankung ist es plausibel, dass auch der tägliche Hilfebedarf der Klägerin bei den Verrichtungen der Grundpflege über die Jahre kontinuierlich anstieg. Er erreichte im Oktober 2008 knapp den für die Pflegestufe II erforderlichen Mindestwert von 120 Minuten.

Die Klägerin leidet an multipler Sklerose. Aufgrund dieser Erkrankung bestanden zunächst noch keine Fähigkeitsstörungen, die einen zeitlichen Hilfebedarf der Pflegestufe II bedingten. Der Senat stützt sich insoweit auf die Gutachten der Pflegefachkräfte Sp. vom 16. November 2005 und B. vom 10. Mai 2006. Aufgrund der mitgeteilten Befunde ist die jeweilige Schätzung des zeitlichen Hilfebedarfs von 49 Minuten und 55 Minuten täglich für den Senat plausibel. Diesen Gutachten entnimmt der Senat, dass zwar die Feinmotorik und Koordination der Hände eingeschränkt war, die Klägerin aber noch den Nacken- und Schürzengriff endgradig eingeschränkt bzw. den Nackengriff verzögert durchführen konnte. Ebenso war ihr auch das Gehen innerhalb der Wohnung mit Abstützen an Wänden und Möbeln möglich. Die in diesen Gutachten erhobenen Befunde lassen sich in Übereinstimmung mit den im Arztbrief des Prof. G. vom 23. August 2005 genannten Befunden bringen. Prof. G. ging in diesem Arztbrief von einem klinisch stabilen Verlauf der Erkrankung aus. Die Klägerin berichtete von einer Hypästhesie an den Fingerkuppen der Finger II bis V. Wesentliche Paresen gab sie nicht an und Prof. G. beschrieb solche auch nicht. Die Gehstrecke mit Einschränkungen bezifferte die Klägerin noch auf 1000 bis 2000 m ohne Hilfsmittel. In der Folge berichtete die Klägerin vorrangig von einer weiteren Verschlechterung der Gehfähigkeit. Im Arztbrief vom 17. August 2006 nahm Prof. G. eine leichte Verschlechterung, insbesondere der Gehfähigkeit an, ansonsten aber einen stabilen Verlauf. Die Klägerin berichtete nur hierüber und gab an, die Störung der Feinmotorik der Hände sei gleich geblieben. Im Arztbrief vom 20. August 2007 berichtet Prof. G. nur von einer Reduzierung der Gehstrecke sowie anlässlich der Untersuchung am 16. Juli 2008 auch von Parästhesien im Bereich der rechten Hand mit teilweise verminderter Geschicklichkeit der rechten oberen Extremität. In dem über die Untersuchung vom 6. August 2008 verfassten Arztbrief vom selben Tag führte Dr. N. aus, es sei seit der letzten Vorstellung am 20. Februar 2008 nicht eindeutig zu einer Progredienz der ataktischen Paraparese mit schwerer Fatigue gekommen. Auch nach dem Befundbericht des Dr. B. vom 25. September 2008 berichtete die Klägerin von schleichend progredienten Symptomen und einer allgemeinen körperlichen Schwäche.

Bestätigt wird der Verlauf der Erkrankung auch durch die Bewertung nach der EDSS in den verschiedenen Arztbriefen des Prof. G ... Die EDSS ist eine Leistungsskala, die Auskunft über den Schwerpunkt der Behinderung bei Patienten mit Multipler Sklerose gibt. Sie beginnt bei Grad 0,0 und endet bei Grad 10,0 (http://de.wikipedia.org/wiki/Expanded Disability Status Scale). Die Bewertung anhand dieser Skala stieg von 4,0 im Jahre 2005 kontinuierlich um 0,5 pro Jahr auf 6,0 im Jahre 2009 an, Untersuchung am 19. Juli 2005 Grad 4,0 (gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 500 m; aktiv während ca. zwölf Stunden pro Tag trotz relativ schwerer Behinderung), Untersuchung vom 2. August 2006 Grad 4,5 (gehfähig ohne Hilfe und Rast für mindestens 300 m; ganztägig arbeitsfähig; gewisse Einschränkung der Aktivität, benötigt minimale Hilfe, relativ schwere Behinderung), Untersuchung am 15. August 2007 Grad 5,0 (gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 200 m; Behinderung schwer genug um tägliche Aktivität zu beeinträchtigen [z.B. ganztägig zu Arbeiten ohne besondere Vorkehrungen]), Untersuchung am 20. Februar 2008 Grad 5,5 (gehfähig ohne Hilfe und Rast für etwa 100 m; Behinderung schwer genug um normale tägliche Aktivität zu verunmöglichen), Untersuchung am 6. Juli 2009 Grad 6,0 (Bedarf intermittierend, oder auf einer Seite konstant, der Unterstützung [Krücke, Stock, Schienen] um etwa 100 m ohne Rast zu gehen).

Ein weiteres Indiz, dass die Funktionseinschränkungen erst im Oktober 2008 sich so verschlechtert hatten, dass der für die Pflegestufe II erforderliche Zeitaufwand von mindestens 120 Minuten erreicht oder überschritten war, ist die von der Klägerin jeweils angegebene Gehstrecke. Der Vortrag der Klägerin in der Berufungsbegründung, für die Frage, wann die Voraussetzungen der Pflegestufe II vorlägen, könne nicht (allein) auf die von der Klägerin zurückzulegende Strecke abgestellt werden, ist zwar zutreffend. Allerdings stellen alle Befundberichte die Gehstrecke und deren Verringerung im Laufe der Zeit in den Vordergrund, auch weil die Klägerin jeweils entsprechende Angaben zu ihrer Gehstrecke machte.

Aufgrund des zuvor dargestellten Verlaufs der Erkrankung überzeugt den Senat die Auffassung des Sachverständigen Dr. Gr., der Zeitaufwand für die Grundpflege von 127 Minuten habe schon zum Zeitpunkt der Antragstellung bestanden, nicht.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved