Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 29 VG 44/05
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 VE 4/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 19. November 2009 im Hauptausspruch aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist der Beginn der Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.
Am 24. November 2003 ging bei dem Versorgungamt in S1 ein Schreiben der Prozessbevollmächtigten der am XXXXX 1970 geborenen Klägerin ein, mit dem für diese unter Vorlage einer bereits ein Jahr zuvor, nämlich am 21. Oktober 2002, von der Klägerin unterzeichneten Verfahrensvollmacht und Beifügung eines erst am 28. Oktober 2003 ebenfalls von dieser unterzeichneten amtlichen Antragsformulars Versorgung für Geschädigte nach dem OEG beantragt wurde, weil die Klägerin von etwa 1973-1987 am Wohnort ihrer Eltern in S1 von ihrem Vater gequält, misshandelt und vor allem sexuell missbraucht worden sei. Beigefügt waren insgesamt acht undatierte, maschinenschriftlich erstellte Seiten Text, auf denen mit Bezug zu den Abschnitten des Antragsformulars der Hergang der Tat und die erlittenen Gesundheitsstörungen geschildert wurden. In dem anwaltlichen Schreiben führt die Prozessbevollmächtigte weiter aus, ihre Mandantin arbeite seit Mai vorigen Jahres daran, diesen Antrag zu stellen. Zweimal habe sie ihre Bemühungen abbrechen müssen, weil sie die Auseinandersetzung mit dem Anlassgeschehen nicht ausgehalten habe. Dementsprechend enthalte das Antragsformular nun veraltete und neue Daten, jedoch seien die aktuellen Daten als solche erkennbar.
Bereits mit Bescheid vom 6. Oktober 2003 war der Klägerin auf ihren (neuerlichen) Rentenantrag vom 18. Januar 2003 und auf der Grundlage eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L., der die Klägerin am 12. März 2003 untersucht und sie wegen Regressionsverhaltens bei emotional instabiler Persönlichkeit vom Borderlinetyp, Adipositas per magna und LWS-Syndrom für nur noch in der Lage gehalten hatte, vier Stunden täglich erwerbstätig zu sein, durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Mai 2003 bewilligt worden. Gegenüber dem Gutachter hatte die Klägerin angegeben, seit dem Alter von drei Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. So habe sie die schlimmsten sexuellen Praktiken über sich ergehen lassen müssen, an denen sich auch ihr Bruder, als dieser 14 Jahre alt gewesen sei, beteiligt habe. Zum Geschlechtsverkehr sei es jedoch nur mit dem Vater gekommen. In seinem Gutachten weist der medizinische Sachverständige zum Lebenslauf der Probandin auf einen beigefügten neun Seiten langen, maschinenschriftlichen Bericht "Antrag auf Bezahlung der Therapie nach geltendem Opferentschädigungsrecht" vom November 2002 hin, in dem die Klägerin den Vorwurf erhebt, dass ihr Vater sie sexuell missbraucht habe, seit sie etwa drei Jahre alt gewesen ist, und wo sie die Auffassung vertritt, dass ihre Gesundheitsstörungen auf den kindlichen Missbrauch zurückzuführen seien.
Das Versorgungsamt holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Die praktische Ärztin Dr. G1 gab unter dem 10. Dezember 2003 an, die Klägerin sei zuletzt am 17. September 2001 unter den Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Zustand nach mehrfachem Bandscheibenvorfall, Essstörung, Adipositas und Depression in ihrer Behandlung gewesen. Die Fachärztin für Psychiatrie Dr. S., bei der die Klägerin vom 27. Juli 2000 bis zum 16. August 2001 in Behandlung war, berichtete unter dem 17. Dezember 2003, die Klägerin leide unter täglichen Essattacken, schweren Antriebsstörungen mit sozialem Rückzug und Problemen bei der Tagesstrukturierung und Wohnungspflege, agarophobischen und sozialen Ängsten bis hin zu Panikattacken, wenn die Patientin sich ausgeliefert fühle. Es sei eine hochgradige Reizoffenheit sichtbar geworden, die den Lebensradius der Patientin einschränke und Kontakte außerhalb ihrer Wohnung auf wenige Personen und Einkäufe lebensnotwendiger Dinge beschränke. Durchgängig sei auch eine hochgradige Affektlabilität sowie eine depressive Stimmungslage festgestellt worden. Zudem habe es Hinweise auf dissoziative Zustände und eine Neigung zu psychosomatischen Reaktionen und Schlafstörungen gegeben. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F., bei dem die Klägerin vom 16. September 2002 bis zum März 2003 in Behandlung war, wies in seinem Bericht vom 16. Dezember 2003 unter anderem auf eine schwere Persönlichkeitsstörung bei Traumatisierungen in der Kindheit hin. Er gab weiter an, dass bis zum Ende der im Wesentlichen aus situationsregulierenden Gesprächen bestehenden Behandlung keine Stabilisierung und Besserung im Befinden der Patientin mit Erarbeitung einer ausreichenden Zukunftsperspektive zu erkennen gewesen sei.
Der Beklagte veranlasste eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung im Wege der Amtshilfe durch das Versorgungsamt Hamburg, welches die Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. mit der Untersuchung und schriftlichen Begutachtung der Klägerin beauftragte. Sie stellte eine posttraumatische Belastungsstörung als Folge sexuellen Missbrauchs durch den leiblichen Vater fest und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 40 vom Hundert ab 2000 ein.
Mit Erstanerkennungsbescheid vom 13. Juni 2005 stellte das Versorgungsamt S1 fest, dass die Klägerin zwischen 1973 bis 1987 das Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden ist, anerkannte als Folge dieser Schädigung eine posttraumatische Belastungsstörung, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG, und zuerkannte Beschädigtenversorgung in Gestalt einer Grundrente nach einer MdE von 40 vom Hundert ab 1. November 2003. Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 19. Juli 2005 erhob die Klägerin Widerspruch, soweit ihr Wirbelsäulenleiden nicht als Schädigungsfolge anerkannt, soweit die MdE lediglich mit 40 vom Hundert bemessen und soweit Grundrente erst ab 1. November 2003 und nicht bereits ab Mai 2002 bewilligt wurde. Es liege ein Fall des § 60 Abs. 1 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) vor. Zwar habe sie – so die Prozessbevollmächtigte – selbst die Klägerin bereits im Oktober 2002 gesehen. Aus dieser Zeit stamme die vorgelegte Vollmacht. Erst im Oktober 2003 habe aber die Mandantin vollständige Unterlagen präsentieren und vor allem den Gedanken aushalten können, dass Fremde ihre Schilderung lesen, würdigen und womöglich auch ihren Vater mit den Vorwürfen konfrontieren würden.
Das Regierungspräsidium S1 – Landesversorgungsamt – als Widerspruchsbehörde zog die Unterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und hier namentlich das Gutachten des Dr. L. vom 17. März 2003 bei und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2005 zurück. Es habe unter Berücksichtigung der eingeholten Befundberichte nicht festgestellt werden können, dass die Klägerin wegen seelischer Störungen außerstande gewesen ist, bereits im Mai 2002 einen OEG-Antrag zu stellen. Die Durchschnitts-MdE von 40 vom Hundert habe mit Wahrscheinlichkeit bereits seit dem Jahre 2000 vorgelegen. Weitere Gesundheitsstörungen als die anerkannten seien nicht Schädigungsfolge.
Daraufhin hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben, mit der sie die Anerkennung einer durch die Schädigungsfolgen bedingten MdE von mehr als 40 vom Hundert sowie entsprechende Beschädigtenversorgung, und zwar zu einem früheren als dem zuerkannten Zeitpunkt, jedenfalls aber ab Mai 2002, begehrt hat. Sie hat vorgetragen, im Mai 2002 einen ersten Anlauf zur Stellung eines Antrages auf Leistungen nach dem Opferent¬schädigungsgesetz unternommen zu haben. Weil sie die Auseinandersetzung mit dem Anlassgeschehen, dem sexuellen Missbrauch und den Misshandlungen in Kindheit und Jugend, nicht ausgehalten habe, habe sie ihre Bemühungen zunächst abbrechen müssen. Im Oktober 2002 sei ein weiterer Versuch gescheitert. Erst im November 2003 sei sie in der Lage gewesen, einen relevanten Sachverhalt schriftlich darzustellen und ihren Bericht auch aus der Hand zu geben. Bis heute habe sie panische Angst davor, dass der Täter, ihr Vater, ihre derzeitige Anschrift erfahre. Zwar sei sie nicht grundsätzlich gehindert gewesen, ein Formular auszufüllen. Jedoch sei es hier um mehr gegangen. Sie habe schildern sollen, was passiert sei. Bei dem ersten Versuch im Mai 2002 seien aber so schlimme Ängste aufgekommen, dass sie habe abbrechen müssen. Ihre Mutter habe diese Bemühungen miterlebt. Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Akte zweimal weggelegt, bevor im November 2003 dann doch noch der Antrag habe auf den Weg gebracht werden können.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des Arztes für Psychiatrie D. eingeholt, der am 3. März 2006 davon berichtet hat, dass die Klägerin seit dem 27. Mai 2003 in seiner nervenärztlichen Behandlung sei und der die Diagnosen akute Belastungsreaktion, post-traumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Angst und Depression gemischt, rezidivierende Panikstörung, Essattacken mit Adipositas, schwere, nicht organische Insomnie, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psy¬cho-tische Symptome, vielfältige somatoforme Störung, emotional instabile Persönlichkeit, rezidivierende Bandscheibenvorfälle, abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle mit überwiegend autoaggressiven Tendenzen mitgeteilt hat. Des Weiteren hat das Sozialgericht einen Befundbericht der Fachärztin für physikalische und rehabilitative Medizin Dr. M. eingeholt, bei der die Klägerin seit 18. November 2004 in Behandlung war. Es hat ferner den Entlassungsbericht der H.-Klinik in K. über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 17. Oktober bis 28. November 2006 unter den Diagnosen komplexe posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige depressive Episode, Panikstörungen, Essstörung, Zustand nach mehreren Bandscheibenvorfällen, Zustand nach Bandscheibenoperation, Schmerzen im Steißbein und Analbereich, Migräne, Pollinosis, Neurodermitis und Adipositas eingeholt. Schließlich hat es die Klägerin durch die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie, Diplompsychologin Dr. P. unter der Fragestellung begutachten lassen, ob die in dem Arztbrief des Dr. D. und dem Entlassungsbericht der H.-Klinik genannten Diagnosen Schädigungsfolgen der Gewalterfahrungen der Klägerin in der Zeit von 1973 bis 1987 sind, wie hoch die MdE wegen der Schädigungsfolgen ab Mai 2002 ist und ob die Klägerin wesentlich mitwirkend aufgrund der Schädigungsfolgen in der Zeit von Mai 2002 bis November 2003 trotz Unterstützung durch ihre Prozessbevollmächtigte daran gehindert gewesen sei, einen Antrag nach dem OEG bei der Beklagten zu stellen. In ihrem nach Untersuchung der Klägerin am 17. Januar 2008 erstellten schriftlichen Gutachten vom 13. September 2008 ist die medizinische Sachverständige im Anschluss an die Begutachtung durch Dr. R. zusammenfassend zu der Ansicht gelangt, dass die Klägerin seit ihrer frühesten Kindheit bis zum 17. Lebensjahr ununterbrochen massiven körperlichen, einschließlich sexuellen und psychischen Gewalttätigkeiten des Vaters ausgesetzt gewesen sei. Es sei zu regelmäßigen (wohl überwiegend analen) Vergewaltigungen, offenbar auch zu erzwungenem Oralverkehr, zu Erstickungs- und Strangulationshandlungen mit Tötungsandrohung, zu schweren Prügeln gekommen, so dass eine unentrinnbare Foltersituation entstanden sei. Diese Lebensumstände hätten die Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin nahezu ausschließlich bestimmt. Man könne insoweit von einer posttraumatischen Entwicklungsstörung sprechen, die zu Verankerungen traumatischen Erlebens in der Persönlichkeit sowie zu Prägungen des Bindungsverhaltens geführt hätten. Die Klägerin habe nie die Möglichkeit gehabt, eine eigene Persönlichkeit und Identität zu entwickeln. So habe sich eine schwere emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ entwickelt. Diese sei direkte Schädigungsfolge. Daneben sei es durch die Traumatisierungen während der Kindheit und Jugend zu einer psychischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen. Die daneben in dem Entlassungsbericht der H.-Klinik genannten Diagnosen psychischer Erkrankungen stellten Teilaspekte der psychischen Grunderkrankungen dar. Die beschriebenen psychischen Schädigungsfolgen seien mit einer MdE von 70 vom Hundert zu bewerten, weil es sich um eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten handele. Letztlich sei die Klägerin auch wesentlich mitwirkend aufgrund der Schädigungsfolgen gehindert gewesen, trotz Unterstützung durch die Prozessbevollmächtigte vom Mai 2002 bis November 2003 einen Antrag nach dem OEG zu stellen. Denn seinerzeit sei sie noch nicht adäquat behandelt worden und habe deshalb nachvollziehbar Schwierigkeiten gehabt, sich mit ihren belastenden Erinnerungen auseinanderzusetzen. Dies sei jedoch Vorbedingung für eine Antragstellung, da die Betroffenen hierbei ihre Erlebnisse schriftlich niederlegen müssten. Dies gelte trotz Unterstützung durch die Rechtsanwältin. Der durch die Klägerin selbst zu leistende Anteil habe diese erkennbar überfordert.
Der Beklagte hat unter Berufung auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. ein Vergleichsangebot als Teilanerkenntnis dahingehend unterbreitet, dass als Schä¬di¬-gungs¬folgen eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Persönlichkeitsstörung anerkannt werden und der Grad der Schädigungsfolgen ab 1. November 2003 auf 70 vom Hundert festgesetzt wird. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Klägerin gehindert gewesen sein sollte, zumindest mit Hilfe ihrer Prozessbevollmächtigten den Antrag früher zu stellen. Denn die Klägerin habe im November 2002 einen neun Seiten langen Bericht verfasst, welcher dem Gutachten des Dr. L. beigefügt war und offenbar in dem vorliegenden Verfahren nicht vorliege. Die Klägerin hat darauf durch ihre Prozessbevollmächtigte vortragen lassen, dass sie gehindert gewesen sei, den Antrag früher zu stellen. Mit der Prozessbevollmächtigten seien weitere Schritte vereinbart worden, jedoch habe sie sich dort nicht mehr gemeldet und sei von dieser auch nicht erreicht worden. Von ihrer Mutter – so die Prozessbevollmächtigte – sei schließlich zu erfahren gewesen, dass der Tochter die Auseinandersetzung mit dem Geschehen so zugesetzt habe, dass sie nicht habe weitermachen können. Erst ein knappes Jahr später sei es soweit gewesen. Erst am 30. Oktober 2003 habe sie sich wieder gemeldet.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 26. März 2009 hat die Klägerin erklärt, den an Dr. L. weitergegebenen Bericht im November 2002 fertiggestellt zu haben. Für seine Erstellung habe sie 2 – 3 Monate gebraucht. Einer besonderen Unterstützung habe sie dabei nicht bedurft. Die mit dem OEG-Antrag eingereichten Aufzeichnungen habe sie im Zeitraum von November 2002 bis Oktober 2003 geschrieben. Sie hat das Teilanerkenntnisses angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt. Nach Verzicht der Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung hat das Sozialgericht durch an Verkündung Statt am 10. Februar 2010 dem Beklagten zugestelltes Urteil diesen verurteilt, der Klägerin bereits ab Mai 2002 Leistungen nach dem OEG zu gewähren, weil die Klägerin aufgrund der Schädigungsfolgen ohne ihr Verschulden gehindert gewesen sei, den Antrag vor November 2003 zu stellen. Die Klägerin habe glaubhaft bekundet, sie habe Todesangst gehabt, dass ihr Vater sie finden könne und befürchtet, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater eingeleitet werden könne. Deshalb sei sie gehindert gewesen sei, nähere Einzelheiten zum körperlichen und sexuellen Missbrauch aufzuschreiben.
Der Beklagte hat am 1. März 2010 Berufung eingelegt und trägt zur Begründung vor, schon die erteilte Vollmacht hätte ausgereicht, den OEG-Antrag zumindest fristwahrend zu stellen. Die nähere Begründung hätte nachgereicht werden können. Eine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG liege nicht vor. Kosten des ersten Rechtszuges seien von dem Beklagten nur zu einem Drittel zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 19. November 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie tritt der Berufung unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens entgegen. Die bei ihr vorliegenden Hemmnisse gegenüber der Antragstellung hätten Krankheitswert besessen, weshalb die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht vorlägen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und im Übrigen zulässig, namentlich fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.
Sie ist auch begründet. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, Beschädigtenversorgung für von dem Klagantrag erfasste Zeiträume vor November 2003 zu zahlen.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Die Jahresfrist wird nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG wiederum um den Zeitraum verlängert, in dem eine unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), vgl. Urteil vom 30. September 2009 – B 9 VG 3/08 R).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts lagen die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht (mehr) vor, als die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigte am 24. November 2003 den Antrag nach dem OEG bei dem Versorgungsamt S1 stellte. Denn nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) war die Klägerin ausgehend vom Eintritt des schädigenden Ereignisses spätestens im Jahr 1987, und zwar vor dem Verlassen des Elternhauses, jedenfalls im Oktober 2002, als sie ihre Prozessbevollmächtigte mit der Wahrnehmung ihrer Interessen in dem vorliegenden Verfahren beauftragte, nicht mehr ohne ihr Verschulden gehindert, Leistungen der Beschädigtenversorgung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 9, §§ 10 ff, §§ 29 ff BVG zu beantragen.
Nach den von der Rechtsprechung zu § 67 Abs. 1 Satz 2 SGG entwickelten Grundsätzen (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig/keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz 10. Aufl. 2012, § 67 Rn. 3 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung) liegt ein Verschulden bei der Versäumung einer gesetzlichen Frist nur dann nicht vor, wenn der Prozessführende oder sein Vertreter die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Für die Vorwerfbarkeit sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäfts-gewandtheit zu berücksichtigen. Schließlich muss das Verschulden für das Fristversäumnis ursächlich gewesen sein. Diese Grundsätze bieten auch für § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG brauchbare Beurteilungskriterien (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R). Ihre Anwendung ergibt, dass die in § 60 Abs. 1 Satz 1-3 BVG bestimmte Frist abgelaufen war, als der Antrag auf Beschädigtenversorgung bei dem Versorgungsamt S1 einging.
Wie die Klägerin selbst im Verwaltungsverfahren berichtet hat, war sie etwa 1993 erstmalig auf "Erinnerungsfetzen" aus ihrer Kindheit gestoßen, die eine Erklärung ihrer vielfältigen gesundheitlichen Störungen bilden konnten. Während einer von 1997 – 2002 andauernden Psychotherapie habe sie – so die Klägerin gegenüber der medizinischen Sachverständigen R. – dann gelernt "viele Dinge einordnen" zu können. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hatte sie sich schließlich im Mai 2002 mit Hilfe ihrer Mutter daran gemacht, die in der Kindheit erlittenen Schädigungen darzustellen. Ein OEG-Antragsformular hatte die Mutter besorgt. In diese Zeit fällt auch die erste Kontaktaufnahme mit der Prozessbevollmächtigten, die dann am 22. Oktober 2002 in einem Besprechungstermin und in der Vollmachterteilung für das OEG-Verfahren gipfelte. In Würdigung dieser Umstände ist davon auszugehen, dass ein Absehen von der Antragstellung ab Mai 2002, spätestens aber ab Oktober 2002 der Klägerin als schuldhaftes Versäumnis der Antragsfrist vorzuhalten ist. Denn innerhalb dieses Zeitraumes lag für die Klägerin klar zutage, welches Unrecht an ihr begangen worden war und es bedurfte nur noch der entsprechenden Antragstellung. Diese hätte bei Vermeidung des Schuldvorwurfs spätestens im Oktober erfolgen müssen. Wenn die Klägerin unter Berufung auf die Einschätzung der medizinischen Sachverständigen P. meint, sie sei aber noch bis November 2003 krankheitshalber gehindert gewesen, den beschrittenen Weg weiter zu gehen und sich namentlich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, dann kann sie hiermit kein Gehör finden. Denn parallel zu dem OEG-Verfahren hat sie ein auf die Gewährung einer Rente wegen Erwersbminderung gerichtetes Verfahren betrieben und sie hat in diesem Verfahren die offenbar für das OEG-Verfahren bestimmte Ausarbeitung zu den Geschehnissen ihrer Kindheit vorgelegt, welche sie nach eigenem Bekunden bereits im November 2002 fertiggestellt hatte. Nichts hätte näher gelegen, als diese im Mai 2002 begonnene Ausarbeitung der Prozessbevollmächtigten – gegebenenfalls in der Fassung, welche sie 21. Oktober 2002 aufwies – zu übergeben und so auch dieses Verfahren voran zu bringen. Der Inhalt der Ausarbeitung belegt zudem, dass die Einschätzung der medizinischen Sachverständigen Dr. P. unzutreffend ist. Diese fußt auf offensichtlich falschen tatsächlichen Voraussetzungen.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hätte es für die Antragstellung auch weder eines unterschriebenen Formulars, noch einer näheren Darstellung des Sachverhalts bedurft. Vielmehr ist die Antragstellung formlos möglich, der Antrag kann auch zu Protokoll des Versorgungsamtes gestellt werden (§ 1 Abs. 1 OEG i.V.m. den Regelungen des BVG, § 6 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung); das Versorgungsamt hat darauf hinzuwirken, dass ein unklarer Antrag ergänzt wird.
Es kann die Klägerin schließlich nicht entlasten, dass sie von ihrer Prozessbevollmächtigten hinsichtlich der Erfordernisse der Antragstellung womöglich falsch beraten wurde. Deren Verschulden ist ihr vielmehr entsprechend der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) getroffenen Regelung zuzurechnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache. Da die Klägerin im ersten Rechtszug ganz überwiegend obsiegt hat und im zweiten Rechtszug nur mit dem verbliebenen geringen Anteil unterlegen ist, erschien es billig, die Kostenentscheidung des Sozialgerichts aufrecht zu erhalten. Die für den zweiten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten hat die Klägerin danach allerdings vollen Umfanges selbst zu tragen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist der Beginn der Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) streitig.
Am 24. November 2003 ging bei dem Versorgungamt in S1 ein Schreiben der Prozessbevollmächtigten der am XXXXX 1970 geborenen Klägerin ein, mit dem für diese unter Vorlage einer bereits ein Jahr zuvor, nämlich am 21. Oktober 2002, von der Klägerin unterzeichneten Verfahrensvollmacht und Beifügung eines erst am 28. Oktober 2003 ebenfalls von dieser unterzeichneten amtlichen Antragsformulars Versorgung für Geschädigte nach dem OEG beantragt wurde, weil die Klägerin von etwa 1973-1987 am Wohnort ihrer Eltern in S1 von ihrem Vater gequält, misshandelt und vor allem sexuell missbraucht worden sei. Beigefügt waren insgesamt acht undatierte, maschinenschriftlich erstellte Seiten Text, auf denen mit Bezug zu den Abschnitten des Antragsformulars der Hergang der Tat und die erlittenen Gesundheitsstörungen geschildert wurden. In dem anwaltlichen Schreiben führt die Prozessbevollmächtigte weiter aus, ihre Mandantin arbeite seit Mai vorigen Jahres daran, diesen Antrag zu stellen. Zweimal habe sie ihre Bemühungen abbrechen müssen, weil sie die Auseinandersetzung mit dem Anlassgeschehen nicht ausgehalten habe. Dementsprechend enthalte das Antragsformular nun veraltete und neue Daten, jedoch seien die aktuellen Daten als solche erkennbar.
Bereits mit Bescheid vom 6. Oktober 2003 war der Klägerin auf ihren (neuerlichen) Rentenantrag vom 18. Januar 2003 und auf der Grundlage eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L., der die Klägerin am 12. März 2003 untersucht und sie wegen Regressionsverhaltens bei emotional instabiler Persönlichkeit vom Borderlinetyp, Adipositas per magna und LWS-Syndrom für nur noch in der Lage gehalten hatte, vier Stunden täglich erwerbstätig zu sein, durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Mai 2003 bewilligt worden. Gegenüber dem Gutachter hatte die Klägerin angegeben, seit dem Alter von drei Jahren von ihrem Vater sexuell missbraucht worden zu sein. So habe sie die schlimmsten sexuellen Praktiken über sich ergehen lassen müssen, an denen sich auch ihr Bruder, als dieser 14 Jahre alt gewesen sei, beteiligt habe. Zum Geschlechtsverkehr sei es jedoch nur mit dem Vater gekommen. In seinem Gutachten weist der medizinische Sachverständige zum Lebenslauf der Probandin auf einen beigefügten neun Seiten langen, maschinenschriftlichen Bericht "Antrag auf Bezahlung der Therapie nach geltendem Opferentschädigungsrecht" vom November 2002 hin, in dem die Klägerin den Vorwurf erhebt, dass ihr Vater sie sexuell missbraucht habe, seit sie etwa drei Jahre alt gewesen ist, und wo sie die Auffassung vertritt, dass ihre Gesundheitsstörungen auf den kindlichen Missbrauch zurückzuführen seien.
Das Versorgungsamt holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Die praktische Ärztin Dr. G1 gab unter dem 10. Dezember 2003 an, die Klägerin sei zuletzt am 17. September 2001 unter den Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Zustand nach mehrfachem Bandscheibenvorfall, Essstörung, Adipositas und Depression in ihrer Behandlung gewesen. Die Fachärztin für Psychiatrie Dr. S., bei der die Klägerin vom 27. Juli 2000 bis zum 16. August 2001 in Behandlung war, berichtete unter dem 17. Dezember 2003, die Klägerin leide unter täglichen Essattacken, schweren Antriebsstörungen mit sozialem Rückzug und Problemen bei der Tagesstrukturierung und Wohnungspflege, agarophobischen und sozialen Ängsten bis hin zu Panikattacken, wenn die Patientin sich ausgeliefert fühle. Es sei eine hochgradige Reizoffenheit sichtbar geworden, die den Lebensradius der Patientin einschränke und Kontakte außerhalb ihrer Wohnung auf wenige Personen und Einkäufe lebensnotwendiger Dinge beschränke. Durchgängig sei auch eine hochgradige Affektlabilität sowie eine depressive Stimmungslage festgestellt worden. Zudem habe es Hinweise auf dissoziative Zustände und eine Neigung zu psychosomatischen Reaktionen und Schlafstörungen gegeben. Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. F., bei dem die Klägerin vom 16. September 2002 bis zum März 2003 in Behandlung war, wies in seinem Bericht vom 16. Dezember 2003 unter anderem auf eine schwere Persönlichkeitsstörung bei Traumatisierungen in der Kindheit hin. Er gab weiter an, dass bis zum Ende der im Wesentlichen aus situationsregulierenden Gesprächen bestehenden Behandlung keine Stabilisierung und Besserung im Befinden der Patientin mit Erarbeitung einer ausreichenden Zukunftsperspektive zu erkennen gewesen sei.
Der Beklagte veranlasste eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung im Wege der Amtshilfe durch das Versorgungsamt Hamburg, welches die Fachärztin für Psychiatrie Dr. R. mit der Untersuchung und schriftlichen Begutachtung der Klägerin beauftragte. Sie stellte eine posttraumatische Belastungsstörung als Folge sexuellen Missbrauchs durch den leiblichen Vater fest und schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 40 vom Hundert ab 2000 ein.
Mit Erstanerkennungsbescheid vom 13. Juni 2005 stellte das Versorgungsamt S1 fest, dass die Klägerin zwischen 1973 bis 1987 das Opfer einer Gewalttat im Sinne des OEG geworden ist, anerkannte als Folge dieser Schädigung eine posttraumatische Belastungsstörung, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG, und zuerkannte Beschädigtenversorgung in Gestalt einer Grundrente nach einer MdE von 40 vom Hundert ab 1. November 2003. Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 19. Juli 2005 erhob die Klägerin Widerspruch, soweit ihr Wirbelsäulenleiden nicht als Schädigungsfolge anerkannt, soweit die MdE lediglich mit 40 vom Hundert bemessen und soweit Grundrente erst ab 1. November 2003 und nicht bereits ab Mai 2002 bewilligt wurde. Es liege ein Fall des § 60 Abs. 1 Satz 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG) vor. Zwar habe sie – so die Prozessbevollmächtigte – selbst die Klägerin bereits im Oktober 2002 gesehen. Aus dieser Zeit stamme die vorgelegte Vollmacht. Erst im Oktober 2003 habe aber die Mandantin vollständige Unterlagen präsentieren und vor allem den Gedanken aushalten können, dass Fremde ihre Schilderung lesen, würdigen und womöglich auch ihren Vater mit den Vorwürfen konfrontieren würden.
Das Regierungspräsidium S1 – Landesversorgungsamt – als Widerspruchsbehörde zog die Unterlagen der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte und hier namentlich das Gutachten des Dr. L. vom 17. März 2003 bei und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2005 zurück. Es habe unter Berücksichtigung der eingeholten Befundberichte nicht festgestellt werden können, dass die Klägerin wegen seelischer Störungen außerstande gewesen ist, bereits im Mai 2002 einen OEG-Antrag zu stellen. Die Durchschnitts-MdE von 40 vom Hundert habe mit Wahrscheinlichkeit bereits seit dem Jahre 2000 vorgelegen. Weitere Gesundheitsstörungen als die anerkannten seien nicht Schädigungsfolge.
Daraufhin hat die Klägerin fristgerecht Klage erhoben, mit der sie die Anerkennung einer durch die Schädigungsfolgen bedingten MdE von mehr als 40 vom Hundert sowie entsprechende Beschädigtenversorgung, und zwar zu einem früheren als dem zuerkannten Zeitpunkt, jedenfalls aber ab Mai 2002, begehrt hat. Sie hat vorgetragen, im Mai 2002 einen ersten Anlauf zur Stellung eines Antrages auf Leistungen nach dem Opferent¬schädigungsgesetz unternommen zu haben. Weil sie die Auseinandersetzung mit dem Anlassgeschehen, dem sexuellen Missbrauch und den Misshandlungen in Kindheit und Jugend, nicht ausgehalten habe, habe sie ihre Bemühungen zunächst abbrechen müssen. Im Oktober 2002 sei ein weiterer Versuch gescheitert. Erst im November 2003 sei sie in der Lage gewesen, einen relevanten Sachverhalt schriftlich darzustellen und ihren Bericht auch aus der Hand zu geben. Bis heute habe sie panische Angst davor, dass der Täter, ihr Vater, ihre derzeitige Anschrift erfahre. Zwar sei sie nicht grundsätzlich gehindert gewesen, ein Formular auszufüllen. Jedoch sei es hier um mehr gegangen. Sie habe schildern sollen, was passiert sei. Bei dem ersten Versuch im Mai 2002 seien aber so schlimme Ängste aufgekommen, dass sie habe abbrechen müssen. Ihre Mutter habe diese Bemühungen miterlebt. Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Akte zweimal weggelegt, bevor im November 2003 dann doch noch der Antrag habe auf den Weg gebracht werden können.
Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des Arztes für Psychiatrie D. eingeholt, der am 3. März 2006 davon berichtet hat, dass die Klägerin seit dem 27. Mai 2003 in seiner nervenärztlichen Behandlung sei und der die Diagnosen akute Belastungsreaktion, post-traumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Angst und Depression gemischt, rezidivierende Panikstörung, Essattacken mit Adipositas, schwere, nicht organische Insomnie, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psy¬cho-tische Symptome, vielfältige somatoforme Störung, emotional instabile Persönlichkeit, rezidivierende Bandscheibenvorfälle, abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle mit überwiegend autoaggressiven Tendenzen mitgeteilt hat. Des Weiteren hat das Sozialgericht einen Befundbericht der Fachärztin für physikalische und rehabilitative Medizin Dr. M. eingeholt, bei der die Klägerin seit 18. November 2004 in Behandlung war. Es hat ferner den Entlassungsbericht der H.-Klinik in K. über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 17. Oktober bis 28. November 2006 unter den Diagnosen komplexe posttraumatische Belastungsstörung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige depressive Episode, Panikstörungen, Essstörung, Zustand nach mehreren Bandscheibenvorfällen, Zustand nach Bandscheibenoperation, Schmerzen im Steißbein und Analbereich, Migräne, Pollinosis, Neurodermitis und Adipositas eingeholt. Schließlich hat es die Klägerin durch die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie, Diplompsychologin Dr. P. unter der Fragestellung begutachten lassen, ob die in dem Arztbrief des Dr. D. und dem Entlassungsbericht der H.-Klinik genannten Diagnosen Schädigungsfolgen der Gewalterfahrungen der Klägerin in der Zeit von 1973 bis 1987 sind, wie hoch die MdE wegen der Schädigungsfolgen ab Mai 2002 ist und ob die Klägerin wesentlich mitwirkend aufgrund der Schädigungsfolgen in der Zeit von Mai 2002 bis November 2003 trotz Unterstützung durch ihre Prozessbevollmächtigte daran gehindert gewesen sei, einen Antrag nach dem OEG bei der Beklagten zu stellen. In ihrem nach Untersuchung der Klägerin am 17. Januar 2008 erstellten schriftlichen Gutachten vom 13. September 2008 ist die medizinische Sachverständige im Anschluss an die Begutachtung durch Dr. R. zusammenfassend zu der Ansicht gelangt, dass die Klägerin seit ihrer frühesten Kindheit bis zum 17. Lebensjahr ununterbrochen massiven körperlichen, einschließlich sexuellen und psychischen Gewalttätigkeiten des Vaters ausgesetzt gewesen sei. Es sei zu regelmäßigen (wohl überwiegend analen) Vergewaltigungen, offenbar auch zu erzwungenem Oralverkehr, zu Erstickungs- und Strangulationshandlungen mit Tötungsandrohung, zu schweren Prügeln gekommen, so dass eine unentrinnbare Foltersituation entstanden sei. Diese Lebensumstände hätten die Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin nahezu ausschließlich bestimmt. Man könne insoweit von einer posttraumatischen Entwicklungsstörung sprechen, die zu Verankerungen traumatischen Erlebens in der Persönlichkeit sowie zu Prägungen des Bindungsverhaltens geführt hätten. Die Klägerin habe nie die Möglichkeit gehabt, eine eigene Persönlichkeit und Identität zu entwickeln. So habe sich eine schwere emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ entwickelt. Diese sei direkte Schädigungsfolge. Daneben sei es durch die Traumatisierungen während der Kindheit und Jugend zu einer psychischen Störung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung gekommen. Die daneben in dem Entlassungsbericht der H.-Klinik genannten Diagnosen psychischer Erkrankungen stellten Teilaspekte der psychischen Grunderkrankungen dar. Die beschriebenen psychischen Schädigungsfolgen seien mit einer MdE von 70 vom Hundert zu bewerten, weil es sich um eine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten handele. Letztlich sei die Klägerin auch wesentlich mitwirkend aufgrund der Schädigungsfolgen gehindert gewesen, trotz Unterstützung durch die Prozessbevollmächtigte vom Mai 2002 bis November 2003 einen Antrag nach dem OEG zu stellen. Denn seinerzeit sei sie noch nicht adäquat behandelt worden und habe deshalb nachvollziehbar Schwierigkeiten gehabt, sich mit ihren belastenden Erinnerungen auseinanderzusetzen. Dies sei jedoch Vorbedingung für eine Antragstellung, da die Betroffenen hierbei ihre Erlebnisse schriftlich niederlegen müssten. Dies gelte trotz Unterstützung durch die Rechtsanwältin. Der durch die Klägerin selbst zu leistende Anteil habe diese erkennbar überfordert.
Der Beklagte hat unter Berufung auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. G. ein Vergleichsangebot als Teilanerkenntnis dahingehend unterbreitet, dass als Schä¬di¬-gungs¬folgen eine posttraumatische Belastungsstörung und eine Persönlichkeitsstörung anerkannt werden und der Grad der Schädigungsfolgen ab 1. November 2003 auf 70 vom Hundert festgesetzt wird. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Klägerin gehindert gewesen sein sollte, zumindest mit Hilfe ihrer Prozessbevollmächtigten den Antrag früher zu stellen. Denn die Klägerin habe im November 2002 einen neun Seiten langen Bericht verfasst, welcher dem Gutachten des Dr. L. beigefügt war und offenbar in dem vorliegenden Verfahren nicht vorliege. Die Klägerin hat darauf durch ihre Prozessbevollmächtigte vortragen lassen, dass sie gehindert gewesen sei, den Antrag früher zu stellen. Mit der Prozessbevollmächtigten seien weitere Schritte vereinbart worden, jedoch habe sie sich dort nicht mehr gemeldet und sei von dieser auch nicht erreicht worden. Von ihrer Mutter – so die Prozessbevollmächtigte – sei schließlich zu erfahren gewesen, dass der Tochter die Auseinandersetzung mit dem Geschehen so zugesetzt habe, dass sie nicht habe weitermachen können. Erst ein knappes Jahr später sei es soweit gewesen. Erst am 30. Oktober 2003 habe sie sich wieder gemeldet.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 26. März 2009 hat die Klägerin erklärt, den an Dr. L. weitergegebenen Bericht im November 2002 fertiggestellt zu haben. Für seine Erstellung habe sie 2 – 3 Monate gebraucht. Einer besonderen Unterstützung habe sie dabei nicht bedurft. Die mit dem OEG-Antrag eingereichten Aufzeichnungen habe sie im Zeitraum von November 2002 bis Oktober 2003 geschrieben. Sie hat das Teilanerkenntnisses angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt. Nach Verzicht der Beteiligten auf weitere mündliche Verhandlung hat das Sozialgericht durch an Verkündung Statt am 10. Februar 2010 dem Beklagten zugestelltes Urteil diesen verurteilt, der Klägerin bereits ab Mai 2002 Leistungen nach dem OEG zu gewähren, weil die Klägerin aufgrund der Schädigungsfolgen ohne ihr Verschulden gehindert gewesen sei, den Antrag vor November 2003 zu stellen. Die Klägerin habe glaubhaft bekundet, sie habe Todesangst gehabt, dass ihr Vater sie finden könne und befürchtet, dass ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater eingeleitet werden könne. Deshalb sei sie gehindert gewesen sei, nähere Einzelheiten zum körperlichen und sexuellen Missbrauch aufzuschreiben.
Der Beklagte hat am 1. März 2010 Berufung eingelegt und trägt zur Begründung vor, schon die erteilte Vollmacht hätte ausgereicht, den OEG-Antrag zumindest fristwahrend zu stellen. Die nähere Begründung hätte nachgereicht werden können. Eine Verhinderung im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG liege nicht vor. Kosten des ersten Rechtszuges seien von dem Beklagten nur zu einem Drittel zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 19. November 2009 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie tritt der Berufung unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens entgegen. Die bei ihr vorliegenden Hemmnisse gegenüber der Antragstellung hätten Krankheitswert besessen, weshalb die Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht vorlägen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die ausweislich der Niederschrift über die öffentliche Senatssitzung zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts ist nach §§ 143, 144 SGG statthaft und im Übrigen zulässig, namentlich fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden.
Sie ist auch begründet. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, Beschädigtenversorgung für von dem Klagantrag erfasste Zeiträume vor November 2003 zu zahlen.
Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnen auch bei Opfern von Gewalttaten die Leistungen der Beschädigtenversorgung im Grundsatz mit dem Antragsmonat, wenn die sonstigen materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Ausnahmsweise eröffnet § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG eine Rückwirkung, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. Die Jahresfrist wird nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG wiederum um den Zeitraum verlängert, in dem eine unverschuldete Verhinderung der Antragstellung vorlag. Ihrer Wirkung nach ermöglicht die (verlängerte) Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Eintritt der Schädigung (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), vgl. Urteil vom 30. September 2009 – B 9 VG 3/08 R).
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts lagen die Voraussetzungen des Verlängerungstatbestands des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG nicht (mehr) vor, als die Klägerin durch ihre Prozessbevollmächtigte am 24. November 2003 den Antrag nach dem OEG bei dem Versorgungsamt S1 stellte. Denn nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) war die Klägerin ausgehend vom Eintritt des schädigenden Ereignisses spätestens im Jahr 1987, und zwar vor dem Verlassen des Elternhauses, jedenfalls im Oktober 2002, als sie ihre Prozessbevollmächtigte mit der Wahrnehmung ihrer Interessen in dem vorliegenden Verfahren beauftragte, nicht mehr ohne ihr Verschulden gehindert, Leistungen der Beschädigtenversorgung nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 9, §§ 10 ff, §§ 29 ff BVG zu beantragen.
Nach den von der Rechtsprechung zu § 67 Abs. 1 Satz 2 SGG entwickelten Grundsätzen (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig/keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz 10. Aufl. 2012, § 67 Rn. 3 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung) liegt ein Verschulden bei der Versäumung einer gesetzlichen Frist nur dann nicht vor, wenn der Prozessführende oder sein Vertreter die nach den Umständen des Falles zu erwartende zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Für die Vorwerfbarkeit sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäfts-gewandtheit zu berücksichtigen. Schließlich muss das Verschulden für das Fristversäumnis ursächlich gewesen sein. Diese Grundsätze bieten auch für § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG brauchbare Beurteilungskriterien (vgl. BSG, Urteil vom 15. August 2000 – B 9 VG 1/99 R). Ihre Anwendung ergibt, dass die in § 60 Abs. 1 Satz 1-3 BVG bestimmte Frist abgelaufen war, als der Antrag auf Beschädigtenversorgung bei dem Versorgungsamt S1 einging.
Wie die Klägerin selbst im Verwaltungsverfahren berichtet hat, war sie etwa 1993 erstmalig auf "Erinnerungsfetzen" aus ihrer Kindheit gestoßen, die eine Erklärung ihrer vielfältigen gesundheitlichen Störungen bilden konnten. Während einer von 1997 – 2002 andauernden Psychotherapie habe sie – so die Klägerin gegenüber der medizinischen Sachverständigen R. – dann gelernt "viele Dinge einordnen" zu können. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hatte sie sich schließlich im Mai 2002 mit Hilfe ihrer Mutter daran gemacht, die in der Kindheit erlittenen Schädigungen darzustellen. Ein OEG-Antragsformular hatte die Mutter besorgt. In diese Zeit fällt auch die erste Kontaktaufnahme mit der Prozessbevollmächtigten, die dann am 22. Oktober 2002 in einem Besprechungstermin und in der Vollmachterteilung für das OEG-Verfahren gipfelte. In Würdigung dieser Umstände ist davon auszugehen, dass ein Absehen von der Antragstellung ab Mai 2002, spätestens aber ab Oktober 2002 der Klägerin als schuldhaftes Versäumnis der Antragsfrist vorzuhalten ist. Denn innerhalb dieses Zeitraumes lag für die Klägerin klar zutage, welches Unrecht an ihr begangen worden war und es bedurfte nur noch der entsprechenden Antragstellung. Diese hätte bei Vermeidung des Schuldvorwurfs spätestens im Oktober erfolgen müssen. Wenn die Klägerin unter Berufung auf die Einschätzung der medizinischen Sachverständigen P. meint, sie sei aber noch bis November 2003 krankheitshalber gehindert gewesen, den beschrittenen Weg weiter zu gehen und sich namentlich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen, dann kann sie hiermit kein Gehör finden. Denn parallel zu dem OEG-Verfahren hat sie ein auf die Gewährung einer Rente wegen Erwersbminderung gerichtetes Verfahren betrieben und sie hat in diesem Verfahren die offenbar für das OEG-Verfahren bestimmte Ausarbeitung zu den Geschehnissen ihrer Kindheit vorgelegt, welche sie nach eigenem Bekunden bereits im November 2002 fertiggestellt hatte. Nichts hätte näher gelegen, als diese im Mai 2002 begonnene Ausarbeitung der Prozessbevollmächtigten – gegebenenfalls in der Fassung, welche sie 21. Oktober 2002 aufwies – zu übergeben und so auch dieses Verfahren voran zu bringen. Der Inhalt der Ausarbeitung belegt zudem, dass die Einschätzung der medizinischen Sachverständigen Dr. P. unzutreffend ist. Diese fußt auf offensichtlich falschen tatsächlichen Voraussetzungen.
Entgegen dem Vorbringen der Klägerin hätte es für die Antragstellung auch weder eines unterschriebenen Formulars, noch einer näheren Darstellung des Sachverhalts bedurft. Vielmehr ist die Antragstellung formlos möglich, der Antrag kann auch zu Protokoll des Versorgungsamtes gestellt werden (§ 1 Abs. 1 OEG i.V.m. den Regelungen des BVG, § 6 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung); das Versorgungsamt hat darauf hinzuwirken, dass ein unklarer Antrag ergänzt wird.
Es kann die Klägerin schließlich nicht entlasten, dass sie von ihrer Prozessbevollmächtigten hinsichtlich der Erfordernisse der Antragstellung womöglich falsch beraten wurde. Deren Verschulden ist ihr vielmehr entsprechend der in § 27 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) getroffenen Regelung zuzurechnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache. Da die Klägerin im ersten Rechtszug ganz überwiegend obsiegt hat und im zweiten Rechtszug nur mit dem verbliebenen geringen Anteil unterlegen ist, erschien es billig, die Kostenentscheidung des Sozialgerichts aufrecht zu erhalten. Die für den zweiten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten hat die Klägerin danach allerdings vollen Umfanges selbst zu tragen.
Rechtskraft
Aus
Login
HAM
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