L 7 AS 131/13 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Landshut (FSB)
Aktenzeichen
S 7 AS 876/12 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 131/13 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach dem Beschluss des BVerfG vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, ist im Eilverfahren wegen existenzsichernden Leistungen anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wenn (1.) schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen entstehen können, (2.) der unveränderte Prüfungsmaßstab des § 86b SGG zu einer Ablehnung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz führen würde und (3.) die Sach- und Rechtslage nicht abschließend geprüft werden kann.
Wenn diese drei Voraussetzungen vorliegen, ist bei der Abwägung des öffentlichen Interesses am Sofortvollzug der strittigen Regelung und dem privaten Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes vorerst verschont zu bleiben, auf Seiten der Interessen des Antragstellers eine Folgenabwägung durchzuführen. Damit werden die Vorgaben des BVerfG auch bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung umgesetzt.
I. Die Beschwerde gegen Ziffer I. und II. des Beschlusses des Sozialgerichts
Landshut vom 28. Januar 2013 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren ab Antragstellung Prozesskostenhilfe
unter Beiordnung des Rechtsanwalts B. gewährt. Ratenzahlungen sind nicht zu erbringen.



Gründe:


I.

Streitig ist im Eilverfahren eine Absenkung des Arbeitslosengeldes II um 100 vom Hundert wegen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung.

Der 1965 geborene Antragsteller und Beschwerdeführer war bis Ende 2005 als selbständiger Handwerker erwerbstätig. Ende 2005 beantragte er erstmals Arbeitslosengeld II beim Antragsgegner.

Mit Bescheid vom 29.02.2012 (S. 380 der Verwaltungsakte) wurde das Arbeitslosengeld II des Antragstellers wegen einer weiteren wiederholten Pflichtverletzung für April, Mai und Juni 2012 vollständig aufgehoben. Ein Widerspruch dagegen ist nicht ersichtlich. Am 01.05.2012 nahm der Antragsteller sein Gewerbe im Holz- und Bautenschutz wieder auf.

Zuletzt wurde dem alleinstehenden Antragsteller mit Bescheid vom 22.10.2012 Arbeitslosengeld II u. a. für die Zeit vom 01.11.2012 bis 31.03.2013 in Höhe von 734,- Euro monatlich bewilligt.

Bereits am 09.10.2012 unterzeichnete der Antragsteller eine Eingliederungsvereinbarung (S. 505 der Verwaltungsakte). Danach verpflichtete sich der Antragsteller, sich auf Vermittlungsvorschläge hin zeitnah zu bewerben und vom 15.10.2012 bis 14.04.2013 an der Maßnahme "Aktiv Center, berufliche Weiterbildung für Erwachsene" teilzunehmen. Bei Arbeitsunfähigkeit sei der Antragsteller verpflichtet, die Maßnahme nach Genesung unaufgefordert anzutreten. Eine erneute Einladung erfolge nicht. In der Rechtsfolgenbelehrung wurden zunächst die einzelnen Sanktionsstufen (30 % des Regelbedarfs, 60 % des Regelbedarfs und völliger Wegfall des Arbeitslosengelds II) genannt. Direkt anschließend wurde darauf hingewiesen, dass das Arbeitslosengeld II des Antragstellers zuletzt wegen eines weiteren wiederholten Verstoßes aufgrund des Bescheids vom 29.02.2012 vollständig weggefallen war. Deshalb werde auch jeder weitere Pflichtverstoß gegen die in der Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengeldes II für drei Monate zur Folge haben.

Ebenfalls am 09.10.2012 wurde dem Antragsteller die vorgenannte Maßnahme durch gesondertes Schreiben angeboten. In dem Angebot wurde die Maßnahme im einzelnen beschrieben und in der dortigen Rechtsfolgenbelehrung nochmals darauf hingewiesen, dass bei einem weiteren Pflichtverstoß das Arbeitslosengeld II für drei Monate vollständig entfallen werde.

Der Antragsteller meldete sich von 15.10.2012 bis 19.10.2012 arbeitsunfähig. Anschließend trat er die Maßnahme jedoch nicht an.

Zur Anhörung vom 25.10.2012 äußerte sich der Antragsteller nicht. Mit Bescheid vom 21.11.2012 wurde die Bewilligung von Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 01.12.2012 bis 28.02.2013 wegen der vorgenannten Pflichtverletzung vollständig aufgehoben. Ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen könne er auf Antrag erhalten. Der Antragsteller nahm Lebensmittelgutscheine in Anspruch.

Am 12.12.2012 erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers Widerspruch.

Am 15.12.2012 beantragte er beim Sozialgericht Landshut einstweiligen Rechtsschutz. Im Sanktionsbescheid werde nur auf eine vorangegangene Pflichtverletzung Bezug genommen, so dass es sich hier nur um eine erste wiederholte Pflichtverletzung handeln könne. Dann könne das Arbeitslosengeld II jedoch nur um 60 % des Regelbedarfs gemindert werden. Der Sanktionsbescheid sei nicht ausreichend bestimmt.

Mit Beschluss vom 28.01.2013 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ab. Es bestünden keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Sanktionsbescheides. Der Antragsteller habe unstrittig die Maßnahme nach seiner Arbeitsunfähigkeit nicht angetreten. Die rechtlichen Folgen seines Handelns - der dreimonatige Wegfall der Leistung bei Nichtantritt der Maßnahme - seien dem Antragsteller sowohl in der Eingliederungsvereinbarung als auch im Schreiben vom 09.10.2012 unmissverständlich dargelegt worden. Der Sanktionsbescheid sei auch inhaltlich hinreichend bestimmt nach § 33 SGB X. Es sei aus dem Bescheid deutlich erkennbar, dass das Arbeitslosengeld II im Dezember 2012, Januar und Februar 2013 vollständig entfalle.

Der Bevollmächtigte des Antragstellers hat am 14.02.2013 Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts eingelegt und zugleich die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt. In der Rechtsfolgenbelehrung der Eingliederungsvereinbarung sei ausgeführt worden, dass das Arbeitslosengeld II um einen Betrag in Höhe von 30 % der Regelleistung gekürzt werde, wenn erstmals gegen die Pflichten in der Eingliederungsvereinbarung verstoßen werde. Demnach sei unklar, ob die Sanktion bei einem einmaligen Verstoß eingreife oder ob eine Minderung erst bei einem Verstoß gegen alle Pflichten (also erst bei einem kumulativen Verstoß) erfolge.

Mit Widerspruchsbescheid vom 31.01.2013 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Dagegen erhob der Antragsteller Klage zum Sozialgericht Landshut (S 10 AS 93/13).

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Landshut vom 28. Januar 2013 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21.11.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.01.2013 anzuordnen.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts auf die Akte des Antragsgegners, die Akte des Sozialgerichts und die Akte des Beschwerdegerichts verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Der Beschwerdewert von 750,- Euro wird angesichts der vorherigen Bewilligung überschritten, § 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG.

Die Beschwerde ist aber unbegründet, weil das Sozialgericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung zu Recht abgelehnt hat.

Weil der Sanktionsbescheid gemäß § 39 Nr. 1 SGB II sofort vollziehbar ist, ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG statthaft. Das Gericht entscheidet über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung auf Grundlage einer Interessenabwägung. Abzuwägen sind das private Interesse des Antragstellers, vom Vollzug des Verwaltungsaktes bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verschont zu bleiben und das öffentliche Interesse an der Vollziehung der behördlichen Entscheidung. Im Rahmen dieser Interessenabwägung kommt der Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache eine wesentliche Bedeutung zu.

Dabei ist die Wertung des § 39 Nr. 1 SGB II zu berücksichtigen, wonach der Gesetzgeber aufgrund einer typisierenden Abwägung dem öffentlichen Interesse am Sofortvollzug prinzipiell den Vorrang gegenüber entgegenstehenden privaten Interessen einräumt. Eine Abweichung von diesem Regel-Ausnahmeverhältnis kommt nur in Betracht, wenn dafür überwiegende Interessen des Antragstellers sprechen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen oder wenn besondere private Interessen überwiegen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 10. Auflage 2012, § 86b Rn. 12c allerdings unter Ablehnung der Kriterien des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG; Conradis in LPK-SGB II, 4. Auflage 2012, § 39 Rn. 16 und Bay LSG Beschluss vom 16.07.09, L 7AS 368/09 B ER).

Das Bundesverfassungsgerichts hat entschieden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05), dass bei existenzsichernden Leistungen anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden ist, wenn (1.) schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen entstehen können, (2.) der Prüfungsmaßstab des § 86b SGG zu einer Ablehnung des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz führen würde und (3.) die Sach- und Rechtslage nicht abschließend geprüft werden kann. Wenn diese drei Voraussetzungen vorliegen, ist bei der Prüfung der besonderen privaten Interessen des Antragstellers eine Folgenabwägung durchzuführen. Damit werden die Vorgaben des BVerfG auch bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung umgesetzt (vgl. Breitkreuz / Fichte, Sozialgerichtsgesetz, 1. Auflage 2008, § 86b Rn. 48, 49).

Durch die Sanktion fällt für drei Monate das Arbeitslosengeld II weg. Daraus können sich schwere und unzumutbare Rechtsbeeinträchtigungen ergeben, wozu allerdings nicht ansatzweise etwas vorgetragen wurde. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Antragsteller trotz seiner vorgetragenen Hilfebedürftigkeit fortlaufend eine Rürüp-Rente nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 b EStG mit monatlich 195,- Euro bedient. Dies kann aber dahin gestellt bleiben, weil die Sach- und Rechtslage hier abschließend geprüft werden kann.

Die Voraussetzungen des vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II liegen vor. Das Beschwerdegericht schließt sich gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG der Begründung des Sozialgerichts an und weist die Beschwerde aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurück. Die Rechtsfolgenbelehrung war sowohl in der Eingliederungsvereinbarung als auch im Zuweisungsschreiben eindeutig. In der Eingliederungsvereinbarung steht "Daher wird auch jeder weitere wiederholte Pflichtverstoß (Verstoß gegen die mit Ihnen Nr. 2 vereinbarten Eingliederungsbemühungen) den vollständigen Wegfall des ihnen zustehenden Arbeitslosengeldes II zur Folge haben". Das kann nicht so verstanden werden, dass alle Pflichten kumulativ verletzt werden müssten, um eine Sanktion auszulösen. Eine derartige seltsame Auslegung widerspräche auch dem gesonderten Maßnahmeschreiben. Im Sanktionsbescheid ist auch eindeutig der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II für drei Monate verfügt worden.

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht. Ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen sind auf Antrag möglich und wurden gewährt. Daneben ist eine Übernahme von Schulden zur Sicherung der Unterkunft nach § 22 Abs. 8 SGB II grundsätzlich auch dann möglich, wenn die Schulden infolge einer Sanktion entstanden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe gemäß § 73a SGG i.V.m. §§ 114 Zivilprozessordnung (ZPO) gewährt. Der Antragsteller ist bedürftig, weil er die vorhandene fondsgebundene Versicherung als Rürup-Rente nach § 10 Abs. 1 Nr. 2 b EStG nicht für die Kosten der Prozessführung einsetzen kann. Ein Mindestmaß an Erfolgsaussicht war nicht von vornherein ausgeschlossen.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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