L 9 KR 333/12 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KR 173/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 333/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur festbetragsfreien Versorgung mit einem nicht zum Festbetrag verfügbaren Antidepressivum (Trevilor retard).
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 26. Juli 2012 wird zurückgewiesen. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

A. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 26. Juli 2012 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn im Wege einstweiliger Anordnung mit dem Arzneimittel Trevilor retard 150 mg festbetragsfrei zu versorgen, rechtsfehlerfrei abgelehnt. Denn der Antragsteller hat für sein Begehren weder einen Anordnungsgrund noch einen Anordnungsanspruch i.S.d. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

1.) Die besondere Dringlichkeit und damit ein Anordnungsgrund für die begehrte festbetragsfreie Versorgung mit dem streitbefangenen Arzneimittel scheidet schon deshalb aus, weil der Antragsteller das Arzneimittel in der benötigten Dosis nach den Feststellungen des Sozialgerichts im Rahmen der ambulanten Versorgung im Zentrum für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Klinikums Ernst-von-Bergmann gGmbH kostenfrei erhält. Der gegen diese Feststellungen in der Beschwerde erhobene Einwand, dass eine kostenfreie Versorgung des Antragstellers nicht ansatzweise nachvollziehbar sei, weil mit der Abgabe des Arzneimittels selbstverständlich fortlaufend Kosten verbunden seien, die das Klinikum auch in Rechnung stellen werde, entkräftet die Feststellungen des Sozialgerichts nicht. Denn es kommt nicht darauf an, dass die Beschaffung und die Abgabe des Arzneimittels Kosten verursacht und diese "in Rechnung gestellt werden", sondern dass der Antragsteller gegenwärtig von dem abgebenden Krankenhaus mit Kosten belastet wird, die er nicht tragen kann. Dafür gibt es nicht nur keine Anhaltspunkte, sondern dies hat der Antragsteller nicht einmal selbst substantiiert behauptet.

2.) a) Ein Anordnungsanspruch scheitert nach den dem Senat vorliegenden Verwaltungs- und Gerichtsakten schon daran, dass der Antragsteller das Vorliegen einer vertragsärztlichen Verordnung zur Beschaffung von Trevilor retard 150 mg mit Wirkung für die Zeit ab dem Beschluss des Senats nicht glaubhaft gemacht hat.

Nach § 15 Abs. 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) wird die ärztliche Behandlung grundsätzlich von Ärzten erbracht. Sind Hilfeleistungen anderer Personen erforderlich, dürfen sie grundsätzlich nur erbracht werden, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm verantwortet werden. Die Erforderlichkeit ärztlicher Verordnungen für die Versorgung mit Arzneimitteln ist durch § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGB V noch einmal ausdrücklich bestimmt worden. Erst durch die vertragsärztliche Verordnung wird das dem Versicherten durch § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V gewährte Rahmenrecht auf Versorgung mit Arzneimitteln zu einem Anspruch auf das vom Vertragsarzt bestimmte Medikament konkretisiert. Daraus folgt, dass dem Versicherten ohne vertragsärztliche Verordnung (noch) kein Anspruch auf das begehrte Medikament zusteht (st. Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Urteil vom 19. Dezember 2007, L 9 KR 150/03, zitiert nach juris). Diese Verordnung muss sich in einem Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes außerdem auf die Zukunft, d.h. die Zeit ab der Beschlussfassung des Gerichts beziehen, weil einstweilige Anordnungen nur für diesen Zeitraum Leistungen zusprechen dürfen (ebenfalls ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschluss vom 03. Dezember 2012, L 9 KR 294/12 B ER, m.w.N.). Im vorliegenden Fall hätte die Verordnung daher für den Zeitraum ab dem 21. Januar 2013 ausgestellt sein und dem Antragsteller vor allem die Beschaffung des streitbefangenen Arzneimittels in einer Apotheke ermöglichen müssen. Dies setzt die Verwendung des dafür vorgesehenen Formulars voraus. Deshalb reicht die ärztliche Anordnung vom 15. Juni 2012 (Bl. 41 Gerichtsakten) nicht aus, die nur einen Einnahmeplan enthält und nicht zur Beschaffung des Arzneimittels in einer Apotheke bestimmt ist.

b) Das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs scheitert aber auch aus anderen Gründen. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass der Antragsteller durch die Nutzung eines anderen Arzneimittels nicht festbetragsfrei und gleich wirksam behandelt werden kann, das den arzneilich wirksamen Inhaltsstoff Venlafaxin in derselben Dosis wie das verwendete Arzneimittel enthält.

aa) Versicherte erhalten grundsätzlich die krankheitsbedingt notwendigen, nicht der Eigenverantwortung (§ 2 Abs. 1 S 1 SGB V) zugeordneten Arzneimittel (§ 27 Abs. 1 S 2 Nr. 3 SGB V) aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgrund vertragsärztlicher Verordnung. Ist für ein Arzneimittel wirksam ein Festbetrag festgesetzt, trägt die Krankenkasse grundsätzlich - abgesehen von der Zuzahlung (§ 31 Abs. 3 SGB V i.d.F. GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) vom 14.11.2003, BGBl I 2190) - die Kosten bis zur Höhe dieses Betrags. Für andere Arznei- oder Verbandmittel trägt die Krankenkasse dagegen regelmäßig die vollen Kosten abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung (§ 31 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB V. Ist für eine Leistung - wie hier für Trevilor retard 150 mg - (wirksam) ein Festbetrag festgesetzt, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten regelmäßig mit dem Festbetrag (§ 12 Abs. 2 SGB V). bb) Die Festbetragsregelung ist Ausdruck des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 Abs. 1 SGB V). Arzneimittel, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen oder unwirtschaftlich sind, weil sie gegenüber gleich geeigneten, ausreichenden und erforderlichen Mitteln teurer sind, sind aus dem Leistungskatalog der GKV grundsätzlich ausgeschlossen. Die Reichweite des Wirtschaftlichkeitsgebots begrenzt zugleich die Wirkkraft der Festbetragsfestsetzung für Arzneimittel. Die Versicherten haben unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots Anspruch auf eine in der Qualität gesicherte Vollversorgung durch Sachleistungen und müssen sich nicht mit einer Teilkostenerstattung zufrieden geben. Hingegen entspricht es dem Wirtschaftlichkeitsgebot, bei gleicher Eignung im individuellen Fall den Anspruch auf ein anderes, nicht unter die Festbetragsregelung fallendes, preisgünstigeres Arzneimittel zu beschränken.

cc) Die gesetzlich vorgegebenen Kriterien der Festbetragsfestsetzung sind nicht an den individuellen Verhältnissen des einzelnen Patienten ausgerichtet, sondern orientieren sich in generalisierender Weise an allen Versicherten. Dementsprechend sind die Festbeträge so festzusetzen, dass sie lediglich "im Allgemeinen" eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten (§ 35 Abs 5 S 1 SGB V). Geht es dagegen um einen atypischen Ausnahmefall, in dem - trotz Gewährleistung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung durch die Festbetragsfestsetzung im Allgemeinen - aufgrund der ungewöhnlichen Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, greift die Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag nicht ein. Aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse ist keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag mehr möglich, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit (§ 27 Abs 1 S 1 SGB V) erreichen. Nach allgemeinen Grundsätzen tragen die Versicherten hierfür die objektive Beweislast.

dd) Der Anspruch eines Versicherten auf eigenanteilsfreie Versorgung mit einem nur oberhalb des Festbetrags erhältlichen Festbetragsarzneimittel hängt deshalb davon ab, dass bei ihm zumindest objektiv nachweisbar - eine zusätzliche behandlungsbedürftige Krankheit oder eine behandlungsbedürftige Ver- schlimmerung einer bereits vorliegenden Krankheit nach indikationsgerechter Nutzung aller anwendbaren, preislich den Festbetrag unterschreitenden Arzneimittel eintritt, - dass die zusätzliche Erkrankung/Krankheitsverschlimmerung zumindest mit überwiegender Wahrscheinlichkeit jeweils wesentlich durch die Anwendung der den Festbetrag im Preis unterschreitenden Arzneimittel bedingt ist - und dass die Anwendung des nicht zum Festbetrag verfügbaren Festbetragsarzneimittels ohne Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit bleibt und in diesem Sinne alternativlos ist (BSG, Urteil vom 03. Juli 2012, B 1 KR 22/11 R m.w.N., zitiert nach juris).

ee) Das Vorliegen dieser Voraussetzungen lässt sich hier nicht feststellen. Dass die Einnahme von Trevilor retard 150 mg für den Antragsteller alternativlos ist, kann er nicht durch die nebenwirkungsfreie Einnahme von Trevilor retard einerseits und die Nebenwirkungen auslösende Einnahme nur eines einzigen, Venlafaxin enthaltenen Generikums andererseits glaubhaft machen. Denn die Antragsgegnerin hat mit ihrem Schriftsatz vom 14. September 2012 eine Liste von vier (weiteren) Arzneimitteln vorgelegt, die dieselbe Dosis des arzneilich wirksamen Bestandteils Venlafaxin (169,72 mg Venlafaxin hydrochlorid) enthält wie Trevilor retard 150 mg und festbetragsfrei zu erhalten sind. Dem Antragsteller ist es im Sinne der zitierten Rechtsprechung des 1. Senats des BSG jedenfalls zuzumuten, zumindest einen Teil der von der Antragsgegnerin bezeichneten, preiswerteren Generika auszuprobieren, bevor er von ihr die volle Übernahme der Kosten eines nicht zum Festbetrag verfügbaren Arzneimittels verlangt. Ihn trifft nämlich die materielle Beweislast für die Alternativlosigkeit der Anwendung von Trevilor retard 150 mg. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass Nebenwirkungen im Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Krankheit eintreten werden, sind nicht erkennbar. Vielmehr spricht die Tatsache, dass der einzige arzneilich wirksame Bestandteil von Trevilor retard und den von der Beklagten benannten Generika hinsichtlich Art und Dosis identisch ist, prima facie für die Möglichkeit einer Umstellung auf ein Generikum. Dass die Umstellung selbst für den Antragsteller nicht unzumutbar ist, folgt schließlich daraus, dass die jetzt von ihm verwendete Medikation auch auf einem – positiv verlaufenen – Behandlungsversuch beruht, wie sein Vorbringen und die von ihm vorgelegten ärztlichen Berichte seiner behandelnden Ärzte belegen.

B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG

C. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war abzulehnen, weil die Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten bot (§ 73a SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung).

D. Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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