L 32 AS 145/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 147 AS 30694/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 145/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Dezember 2012 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die mit dem angefochtenen Beschluss zuerkannten Leistungen vom 29.November 2012 bis zu einer Entscheidung im Klageverfahren, längstens bis zum 30.April 2013 zu gewähren und auszuzahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt 1/3 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Im Streit ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), die das Sozialgericht (SG) im Wege einstweiliger Anordnung zuerkannt hat.

Nach vorangegangenem Leistungsbezug bis 31. Oktober 2012 lehnte der Antragsgegner den Antrag des Antragstellers auf weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II mit Bescheid vom 01. Oktober 2012 mit der Begründung ab, dass er gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II nicht anspruchsberechtigt sei. Der dagegen eingelegte Widerspruch des Antragstellers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 2013 zurückgewiesen. Dagegen hat der Antragsteller Klage bei dem Sozialgericht (SG) Berlin erhoben am 22. Januar 2013.

Am 29. November 2012 ging der Antrag des Antragstellers beim SG Berlin ein mit dem Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm, dem Antragsteller, entsprechend seinem Weiterbewilligungsantrag vom 25. September 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom 01. November 2012 bis 30. April 2012 zu bewilligen und zu überweisen.

Kontoauszüge vom 14. März 2012 bis 12. April 2012 und vom 31. August 2012 bis 15. November 2012 gelangten zur Akte.

Der Antragsgegner hat erstinstanzlich beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Es fehle ein Anordnungsgrund, soweit Leistungen für die Zeit vor Antragstellung begehrt würden. Ein Anordnungsanspruch sei nicht gegeben. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II seien Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, von den Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Vorliegend ergebe sich das Aufenthaltsrecht des Antragstellers nunmehr allein aus dem Zweck der Arbeitssuche. Denn gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 Freizüg/EU bleibe das Recht aus § 2 Abs.1 des Gesetzes bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung nur während der Dauer von 6 Monaten unberührt. Bereits seien 6 Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vergangen.

Das SG hat mit Beschluss vom 21. Dezember 2012 den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 29. November 2012 bis zum 30. April 2013 längstens bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung über den Widerspruch bzw. einer Entscheidung in einem etwaigen Klageverfahren vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II in Höhe von monatlich 317,90 Euro bis zum 31. Dezember 2012, in Höhe von 324,70 Euro ab dem 01. Januar 2013 zu gewähren und auszuzahlen, wobei bei der zu erbringenden Leistung nur eine Regelleistung in Höhe von 85 Prozent des Regelsatzes zu berücksichtigen ist. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt.

Das SG erachtete den Anordnungsanspruch für begründet gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Zwar falle der Antragsteller unter den Leistungsausschluss nach Satz 2 Nr. 2 der Vorschrift. Jedoch sei in der Rechtsprechung umstritten, ob der Leistungsausschluss mit dem Europarecht vereinbar sei. Es schloss sich der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 23. Mai 2012 – L 25 AS 837/12 B ER) an. Nach Lage der Akten benötige der Antragsteller die zuerkannten Leistungen zur Bestreitung seines Lebensunterhalts, so dass auch ein Anordnungsgrund bestehe.

Gegen den dem Antragsgegner am 03. Januar 2013 zugestellten Beschluss richtet sich die am 18. Januar 2013 beim LSG eingegangene Beschwerde des Antragsgegners. Insbesondere wurde die Auffassung des Antragsgegners von der Wirksamkeit des Leistungsausschlusses gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II begründet.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss vom 21. Dezember 2012 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er könne die Beschwerde als Laie überhaupt nicht bewerten, stelle sich jedoch die Frage, auf welcher gesetzlichen Grundlage der Bewilligungsbescheid vom 05. Juni 2012 für den Zeitraum vom 01. Mai 2012 bis 31. Oktober 2012 erstellt worden ist, und meint, dass er schon längst nicht mehr auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II angewiesen wäre, wenn der Antragsgegner entsprechend seinem Aufgabenbereich als Teil der Agentur für Arbeit bei seiner Jobsuche behilflich gewesen wäre.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der vorliegenden Gerichtsakten und Verwaltungsakten des Antragsgegners.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Das Gericht kann nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) stets die Glaubhaftmachung des Vorliegens des Anordnungsgrundes (die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch eines Anordnungsanspruchs (die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden.

Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind, dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage § 86 b Rdnr. 16 b).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe ist die sozialgerichtliche Entscheidung im Wesentlichen nicht zu beanstanden.

Der Anordnungsgrund ist hier für die Zeit ab Antragseingang (29. November 2013) zu bejahen. Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, auf Leistungen nach dem SGB II zur Existenzsicherung angewiesen zu sein. Er verfügt nach seinen glaubhaften Angaben über keine Einnahmen und über kein Vermögen. Ihm steht auch grundsätzlich ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zu. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II sind erfüllt. Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungen Personen, die

1.das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7 a SGB II noch nicht erreicht haben oder 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind, 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Der Antragsteller ist hilfebedürftig, da glaubhaft ist, dass er seinen Lebensunterhalt aus Einkommen oder Vermögen nicht bestreiten kann. Er hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Antragsteller ist seit16.Juli 2011 in Berlin gemeldet und hat seine Wohnung bei seiner Mutter mit der Absicht, in der Bundesrepublik zu bleiben. Dies ist glaubhaft, da er Anstrengungen unternimmt, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Der 1985 geborene Antragsteller ist auch erwerbsfähig, was sich aus seinen Angaben und daraus ergibt, dass er entsprechend dem vorgelegten Arbeitsvertrag befristet im Winterdienst vom 01. November 2011 bis 31. März 2012 gearbeitet hatte.

Die Frage, ob der Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist, kann im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend beurteilt werden. Nach dieser Vorschrift sind ausgenommen

1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer, Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes – EU freizügigkeitsberechtigt sind und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Allerdings dürfte sich entsprechend den Ausführungen des SG das Aufenthaltsrecht des Antragstellers allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergeben, so dass der Anspruch ausgeschlossen sein könnte. Jedoch ist in der Rechtsprechung umstritten, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II europarechtskonform ist.Die Schwierigkeit und Komplexität der Fragestellungen hierzu erfordern, dass die Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibt. Daher war im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen sind. Das gilt besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundsätzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – abgedruckt in juris). Insoweit stellt Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen könnten, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären (BVerfG a.a.O., juris Rdnr. 24).

Die danach vorzunehmende Folgenabwägung führt hier dazu, dass das fiskalische Interesse des Antragsgegners hinter dem Interesse des Antragstellers auf Existenzsicherung zurückzutreten hat.

Auch die Höhe der monatlichen Leistung ist auf die vom Antragsgegner eingelegte Beschwerde nicht zu beanstanden.

Allerdings ist die Dauer der Anordnung zu beschränken bis zum 30. April 2012.

Denn der Streitgegenstand eines Eilverfahrens in Vornahmesachen – wie vorliegend – bezieht sich auf das zu sichernde Recht, also die Sicherung des Hauptanspruchs und kann deshalb auch nicht über diesen in einer Klage geltend zu machenden Anspruch hinausgehen. Der Anspruch ist im Antrag vom Antragsteller selbst bis 30. April 2013 begrenzt worden entsprechend § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II, wonach die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für 6 Monate bewilligt werden sollen.

Das SG ist insoweit über den Antrag hinausgegangen. Insoweit ist die Beschwerde erfolgreich.

Die erstinstanzliche Kostenentscheidung bedurfte keiner Änderung. Der Antragsteller erhält antragsgemäß Leistungen. Das SG ist ohne seine Veranlassung über dessen Antrag hinaus gegangen.

Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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