L 4 KR 410/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 KR 3874/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 410/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 29. Oktober 2010 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen die Verurteilung, den Kläger vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 und ab 1. Januar 1993 in die Familienversicherung "aufzunehmen".

Der am 1960 geborene Kläger ist der Sohn des am 1960 verstorbenen H. W. (im Folgenden: W.) und der am. 2009 verstorbenen E. S. (im Folgenden: S.).

Beim Kläger liegt eine geistige Behinderung im Sinne einer leichten Intelligenzminderung vor, sowie anamnestisch Epilepsie, seit Jahren ohne Behandlung anfallsfrei und ohne Hinweise auf eine erhöhte Anfallsbereitschaft im EEG. Er erlitt im Alter von sechs Monaten eine Mittelohrentzündung und einen atypischen Krampfanfall. Ein Jahr später traten generalisierte Anfälle serienweise auf. Im Mai 1962 war er bereits geistig retardiert und unter Medikation anfallsfrei. Am 14. Juni 1965 bestand bei einem Lebensalter von 5,3 Jahren ein Intelligenzalter von 3,7 Jahren (Befundbericht der Diplompsychologin Dr. D. vom Landesverband der Inneren Mission in Württemberg vom 14. Juni 1965).

Der Kläger war zunächst in verschiedenen Pflegestellen untergebracht, ab Oktober 1962 im Kinderheim. Seit 1. März 1978 lebt er in Familienpflege. Bis 31. Mai 2004 gewährte der damalige Landeswohlfahrtsverband Baden (im Folgenden: L. B.) Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, nach Umzug des Klägers ab 1. Juli 2004 der damalige Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern (beide heute Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg - KVJS -) und ab 1. Januar 2005 der beigeladene Landkreis.

Am 6. März 2006 bestellte das Notariat Schwäbisch Gmünd für den Kläger eine Betreuerin.

Der Kläger war vom 19. April bis zum 23. Oktober 1960 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich Beklagte) über den W. familienversichert, anschließend aufgrund des Bezuges von Waisenrente nach dem W. in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) krankenversichert bis zum 28. Februar 1985. Vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 war er freiwilliges Mitglied bei der Beklagten. Vom 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1992 war er bei der Landwirtschaftlichen Krankenkasse Baden-Württemberg (im Folgenden: LKK) wegen der Unterbringung als behindertes Pflegekind bei einem Landwirt familienversichert und vom 1. Januar 1993 bis 11. Januar 2006 sowie ab dem 12. Januar 2006 dort freiwillig versichert. S. war bei der Beklagten vom 1. Oktober 1973 bis 16. September 2009 versichert, bis 31. Oktober 1987 aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), ab 1. August 1987 nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V aufgrund Rentenbezuges. Unter dem 5. Dezember 1990 teilte die Beklagte dem L. B. als damals zuständigem Sozialhilfeträger mit, dass keine Familienversicherung des Klägers aufgrund der Mitgliedschaft der S. bestehe. Die Voraussetzung des gleichzeitigen Bestehens einer Familienversicherung und der Behinderung lägen nicht vor, weil die Familienversicherung nach W. am 23. Oktober 1960 geendet habe, die Behinderung des Klägers erst 1961 aufgetreten sei.

Mit Schreiben vom 10. Januar und 9. Mai 2006 beantragte der Beigeladene bei der Beklagten die Aufnahme des Klägers in die Familienversicherung der S ... Unter dem 17. Mai 2006 teilte die Beklagte dem Beigeladenen mit, dass für den Kläger eine Familienversicherung bei S. seit dem 12. Januar 2006 bestehe. Mit Schreiben vom 30. Mai 2006 beantragte der Beigeladene die rückwirkende Aufnahme des Klägers ab 21. Februar 1987, ausgehend von einem von ihm angenommenen Wegfall der Halbwaisenrente und Entfallen der Pflichtversicherung nach der KVdR mit Vollendung des 27. Lebensjahres. Der Kläger sei seit Geburt geistig behindert, mithin auch schon während der Familienversicherung im Jahr 1960, wofür seine Entwicklung und die Ausprägung der Behinderung sprächen.

Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. stellte gegenüber der Beklagten zunächst undatiert - die Diagnosen geistige Behinderung mittelschweren Grades (F 71.1-G) und epileptisches Anfallsleiden (G 40.9-G) und bescheinigte, der Kläger sei seit dem 21. Februar 1960 behindert und wegen der Behinderung nicht in der Lage, sich selbst zu unterhalten. Auf Nachfrage führte er unter dem 7. Februar 2007 aus, artdiagnostisch sei von einer frühkindlichen Hirnschädigung auszugehen, die vor Erreichen des 1. Lebensjahres manifest geworden sei. Der genaue Zeitpunkt sei nicht mit letzter Sicherheit zu ermitteln. Die Hirnschädigung könne im Zusammenhang mit der berichteten Mittelohrentzündung, eventuell einer fortgeleiteten Hirnhautentzündung, oder einer bereits intraperi- oder postnatal aufgetretenen Ursache stehen. Mit dem Beigeladenen und der S. bekanntgegebenem Bescheid vom 5. März 2007 "stornierte" die Beklagte die Familienversicherung des Klägers unter Berufung auf das Attest des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 7. Februar 2007 rückwirkend ab 12. Januar 2006. Der Kläger erhob über seine Betreuerin Widerspruch und beantragte die Aufnahme in die freiwillige Versicherung ab 12. Januar 2006. Der Beigeladene erhob ebenfalls Widerspruch. Nach allgemeiner fachlicher Erfahrung seien die Gründe für eine sich früh manifestierende geistige Entwicklungsretardierung oft genetische Faktoren bzw. eine pränatale Differenzierungsstörung des Gehirns. Insoweit sei sehr wahrscheinlich, dass schon zum Zeitpunkt der Geburt bzw. innerhalb des ersten Lebensjahres eine Beeinträchtigung der Entwicklung, mithin eine Behinderung vorgelegen habe.

Internist Dr. Br. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) kam in seinem sozialmedizinischen Gutachten nach Aktenlage vom 6. September 2007 zu dem Ergebnis, eine Behinderung habe ab August 1961 vorgelegen, als wiederholt generalisierte Krampfanfälle aufgetreten seien, die zum Bild einer geistigen Retardierung im Mai 1962 geführt hätten. Zum fraglichen Zeitpunkt 19. April bis 23. Oktober 1960, im Alter von zwei bis acht Monaten, habe beim Kläger aus der dokumentierten Mittelohrentzündung und dem einmaligen Krampfanfall keine Abweichung von der körperlichen und geistigen Funktion oder der seelischen Gesundheit von dem für das Lebensalter typischen Zustand für mehr als sechs Monate bestanden.

Der Beigeladene holte Stellungnahmen des Prof. Dr. H., Medizinisch-pädagogischer Fachdienst des KJVS, ein. Dieser folgerte in seiner (der Beklagten im Widerspruchsverfahren nicht übersandten) Stellungnahme vom 11. Juni 2007 aufgrund des Berichts der Dr. D. vom 14. Juni 1965, dass ein epileptisches Anfallsleiden sich im Alter von etwa anderthalb Jahren manifestiert habe, man den Daten jedoch nicht entnehmen könne, wann sich eine Entwicklungsretardierung erstmals gezeigt habe. Gründe für sich früh manifestierende geistige Entwicklungsretardierungen seien genetische Faktoren bzw. eine pränatale Differenzierungsstörung des Gehirns. Insoweit sei sehr wahrscheinlich, dass zum Zeitpunkt der Geburt bzw. innerhalb des ersten Lebensjahres eine Behinderung vorgelegen habe, dies lasse sich aus den vorhandenen Daten aber nicht belegen. Ergänzend teilte Prof. Dr. H. unter dem 29. Oktober 2007 auf den Hinweis bezüglich des Anfallsleidens des Großvaters des Klägers und des Bruders der S. mit, es lägen Hinweise vor, dass die Erkrankung familiär bzw. genetisch bedingt sei; somit sei mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die krank machenden Faktoren bereits bei der Geburt bzw. schon vor der Geburt vorgelegen hätten.

Mit Widerspruchsbescheiden vom 27. September 2007 wies der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuss die Widersprüche des Klägers und des Beigeladenen zurück. Nach § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V seien Kinder ohne Altersbegrenzung familienversichert, wenn sie als behinderte Menschen außerstande seien sich selbst zu unterhalten, wenn die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorgelegen habe, als das Kind nach § 10 Abs. 2 Nr. 1, 2 oder 3 SGB V versichert gewesen sei. Bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres sei der Kläger nur vom 19. April bis 23. Oktober 1960 familienversichert gewesen. Nach Stellungnahme des MDK habe die Behinderung erst ab August 1961 vorgelegen, mithin nicht zu einem Zeitpunkt, in dem eine Familienversicherung bestanden habe. Weshalb die LKK die Voraussetzungen für eine Familienversicherung vom 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1992 bejaht und diese durchgeführt habe, sei nicht nachvollziehbar, da die Akten hierzu bereits vernichtet worden seien. Sie (die Beklagte) habe die Familienversicherung aber bereits mit Bescheid vom 5. Dezember 1990 abgelehnt, weil die Behinderung erst 1961 aufgetreten sei.

Der Kläger erhob am 25. Oktober 2007 über seine Betreuerin Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG). Der Beigeladene erhob ebenfalls Klage (S 1 KR 3939/07), nahm diese aber am 5. Dezember 2007 zurück. Da ausweislich des Behandlungsberichts der Diplom-Psychologin Dr. D. vom 14. Juni 1965 sowohl der Großvater mütterlicherseits als auch der Bruder der S. ebenfalls anfallskrank gewesen seien, verdichte sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Behinderung bereits zum Zeitpunkt der Geburt bzw. innerhalb des ersten Lebensjahres vorgelegen habe, zur Gewissheit, da wohl eine erblich bedingte Erkrankung vorliege. Ferner lägen die Voraussetzungen für eine Rücknahme (auch) für die Vergangenheit nicht vor. Daher sei die Beklagte zu verpflichten, zumindest ab 12. Januar 2006 die Familienversicherung durchzuführen.

Die Beklagte trat der Klage entgegen und bezeichnete die vorgebrachten Begründungen für einen Eintritt der Behinderung im Jahr 1960 als reine Spekulation. Auch das Vorhandensein anfallskranker Personen in der Familie lasse keine Rückschlüsse auf den Zeitpunkt des Eintritts der Behinderung zu. Es gebe keine Zwangsläufigkeit der Weitergabe solcher Faktoren. Der erste Fieberkrampf im Alter von sechs Monaten werde von Dr. D. ausdrücklich als nicht typisches Anfallsgeschehen bezeichnet. Das (von der Beklagten vorgelegte) sozialmedizinische Gutachten des Dr. Br., MDK, vom 10. Juni 2009 führte aus, maßgeblich für den Begriff der Behinderung sei die signifikante Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand. Eine solche schwerwiegende Abweichung im Alter von zwei bis acht Lebensmonaten sei nicht anzunehmen, sonst wäre weitere Diagnostik erfolgt. Die Frage nach den Ursachen der Intelligenzminderung sei nicht der Kern. Eine leichte Intelligenzminderung zeige sich naturgemäß nicht im Alter von zwei bis acht Monaten, wo die basalen Hirnfunktionen im Vordergrund stünden (Schlucken, Saugen, Berühren, motorische Funktionen wie Sitzen, Drehen, Krabbeln, Beginn der Lautbildung). Diese basalen Hirnfunktionen seien beim Kläger auch heute unbeeinträchtigt. Beeinträchtigt seien die höheren Hirnfunktionen, die sich erst später, nach dem ersten Lebensjahr, manifestierten. Man dürfe nicht das Vorliegen einer genetisch determinierten, schon bei der Geburt vorhandenen strukturellen Hirnabweichung auf Zellebene, die dann zu einer eingeschränkten, nicht vollständig normgerechten Hirnentwicklung führe, mit dem Vorliegen einer Behinderung gleichsetzen. Wesentliche Defizite im Alter zwei bis acht Monate seien nicht aktenkundig und auch der S. nicht erinnerlich gewesen. Internist Dr. E. vom MDK gab in seiner (von der Beklagten vorgelegten) ergänzenden Stellungnahme vom 17. Juni 2009 an, in wenigen Einzelfällen könne bereits im frühen Säuglingsalter aktuell und prospektiv auf das Vorliegen einer Behinderung im Sinne des Gesetzes geschlossen werden, so bei schweren körperlichen Missbildungen mit klar erkennbaren neurologischen Abweichungen, oder genetischen Veränderungen wie besonderen Formen der Trisomie, nicht jedoch der Trisomie 21. Eine retrospektive Beurteilung der Frühsäuglingsphase aufgrund weniger sekundärer Informationen sei nicht möglich.

Der Beigeladene hielt das Vorliegen einer von Geburt an bestehenden Behinderung nach den Stellungnahmen des Prof. Dr. H., die sie vorlegte, und des behandelnden Arztes Dr. B. für hinreichend belegt und damit die Voraussetzungen einer Familienversicherung für gegeben.

Das SG beauftragte Arzt für Neurologie und Psychiatrie K. C. M. mit der Erstellung eines Gutachtens. Dieser erstattete sein Gutachten vom 6. März 2009 nach Untersuchung des Klägers am 12. Februar 2009 sowie die ergänzende gutachterliche Stellungnahme vom 4. Juli 2009. Er stellte eine leichte Intelligenzminderung beim Kläger und - aufgrund telefonischer Befragung - mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei S. fest, da sie die ihr gestellten Rechenaufgaben nicht habe lösen können. Auf die Frage, seit wann die Gesundheitsstörungen nachweisbar vorlägen, führte der Sachverständige aus, ein 100%ig sicherer Nachweis sei ohne weitere Unterlagen aus der Kindheit des Klägers, genetische Untersuchungen und eine eigene Untersuchung der S. nicht möglich. Angesichts der vorhandenen Einschränkungen bei der Mutter, die vom Eindruck her nicht auf eine Demenz, sondern ebenfalls auf eine leichte Lernbehinderung, möglicherweise auch eine geistige Behinderung hindeuteten, sei es wahrscheinlicher, dass es sich um eine angeborene, vermutlich genetisch bedingte Störung handele, die Ursache der geistigen Behinderung sei. Er (der Sachverständige) gehe davon aus, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit seit der Geburt vorhanden sei, wenngleich dies hier nicht 100%ig beweisbar sei. Unwahrscheinlich sei, dass die Anfälle zu einer Hirnschädigung geführt hätten, wahrscheinlicher, dass die Anfälle Ausdruck der vorbestehenden Hirnschädigung gewesen seien. Die geistige Behinderung könne obwohl noch nicht diagnostiziert - bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben. Bei vielen Syndromen sei eine Diagnose vor dem 8. Lebensmonat gar nicht möglich. Es sei aber überwiegend wahrscheinlich, dass die geistige Behinderung des Klägers bereits bei der Geburt angelegt gewesen und nicht später erworben worden sei.

Mit Urteil vom 29. Oktober 2010 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 5. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2007 auf und verurteilte die Beklagte, den Kläger vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 und ab 1. Januar 1993 in die Familienversicherung aufzunehmen. Es (das SG) sei nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme überzeugt, dass der Kläger bereits ab Geburt und damit zum Zeitpunkt der bestehenden Familienversicherung (19. April bis 23. Oktober 1960) behindert gewesen sei. Dies folge aus dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen M ... Angesichts der spärlich vorhandenen Unterlagen aus der Säuglings- und Kleinkinderzeit des Klägers sei ein zweifelsfrei sicherer Nachweis zwar nicht möglich. Der Sachverständige habe aber überzeugend und schlüssig dargelegt, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit der Fall sei. Es sei zumindest sehr wahrscheinlich, dass die geistige Behinderung des Klägers in erheblichem Maße auf genetische Veränderungen bzw. Veranlagung zurückgehe. Dies werde dadurch bekräftigt, dass in der Entwicklung des Klägers kein Einschnitt zu erkennen sei. Diese Bewertung stimme mit der von Dr. B. und Prof. Dr. H. überein. Auch ein Patient mit Down-Syndrom könne als Säugling schlucken, saugen, berühren, usw., diesbezüglich also kaum in der Entwicklung verzögert sein und im Verlauf seiner Entwicklung möglicherweise eine schwere Behinderung entwickeln. Dass eine geistige Retardierung der selbst geistig eingeschränkten S. erst im Alter von zwei Jahren aufgefallen sei, bedeute nicht, dass sie nicht schon vorher vorgelegen habe.

Gegen das ihr am 27. Dezember 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27. Januar 2011 Berufung eingelegt. Zur Begründung wiederholt sie ihr bisheriges Vorbringen. Die auf das Telefonat mit S. gestützten Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen M. seien angreifbar, da S. zu diesem Zeitpunkt 82 Jahre alt gewesen und sieben Monate später an den Folgen eines Hirninfarktes gestorben sei. Mangelhafte Rechenfähigkeit könne daher auch alters- und krankheitsbedingt vorgelegen haben. Die Familienversicherung sei bereits mit bestandskräftigem Bescheid vom 5. Dezember 1990 abgelehnt worden. Schließlich sei eine Familienversicherung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V ausgeschlossen, weil der Kläger in dem gesamten streitgegenständlichen Zeitraum freiwillig versichert gewesen sei, vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 bei ihr, seit dem 1. Januar 1993 bis auf weiteres bei der LKK. Nach § 191 SGB V ende die freiwillige Mitgliedschaft mit Beginn einer Pflichtmitgliedschaft oder mit Kündigung. Die Satzung könne einen früheren Zeitpunkt bestimmen, wenn die Voraussetzungen des § 10 SGB V erfüllt seien. Ihre Satzung und die Satzung der LKK sähen keine rückwirkende Beendigung der freiwilligen Mitgliedschaft vor. Eine Beendigung der Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung für die Zukunft sei nicht möglich, weil eine Aufnahme in die Familienversicherung wegen des Vorrangs der freiwilligen Versicherung gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB V nicht möglich sei. Fraglich sei auch das Rechtsschutzinteresse des Klägers, denn die Familienversicherung biete keine leistungsrechtlichen Vorteile. Die Beiträge zur freiwilligen Versicherung trage der Beigeladene. Schließlich könne der geltend gemachte Anspruch auf Familienversicherung längstens bis zum Tod der S. am 16. September 2009 bestehen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 29. Oktober 2010 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt (sachgerecht gefasst),

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Familienversicherung am 30. September 2009 endet.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend mit der Maßgabe, dass die Aufnahme in die Familienversicherung bis zum 30. September 2009 - dem Ende der Mitgliedschaft der in der KVdR versicherten S. - begehrt werde. Der Bewertung des gerichtlichen Sachverständigen sei zu folgen, ein 100%ig sicherer Nachweis nicht erforderlich. Ausreichend sei die Überzeugung des Gerichts, dass eine Tatsache mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit vorliege. Die Verwertbarkeit der Stellungnahmen des MDK als Privatgutachten werde bestritten, auch weil sie nicht von Neurologen erstattet worden seien. Das Schreiben der Beklagten vom 5. Dezember 1990 könne dem Anspruch nicht entgegenstehen; es sei kein Verwaltungsakt. Es handele sich nur um eine nachrichtliche Information an den L.-B. im Rahmen der Eingliederungshilfe. Eine Bekanntgabe an ihn sei nicht erfolgt. Er habe ein rechtliches Interesse an einer gerichtlichen Entscheidung, weil ihm der Anspruch auf Familienversicherung persönlich zustehe. Im Übrigen gelte für Sozialhilfeleistungen der Nachranggrundsatz. Sozialhilfeleistungen erhalte nicht, wer die erforderlichen Leistungen von anderen Trägern erhalte. Das Bestehen einer freiwilligen Versicherung könne dem Anspruch nicht entgegengehalten werden, da er, wenn er diese zum 30. September 2011 kündige, einen Anspruch für die Zukunft, ab Oktober 2011, habe. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18. Mai 2004 (B 1 KR 24/02, in juris) werde die altersunabhängige Familienversicherung durch eine anderweitige Versicherung nur überlagert, aber nicht endgültig beendet. Bestehe die freiwillige Versicherung nicht mehr, lebe der Anspruch auf Familienversicherung wieder auf. Die freiwillige Versicherung sei am 18. April 2007 beantragt worden, nachdem die Beklagte die Familienversicherung storniert habe, bis zur Klärung im Widerspruchs- bzw. Klageverfahren. Die Beklagte habe den Antrag an die LKK weitergeleitet und gedrängt, dass diese ihn rückwirkend ab 1. Januar 2006 als freiwilliges Mitglied aufnehmen solle. Die freiwillige Krankenversicherung sei also nur wegen der Weigerung der Beklagten, ihn zu familienversichern und um zu verhindern, dass zu Lasten der öffentlichen Hand ein Krankenhilfefall entstehe, erfolgt. Es sei weder gerechtfertigt noch hinnehmbar, wenn sich die Beklagte nunmehr darauf berufe.

Mit Beschluss vom 24. Januar 2012 ist der Landkreis Ostalbkreis zum Verfahren notwendig beigeladen worden. Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

Die ehemalige Berichterstatterin hat am 16. Februar 2012 einen Erörterungstermin durchgeführt. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Senatsakte, die SG-Akte S 8 KR 3874/07 und den Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 151, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und statthaft.

II. Richtige Klageart ist die Anfechtungs- und Feststellungsklage. Die alleinige Anfechtungsklage, gerichtet auf Aufhebung des Bescheides vom 5. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2007, mit dem die Beklagte die Aufnahme in die Familienversicherung ab dem 12. Januar 2006 rückwirkend verneint hat, würde dem Kläger nicht zu seinem Prozessziel verhelfen, nämlich die Feststellung der Familienversicherung bei der Beklagten. Denn bei Entfallen des Bescheides vom 5. März 2007 lebte keine Regelung wieder auf, die dem Kläger die begehrte Familienversicherung verschaffte. Die Mitteilung der Beklagten vom 17. Mai 2006 an den Beigeladenen, dass eine Familienversicherung für den Kläger bei seiner Mutter bestehe, ist kein gegenüber dem Kläger ergangener Verwaltungsakt. Sie enthält keine Regelung im Sinne von § 31 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), denn sie war weder nach dem Willen der Beklagten noch nach dem objektiven Sinngehalt, wie ihn der Empfänger der Erklärung bei verständiger Würdigung des Einzelfalles objektiv verstehen musste, darauf gerichtet, eine Rechtsfolge zu setzen (vgl. Engelmann, in: v Wulffen, SGB X, 7. Aufl., § 31 Rn 24ff m.w.N.). Die Familienversicherung tritt bei Vorliegen der Voraussetzungen ohne entsprechende Feststellung kraft Gesetzes ein (Krauskopf-Baier, SozKV, Stand: November 2012, § 10 SGB V, RdNr. 9; BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 - B 10 KR 3/99 R -; in juris). Die Mitteilung wurde weder gegenüber dem Kläger noch gegenüber der S. als Stammversicherter bekanntgegeben. Ohne Bekanntgabe (§ 37 SGB X) aber ist ein Verwaltungsakt nicht existent (§ 39 Abs. 1 SGB X; vgl. BSG, a.a.O.). Ein Entfallen des angegriffenen Bescheides vom 5. März 2007 würde die Rechtsposition des Klägers mithin nicht verbessern. Da die Familienversicherung bei Vorliegen der Voraussetzungen ohne entsprechende Feststellung kraft Gesetzes eintritt, ist bei einem Streit über das Vorliegen der Familienversicherung die richtige Klageart die Feststellungsklage. Demgemäß hätte das SG -ausgehend von seiner Rechtsauffassung - auch die Beklagte nicht verurteilen dürfen, den Kläger in die Familienversicherung aufzunehmen, sondern die Feststellung treffen müssen, der Kläger sei vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 und seit 1. Januar 1993 bei der Beklagten familienversichert.

III. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Soweit es die Feststellung der Familienversicherung für die Zeiträume vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 sowie vom 1. Januar 1993 bis 11. Januar 2006 betrifft, ist die Klage bereits unzulässig (2.). Im Übrigen (Zeit vom 12. Januar 2006 bis 30. September 2009) ist die Klage zwar zulässig (1.), jedoch nicht begründet (3.). Denn der Bescheid der Beklagten vom 5. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2007 ist rechtmäßig. Der Kläger war bei der Beklagten nicht familienversichert.

1. Hinsichtlich des Begehrens, festzustellen, der Kläger sei vom 12. Januar 2006 bis 30. September 2009 bei der Beklagten familienversichert, ist die Klage zulässig. Dieses Begehren ist in dem Klageantrag bei sachgerechter Auslegung mit enthalten, da der Kläger die Feststellung auch ab diesem Zeitpunkt und für die Zukunft begehrt. Über den Anspruch auf Feststellung der Familienversicherung ab dem 12. Januar 2006 hat die Beklagte in dem angegriffenen Bescheid entschieden.

2.) Hinsichtlich des Begehrens des Klägers, die Familienversicherung auch für die Zeiträume vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 sowie vom 1. Januar 1993 bis 11. Januar 2006 festzustellen, ist die Klage unzulässig. Denn bezüglich dieser Zeiträume hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 5. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. September 2007 nicht entschieden. Der gegenüber der Stammversicherten S. und dem Beigeladenen bekanntgegebene Bescheid vom 5. März 2007 enthält den Verfügungssatz, dass die ab 12. Januar 2006 für den Kläger "geöffnete" Familienversicherung wieder "storniert" werde. Er enthält keine Aussage über die vom Beigeladenen mit Schreiben vom 30. Mai 2006 beantragte Feststellung ab 21. Februar 1987, dem unterstellten Ende der Waisenrente und damit der KVdR. Denn die Äußerung, die Familienversicherung werde "storniert", bezog sich auf die unter dem 17. Mai 2006 an den Beigeladenen ergangene Mitteilung der Beklagten, wonach der Kläger seit dem 12. Januar 2006 bei S. familienversichert sei. Die Beklagte wollte damit allein die zuvor getroffene Feststellung für die Zeit ab 12. Januar 2006 korrigieren und die Voraussetzungen der Familienversicherung ab 12. Januar 2006 verneinen. Demgemäß regelt der Bescheid vom 5. März 2007, dass eine Familienversicherung des Klägers ab 12. Januar 2006 nicht besteht.

Für die Feststellung, eine Familienversicherung habe vor dem 11. Januar 2006 bestanden, fehlt es zudem bereits an einem Antrag des Klägers. Das auf rückwirkende Familienversicherung gerichtete Schreiben vom 30. Mai 2006 stammt vom Beigeladenen, der keine Vollmacht hatte, für den Kläger zu handeln. Der Sozialhilfeträger kann schließlich als Dritter bei der Krankenkasse auch die Feststellung des begründeten Status eines Familienversicherten nach § 10 SGB V nicht beantragen (BSG, Urteil vom 17. Juni 1999 - B 12 KR 11/99 R -, in juris). Da es bereits an einem entsprechenden Antrag des Klägers an die Beklagte fehlt, ist weder die Nachholung des Vorverfahrens, noch eine Behandlung als Untätigkeitsklage nach § 88 SGG möglich.

3. Der Kläger war vom 12. Januar 2006 bis 30. September 2009 nicht familienversichert.

a) Eine Familienversicherung vom 12. Januar 2006 bis 30. September 2009 bestand nicht bereits deshalb, weil die Beklagte in einem Bescheid festgestellt hätte, der Kläger sei familienversichert, und diesen (feststellenden) Bescheid nicht nach §§ 45 oder 48 SGB X zurückgenommen hätte. Denn ein Verwaltungsakt der Beklagten über das Bestehen der Familienversicherung ab 12. Januar 2006 ist nicht ergangen. Die Mitteilung an den Beigeladenen vom 17. Mai 2006 war kein Verwaltungsakt (s.o. II.). Daher war die Beklagte nicht gehindert, auch rückwirkend festzustellen, dass ab einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt eine Familienversicherung nicht bestand (vgl. BSG, Urteil vom 7. Dezember 2000 - B 10 KR 3/99 R -; in juris). Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes oder der Besonderheiten von Statusentscheidungen im Versicherungsverhältnis stehen nicht entgegen. Bei Statusentscheidungen im Versicherungsrecht, zu denen auch die Feststellung des Bestehens einer Familienversicherung zählt, ist grundsätzlich eine vorausschauende Betrachtungsweise angezeigt. Der Betroffene muss beim Entfallen der Familienversicherung für eine anderweitige Versicherung sorgen können und bei plötzlich auftretender Krankheit zuverlässig wissen, wie und wo er versichert ist. Dies erfordert eine Prognose unter Einbeziehung der mit hinreichender Sicherheit zu erwartenden Veränderungen. Das hierbei gewonnene Ergebnis bleibt auch dann verbindlich, wenn die Entwicklung später anders verläuft als angenommen. Eine Änderung bietet dann Anlass für eine erneute Prüfung und wiederum vorausschauende Beurteilung. (BSG, a.a.O: m.w.N). Der Betroffene muss davor geschützt werden, dass er plötzlich rückwirkend ohne Versicherungsschutz dasteht und Rückforderungen in möglicherweise existenzbedrohender Höhe für erbrachte Leistungen ausgesetzt ist, ohne die Möglichkeit zu haben, sich hiergegen nachträglich durch den Abschluss einer privaten Krankenversicherung oder den freiwilligen Beitritt zur gesetzlichen Krankenversicherung abzusichern. Diese Gefahr besteht indes nicht. Sollten Leistungen zurückgefordert werden, gelten nach § 50 Abs. 2 Satz 2 SGB X die §§ 45, 48 SGB X entsprechend. Auch die Möglichkeit, rückwirkend zur freiwilligen Versicherung beizutreten, schließt unzumutbare Auswirkungen aus. Ein Vertrauensschutz auf den Erhalt der beitragsfreien Versicherung besteht danach nicht (BSG, a.a.O.). Dem ist hier genügt. Der Kläger war ab 12. Januar 2006 freiwillig versichertes Mitglied bei der LKK.

b) Rechtsgrundlage für die Feststellung im Bescheid vom 5. März 2007, dass eine Familienversicherung seit 12. Januar 2006 nicht bestand, ist § 10 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 4, Nr. 1 bis 3 SGB V. Versichert sind nach § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB V der Ehegatte, der Lebenspartner und die Kinder von Mitgliedern sowie die Kinder von familienversicherten Kindern, wenn sie 1. ihren Wohnsitz im Inland haben, und u.a. 2. nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2, 3 bis 8, 11 oder 12 SGB V oder nicht freiwillig versichert sind. Der Kläger ist das Kind der S., die bis zu ihrem Tod Mitglied der Beklagten war. Er hatte seinen Wohnsitz im Inland. Er war ab 12. Januar 2006 ausweislich eines Aktenvermerks in dem Verwaltungsvorgang der Beklagten freiwillig bei der LKK versichert.

aa) Nach dem Gesetz wird die Familienversicherung durch die freiwillige Versicherung ausgeschlossen. Allein entscheidend ist, ob diese besteht. Der Versicherte ist nicht gehindert, gemäß § 191 Nr. 3 SGB V die freiwillige Versicherung zu kündigen (Kasseler Kommentar-Peters, § 10 SGB V RdNr. 10). Sinn des § 10 Abs. 1 ist es, denjenigen von der abgeleiteten und beitragsfreien Familienversicherung auszuschließen, der selbst versichert ist und von dem das Gesetz generell annimmt, dass er eine eigene Versicherung finanzieren kann (Peters a.a.O. RdNr. 8 m.w.N). Der Senat lässt offen, ob diese vom Gesetz ausnahmslos angeordnete Subsidiarität auch dann greift, wenn - wie vorliegend - die freiwillige Versicherung abgeschlossen wurde, um in einem anhängigen Verfahren über das Bestehen einer Familienversicherung den Betroffenen abzusichern.

bb) Die Voraussetzung für das Bestehen einer Familienversicherung gemäß § 10 Abs. 2 Nr. 4 SGB V liegen nämlich nicht vor. Danach sind Kinder ohne Altersgrenze versichert, wenn sie als behinderte Menschen (§ 2 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - SGB IX -) außerstande sind, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung zu einem Zeitpunkt vorlag, in dem das Kind nach Nummer 1, 2 oder 3 versichert war. Nach Nr. 1 sind Kinder bis zur Vollendung des achtzehnten Lebensjahres versichert, nach Nr. 2 bis zur Vollendung des dreiundzwanzigsten Lebensjahres, wenn sie nicht arbeiten, nach Nr. 3 bis zur Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres, wenn sie sich in Schul- und Berufsausbildung befinden oder ein freiwilliges soziales Jahr oder ein freiwilliges ökologisches Jahr leisten. Der Kläger war bis zur Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres am 21. Februar 1985 nur im Zeitraum vom 19. April bis 23. Oktober 1960 bei der Beklagten familienversichert. Danach war er bis 28. Februar 1985 pflichtversichert in der KVdR gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V aufgrund des Bezuges von Hinterbliebenenrente, so dass ein Ausschlussgrund hinsichtlich der Familienversicherung bestand. Die Familienversicherung in der LKK vom 1. Januar 1990 bis 31. Dezember 1992 bestand erst nach Vollendung des fünfundzwanzigsten Lebensjahres.

aaa) Der Kläger ist als behinderter Mensch im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX außerstande, sich selbst zu unterhalten. Es besteht eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Nach dieser Vorschrift sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Er bezieht Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII). Bei ihm liegt eine Gesundheitsstörung in Form einer geistigen Behinderung im Sinne einer Intelligenzminderung mit einem IQ zwischen 50 und 69 vor. Er kann nicht lesen und schreiben, hat keinen Zahlenbegriff, ist zu einem selbstständigen Leben nicht in der Lage. Er bedarf in allen Lebensbereichen der Unterstützung und Anleitung, kann selbstständig keine Kontakte aufbauen, hat keine Vorstellung vom Wert des Geldes, weiß nicht, wie alt er ist und hat keinen Zeitbegriff. Es besteht eine emotionale und soziale Unreife mit Neigung zu Impulsdurchbrüchen. Ein Anfallsleiden besteht nicht mehr. Dies steht zur Überzeugung des Senats als Ergebnis der Beweisaufnahme aufgrund der insoweit übereinstimmenden vorliegenden ärztlichen Atteste des Dr. B. und der sozialmedizinischen Gutachten und Stellungnahmen von Prof. Dr. H., Dr. Br. und Dr. E. sowie des insoweit schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen M. fest.

bbb) Der Senat konnte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nicht zu der Überzeugung gelangen, dass ein solcher Zustand bereits zwischen dem 19. April und dem 23. Oktober 1960 bestand. Ärztliche Berichte aus dieser Zeit liegen nicht vor.

(1) Der einzige authentische Bericht über die frühkindliche Entwicklung des Klägers im Säuglingsalter ist der Bericht von Dr. D. (Landesverband der Inneren Mission in Württemberg) vom 14. Juni 1965 aufgrund einer Untersuchung des Klägers am 1. Juni 1965, die über die bisherige Entwicklung des Klägers berichtet. Hinsichtlich des hier maßgeblichen Zeitraumes, also des Lebensalters des Klägers zwischen zwei und acht Monaten, berichtet sie nur, dass der Kläger im Alter von sechs Monaten eine Mittelohrentzündung durchgemacht und währenddessen einen atypischen Krampfanfall hatte. Alles weitere betrifft spätere Zeiträume (wiederholte epileptische Anfälle im Alter von anderthalb Jahren, Intelligenzminderung mit zwei Jahren). Die Untersuchung und Testung am 1. Juni 1965 ergab zu diesem Zeitpunkt eine deutliche geistige Behinderung mit Intelligenzminderung bei einem Intelligenzalter von 3,7 (Lebensalter 5,3) mit der Einschränkung, dass der ungewöhnliche Zeitaufwand nicht erwarten lasse, dass später dem hier erarbeiteten IQ von 68 Entsprechendes geleistet werden könne. Damit ist ein mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauerndes Abweichen von dem für das Lebensalter typischen Zustand im Alter von zwei bis acht Monaten, nämlich zwischen dem 19. April und dem 23. Oktober 1960, nicht belegt. Sowohl Mittelohrentzündung als auch der Krampfanfall waren akute Krankheitsgeschehen, gehäuft traten die Anfälle erst ein Jahr später auf und wurden erfolgreich medikamentös therapiert. Eine Beeinträchtigung der basalen Funktionen oder eine Entwicklungsverzögerung ist für diesen Zeitpunkt nicht dokumentiert.

(2) Die im Laufe des Verfahrens erstatteten Gutachten, ärztlichen/sozialmedizinischen Stellungnahmen und ärztlichen Atteste stehen hierzu nicht im Widerspruch. Zwar kommen der vom SG beauftragte Sachverständige M. und Prof. Dr. H. vom KVJS zu dem Ergebnis, die Behinderung habe beim Kläger mit sehr großer Wahrscheinlichkeit (Prof. Dr. H.) bzw. weit überwiegend wahrscheinlich (Sachverständiger M.) bereits von Geburt an vorgelegen, was aus der zu vermutenden genetischen Ursache folge (Gutachten K. C. M. vom 6. März 2009, gutachterliche Stellungnahmen Prof. Dr. H. vom 11. Juni 2007 und 5. November 2007). In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 4. Juli 2009 an das SG räumt der Sachverständige M. ein, dass eine Manifestation einer geistigen Behinderung im frühen Säuglingsalter nicht möglich sei, worauf Dr. E. in seiner Stellungnahme vom 17. Juni 2009 und Dr. Br. im sozialmedizinischen Gutachten vom 10. Juni 2009 bereits hingewiesen hatten. Diese Einschätzung erfordert keine spezifisch fachärztlich-neurologische Kenntnis, so dass der Einwand des Klägers gegen die Heranziehung der Stellungnahmen der Dres. E. und Br. insoweit ebenso wenig greift wie gegen die Verwertung von Stellungnahmen und Gutachten des MDK allgemein.

Der Verwertung von Gutachten des MDK kann nicht entgegengehalten werden, es gebe nur die Interessenlage der Krankenkassen wieder. Der MDK ist nicht eine Verwaltungseinheit der Krankenkassen, sondern institutionell von diesen getrennt. Es handelt sich auf Länderebene jeweils um eigenständige Körperschaften des öffentlichen Rechts (§ 278 Abs. 1 SGB V). Um auch den Anschein eines Weisungsverhältnisses zwischen Kranken- oder Pflegekassen und den Ärzten des MDK auszuschließen, stellt § 275 Abs. 5 SGB V ausdrücklich klar, dass die Ärzte des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung bei der Wahrnehmung ihrer medizinischen Aufgaben nur ihrem ärztlichen Gewissen unterworfen sind. Gutachten des Medizinischen Diensts der Krankenversicherung können deshalb auch im gerichtlichen Verfahren verwertet werden (vgl. BSG, Beschluss vom 23. Dezember 2004 - B 1 KR 84/04 B -, Urteil vom 14. Dezember 2000 - B 3 P 5/00 R - zu einem Gutachten des MDK zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit; beide in juris; Urteil des Senats vom 1. März 2012 - L 4 KR 3517/11 -; nicht veröffentlicht).

Der Sachverständige M. und Prof. Dr. H. gehen ersichtlich von einer unzutreffenden rechtlichen Bewertung des Begriffs der Behinderung im Sinne von § 2 SGB IX aus, indem sie für maßgeblich halten, ob die physiologischen Gegebenheiten, die Anlagen, die zu der später manifesten geistigen Behinderung geführt haben, beim Kläger bereits im Säuglingsalter vorgelegen haben. Maßgeblich ist aber die tatsächlich vorliegende Funktionsstörung (s.o. III.3. b) bb) bbb) (1)).

IV. Aufgrund dessen lägen im Übrigen auch für die Zeiträume vom 1. März 1985 bis 31. Dezember 1989 sowie vom 1. Januar 1993 bis 11. Januar 2006 die Voraussetzungen für eine Familienversicherung des Klägers bei der Beklagten nicht vor, wenn die Klage insoweit zulässig gewesen wäre.

V. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

VI. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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