L 8 SB 4706/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 17 SB 6593/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4706/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 1. September 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten sind die Neufeststellung des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch - Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie die Anerkennung des Nachteilsausgleiches "G" (erhebliche Gehbehinderung) streitig.

Bei 1950 geborenen Kläger war gemäß Bescheid des Versorgungsamts F. vom 21.03.2002 ein GdB mit 30 seit 08.08.2000 festgestellt. Danach lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor: Bandscheibenschaden operiert, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (Teil-GdB 30), Schwindel, Ohrgeräusche (Teil-GdB 10), Bluthochdruck, coronare Herzkrankheit (Teil-GdB 10), Blutarmut (Teil-GdB 10). Änderungsanträge in den Verfahren 2004 blieben ohne Erfolg (Ablehnungsbescheide vom 21.06.2004 und 15.11.2004).

Am 29.12.2008 stellte der Kläger einen Änderungsantrag, beantragte die Erhöhung des GdB wegen Verschlimmerung der bisher berücksichtigten Gesundheitsstörungen/neu aufgetretener Gesundheitsstörungen und die Feststellung des Merkzeichens "G". Zur Begründung legte er das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. S., W., vom 28.10.2005 vor, das dieser im Rentenverfahren dem Sozialgericht Freiburg (SG, S 12 R 4552/04) erstattet hatte. Dieses Gutachten und weitere Arztberichte wurden mit der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20.03.2009 ausgewertet. Danach sei neben den bekannten Behinderungen eine "Schultergelenksendoprothese rechts" mit einem Teil-GdB von 30 hinzugekommen, weshalb der Gesamt-GdB mit 50 eingeschätzt wurde. Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" seien nicht erfüllt, ortsübliche Wegstrecken könnten zurückgelegt werden.

Mit Bescheid vom 01.04.2009 hob das Landratsamt B.-H. - Versorgungsamt - (VA) den Bescheid vom 21.03.2002 gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf und stellte den GdB mit 50 seit 29.12.2008 fest. Das Merkzeichen "G" habe nicht festgestellt werden können, da die hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Die Prüfung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass folgende Funktionsbeeinträchtigungen vorlägen: Schultergelenksendoprothese rechts (Teil-GdB 30), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschaden operiert, Versteifung von Wirbelsäulen-Abschnitten, Kopfschmerzsyndrom (Teil-GdB 30), Nierenfunktionseinschränkung (Teil-GdB 20), Schwindel, Ohrgeräusche (Tinnitus) (Teil-GdB 10), Blutarmut, koronare Herzkrankheit (Teil-GdB 10), Bluthochdruck (Teil-GdB 10).

Dagegen legte der Bevollmächtigte des Klägers (Rentenberater E.; im folgenden: RB E. -) Widerspruch ein, den er jedoch trotz Erinnerung nicht begründete.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2009 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.

Dagegen erhob RB E. am 22. Dezember 2009 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) und kündigte an, Anträge und Begründung würden nachgereicht werden.

Mit den gerichtlichen Schreiben vom 25.03.2010 und 08.06.2010 wurde RB En an die Einreichung der Klagebegründung erinnert. Mit gerichtlichem Schreiben vom 29.07.2010 wurde RB E. darauf hingewiesen, dass beabsichtigt sei, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, nachdem trotz mehrfacher Erinnerung weder ein Klageantrag noch eine Klagebegründung eingereicht worden seien

Eine Reaktion auf die gerichtlichen Schreiben ist von RB E. nicht erfolgt.

Mit Gerichtsbescheid vom 01.09.2010 wies das SG die Klage ab. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich, die frist- und formgerecht erhobene Klage sei nicht zulässig, da der durch einen Prozessbevollmächtigten vertretene Kläger im gerichtlichen Verfahren keine Klaganträge gestellt und - wie bereits im Widerspruchsverfahren - keine Begründung vorgelegt habe. Nach Aktenlage vermöge das SG nicht zu erkennen, in welcher Hinsicht sich der Kläger durch die Feststellung des Beklagten im Bescheid vom 01.04.2009 beschwert sehe.

Gegen den - RB E. am 06.09.2010 zugestellten - Gerichtsbescheid hat Rechtsanwalt K. (im folgenden: Bevollmächtigter des Klägers) am 06.10.2010 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, der Kläger begehre die Feststellung eines GdB von wenigstens 60 ab 29.12.2008 und wenigstens 50 "zu einem früheren Zeitpunkt"; außerdem werde vorsorglich beantragt, das Merkzeichen "G" anzuerkennen. Der Kläger sei chronischer Schmerzpatient und bei Dr. B. in Behandlung. Die Nierenfunktionseinschränkung führe zu einer gesamtkörperlichen Schwäche, was auch die Wegefähigkeit beeinträchtige. Mit Schriftsatz vom 21.12.2011 hat der Bevollmächtigte des Klägers auf Anregung des Berichterstatters den Antrag präzisiert.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 1. September 2010 aufzuheben, den Bescheid vom 1. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 2009 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, beim Kläger einen GdB von wenigstens 60 ab 29. Dezember 2008 sowie den Nachteilsausgleich "G" (erhebliche Gehbehinderung) festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat den Orthopäden Dr. H. und den Internisten Dr. B. als sachverständige Zeugen gehört. Dr. H. hat am 15.11.2010 mitgeteilt, der Kläger stehe bei ihm seit 08.07.2005 in regelmäßiger Behandlung. Die schwerwiegendsten Befunde seien die Funktionsbeeinträchtigungen der Schultergelenke, der Lendenwirbelsäule und der Halswirbelsäule. Dr. B. hat mit Schriftsatz vom 01.12.2010 ausgeführt, der Kläger habe sich bei ihm seit 2008 wegen verschiedener Schmerzsyndrome vorgestellt. Die letzte persönliche Konsultation durch den Kläger sei am 29.01.2009 erfolgt.

Der Berichterstatter hat den Kläger in nichtöffentlicher Sitzung am 15.07.2011 angehört. Der Kläger hat zum Sachverhalt vorgetragen, 1988 habe er einen Autounfall gehabt, weshalb die Lendenwirbelsäule LWS 3 bis S1 versteift worden sei. Im Jahr 2002 habe er einen weiteren Autounfall mit Verletzungen an der Halswirbelsäule und am rechten Schultergelenk erlitten. Seines Erachtens müsse der GdB höher als 50 sein. Außerdem begehre er die Feststellung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung). Auch sein Sehvermögen sei beeinträchtigt. Auskunft über Gehbeschwerden könnten die Orthopäden Dr. S., Dr. H. und Dr. E. (Gemeinschaftspraxis) machen.

Der Bevollmächtigte des Klägers hat am 01.08.2011 zwei Berichte des Internisten Dr. I. vom 08.04.2011 und 06.07.2011 vorgelegt. Anschließend ist der Orthopäde Dr. E. als sachverständiger Zeuge gehört worden. Von der Gemeinschaftspraxis Dr. E./Dr. H./ Dr. K./Dr. S. hat sich Dr. C. P. mit Schreiben vom 26.08.2011 gegenüber dem Senat geäußert. Der Kläger werde dort seit 2005 behandelt und die letzte Vorstellung sei am 21.07.2011 gewesen. Eine Schulter-TEP-Implantation rechts sei im Oktober 2008 erfolgt. Am 04.11.2010 sei eine subtotale Innenmeniskusresektion links durchgeführt worden. Hinsichtlich der Gehfähigkeit habe der Kläger ein Schwächegefühl beim Laufen und eine Gangunsicherheit angegeben. Die Fragestellung lasse sich aufgrund des komplexen Krankheitsbildes nicht fundiert beantworten, weshalb eine gutachterliche Abklärung in einer Wirbelsäulenspezialklinik empfohlen werde.

Anschließend hat der Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 15.11.2011 den Befundbericht des L.-Krankenhauses F. - Abteilung für orthopädische Chirurgie - vom 09.11.2011 eingereicht. Der Kläger sei zur Akutschmerztherapie aufgenommen worden und noch am Aufnahmetag sei eine Infiltration C6/C7 links erfolgt. Am Folgetag habe der Patient über eine deutliche Besserung der Beschwerdesymptomatik berichtet, sodass der Patient sich selbständig auf Stationsebene habe mobilisieren können. Bei angepasster Analgetika-Therapie und deutlicher Beschwerdebesserung sei der Patient wieder entlassen worden.

Der Beklagte legte die versorgungsärztlichen Stellungnahmen vom 27.04. und vom 10.11.2011 vor. In Letzterer ist ausgeführt, nach den Befundberichten des Dr. I. werde in Verbindung mit dem Bluthochdruck eine hypertensive Herzerkrankung angegeben. Wegen dieser Organbeteiligung könne man den Bluthochdruck mit der bereits anerkannten koronaren Herzkrankheit bei Anwendung der Nr. 9.3 der versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) mit einem Teil-GdB von 20 statt bisher 10 bewerten. Der bisherige Teil-GdB von 30 für die Schultergelenksendoprothese rechts müsse allerdings bei Anwendung der 3. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 15.12.2010 auf 20 herabgesetzt werden, wie dies bereits Dr. R. in seiner Stellungnahme vom 27.04.2011 festgestellt habe. Ausreichende Gesichtspunkte, an dem bisherigen diesbezüglichen Teil-GdB von 30 festzuhalten, ergäben sich jedenfalls nach gegenwärtiger Lage der Akten nicht. Aus der Auskunft von Fr. Dr. P. vom 26.08.2011 lasse sich auf orthopädischem Gebiet keine Höherbewertung ableiten. Eine anhaltende und GdB-relevante Funktionseinschränkung des Kniegelenks könne aus dieser Auskunft nicht abgeleitet werden. Aus dem kernspintomografischen Befundbericht der Wirbelsäule vom 15.08.2011 von Dr. P. ließen sich ansonsten keine Rückschlüsse auf klinische Funktionseinschränkung der Wirbelsäule ziehen. Nachteilsausgleiche stünden nach wie vor nicht zu, insbesondere ließen sich auch weiterhin die Voraussetzungen für das begehrte Merkzeichen "G" nicht feststellen. Es ergebe sich folgende Gesamtbeurteilung: Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschaden, Versteifung von Wirbelsäulen-Abschnitten, Kopfschmerzsyndrom (Teil-GdB 30); Handgelenksendoprothese rechts (Teil-GdB 20); koronare Herzkrankheit, Bluthochdruck (Teil-GdB 20); Nierenfunktionseinschränkung (Teil-GdB 20); Blutarmut (Teil-GdB 10); Schwindel, Ohrgeräusche (Tinnitus) (Teil-GdB 10). Der Gesamt-GdB werde weiter mit 50 beurteilt.

Der Senat hat von Amts wegen das gerichtliche Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. G., F., vom 16.10.2012 eingeholt, das sich auf eine ambulante klinisch-radiologische Untersuchung des Klägers vom 11.10.2012 stützt. Danach liegen beim Kläger auf orthopädischem Fachgebiet folgende Funktionsbeeinträchtigungen vor:

1. Rezidivierendes Cervikalsyndrom bei mittelschwerer Osteochondrose der HWS und kernspintomographisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall HWK3/4 und HWK6/7 mit sensiblem Wurzelreizsyndrom C8 links mit deutlicher Einschränkung der HWS-Beweglichkeit, 2. rezidivierendes BWS-Syndrom ohne höhergradige Bewegungseinschränkung bei leichter Osteochondrose der mittleren BWS, 3. Zustand nach Spondylodese LWK4-SWK1 mit beginnender Anschlussdekompensation LWK 3/LWK 4 ohne neurologische Ausfallerscheinungen mit deutlicher Bewegungseinschränkung, 4. Einschränkung der Schulterbeweglichkeit rechts bei Zustand nach Versorgung einer Omarthrose mit einer Duromkopfprothese, 5. mittelschwere, medial betonte Gonarthrose links ohne Bewegungseinschränkung, ohne Reizerscheinungen oder Ergüsse, 6. mittelschwere Großzehengrundgelenksarthrose mit Bewegungseinschränkung bei Zustand nach Korrekturosteotomie des 1. Strahls und bekannter Hyperurikämie.

Dr. G. schätzt den GdB bezüglich der Wirbelsäule auf 40, die Einschränkung der Schulterbeweglichkeit rechts bei Zustand nach Versorgung einer Omarthrose mit einer Duromkopfprothese mit 20, die Beschwerden von Seiten des linken Kniegelenkes mit 10 und die Beeinträchtigungen der Beweglichkeit des Großzehengrundgelenkes ebenfalls mit 10 ein. Ein höhergradiges chronifiziertes Schmerzsyndrom liege beim Kläger nicht vor, die Einnahme von Ibuprofen sei ausreichend und eine spezifische Schmerztherapie erfolge derzeit nicht. Bei der körperlichen Untersuchung zeige sich ein zügiges Gehen, die angegebene Ermüdbarkeit sei auf die Spinalkanalstenose LWK3/4 zurückzuführen. Mit entsprechenden Pausen sei der Kläger in der Lage, eine Wegstrecke von 2 km innerhalb einer halben Stunde zurückzulegen. Der Gesamt-GdB wird von Dr. G. auf 50 eingeschätzt.

Der Kläger hat geltend gemacht, der von Dr. G. erhobene Befund sei nicht mehr aktuell. Sein Wirbelsäulenleiden habe sich verschlechtert. Er hat weitere Arztunterlagen vorgelegt (Befundberichte von Dr. S. vom 27.01.2013, vom L.-Krankenhaus F. vom 24.01. und vom 27.02.2013, vom Klinikum K.-L. vom 28.03.2013 mit physiotherapeutischem Bericht vom 28.03.2013).

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 18.03. und 09.04.2013; Schriftsatz des Beklagten vom 15.04.2013).

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten des Beklagten, der Akten des SG Freiburg und der Senatsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 01.04.2009, mit dem der GdB mit 50 seit 29.12.2008 festgestellt und die Anerkennung des Nachteilsausgleiches "G" abgelehnt worden sind, ist rechtmäßig. Nachdem der Klägerbevollmächtigte im Berufungsverfahren seinen Klageantrag konkretisiert hat, hat der Senat in der Sache entscheiden können.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neufeststellung eines höheren GdB ist § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Wesentlich ist eine Änderung dann, wenn sich der GdB um wenigstens 10 erhöht oder vermindert. Im Falle einer solchen Änderung ist der Verwaltungsakt aufzuheben und durch eine zutreffende Bewertung zu ersetzen (vgl. BSG SozR 1300 § 48 SGB X Nr. 29 m.w.N.). Die den einzelnen Behinderungen - welche ihrerseits nicht zum sogenannten Verfügungssatz des Bescheides gehören - zugrunde gelegten Teil-GdB-Sätze erwachsen nicht in Bindungswirkung (BSG, Urteil vom 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 - BSGE 81, 50 bis 54). Hierbei handelt es sich nämlich nur um Bewertungsfaktoren, die wie der hierfür (ausdrücklich) angesetzte Teil-GdB nicht der Bindungswirkung des § 77 SGG unterliegen. Ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, muss durch einen Vergleich des gegenwärtigen Zustandes mit dem bindend festgestellten - früheren - Behinderungszustand ermittelt werden. Dies ist vorliegend der mit Bescheid vom 19.05.2003 mit einem GdB von 30 bewertete Behinderungszustand.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (vgl. Art. 63, 68 des Gesetzes vom 19.06.2001 BGBl. I S. 1046). Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und der aufgrund des § 30 Abs. 17 des BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. In diesem Zusammenhang waren bis zum 31.12.2008 die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1).

Seit 01.01.2009 ist an die Stelle im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung als antizipierte Sachverständigengutachten angewandten AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB. Eine inhaltliche Änderung der bisher angewandten Grundsätze und Kriterien erfolgte hierdurch nicht. Die VG haben vielmehr die AHP - jedenfalls soweit vorliegend relevant - übernommen und damit gewährleistet, dass gegenüber dem bisherigen Feststellungsverfahren keine Schlechterstellung möglich ist. In den VG ist ebenso wie in den AHP (BSG, Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22) der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. zum Vorstehenden auch LSG Baden Württemberg, Urteil vom 19.02.2009 - L 6 SB 4693/08 -).

Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel-GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. Teil A Nr. 3 Seite 10 der VG). Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3-3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP).

Beim Kläger ist gegenüber dem letzten maßgeblichen Bescheid vom 21.03.2002, mit dem der GdB mit 30 festgestellt worden ist, insofern eine Verschlimmerung eingetreten, als Funktionsbeeinträchtigungen wegen der Schultergelenksendoprothese rechts und wegen einer Nierenfunktionseinschränkung hinzugetreten sind. Dies ist durch den Beklagten schon im Verwaltungsverfahren festgestellt worden. Aus dem Arztbericht der H.-R.-Klinik B. vom 13.10.2008 war zu entnehmen, dass beim Kläger am 01.10.2008 eine Implantation einer Humeruskopfprothese rechts erfolgt ist. Diese Funktionsbeeinträchtigung hat der Beklagte mit einem Teil-GdB von 30 bewertet, was nach Überzeugung des Senats nicht zu niedrig beurteilt ist. Unter Anwendung der 3. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 15.12.2010 beträgt der Teil-GdB ab 15.12.2010 für die Schultergelenksendoprothese rechts 20. Da der Teil-GdB-Wert von ursprünglich 30 nicht in Bestandskraft wächst, liegen keine rechtlichen Hindernisse vor, den Teil-GdB für die Schultergelenksendoprothese rechts ab Inkrafttreten der 3. Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 17.12.2010 bis 14.12.2010 mit 30 und anschließend mit 20 festzustellen ( VG Teil B Nr. 18.12).

Aus den Arztberichten des Dr. I. - Facharzt für Innere Medizin - vom 06.07.2011 und vom 08.04.2011 wird in Verbindung mit dem Bluthochdruck eine hypertensive Herzerkrankung berichtet. Deswegen hat der Beklagte zu Recht den Blutdruck zusammen mit der bereits anerkannten koronaren Herzkrankheit mit einem Teil-GdB von 20 statt bisher 10 bewertet.

Unter Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigungen für den Rumpf (Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen, Bandscheibenschaden, Versteifung von Wirbelsäulen-Abschnitten, Kopfschmerzsyndrom) mit einem Teil-GdB von 30, der Schultergelenksendoprothese rechts mit einem Teil-GdB von 20, der koronaren Herzkrankheit und dem Bluthochdruck mit einem Teil-GdB von 20, einer Nierenfunktionseinschränkung mit einem Teil-GdB von 20, der Blutarmut mit einem Teil-GdB von 10 und dem Schwindel einschließlich der Ohrgeräusche mit einem Teil-GdB von 10 beträgt der Gesamt-GdB 50. Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass von der Behinderung mit dem höchsten Einzel-GdB (hier 30 für den Rumpf) auszugehen ist und zu prüfen war, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen größer wird. Unter Berücksichtigung der Schultergelenksendoprothese rechts, der koronaren Herzkrankheit einschließlich des Bluthochdruckes und der Nierenfunktionseinschränkung, welche jeweils mit einem Teil-GdB von 20 bewertet worden sind, hält es der Senat für angemessen, den Gesamt-GdB mit 50 festzustellen. Der Teil-GdB 20 für die Schulterendoprothese hat keine erhöhende Wirkung, da die Schulterendoprothese keine besonderen Probleme hervorruft und die Beeinträchtigung der Schulterbeweglichkeit teilweise durch die GdB-Bewertung für den mittelgradigen Funktionsausfall der HWS (siehe unten) miterfasst ist. Die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. W.vom 10.11.2011 deckt sich mit dieser Bewertung und ist daher für den Senat nachvollziehbar. Die Funktionsbeeinträchtigungen Blutarmut sowie Schwindel mit Ohrgeräuschen, welche jeweils einen Teil-GdB von 10 hervorrufen, wirken sich nach Überzeugung des Senats nicht erhöhend auf den Gesamt-GdB aus.

Das im Berufungsverfahren von Amts wegen eingeholte orthopädische Sachverständigengutachten des Dr. G. vom 16.10.2012 hat den bislang festgestellten Sachverhalt bestätigt. Aufgrund der ambulanten klinisch-radiologischen Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. am 11.10.2012 ist festgestellt worden, dass beim Kläger ein Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen Beschwerden und Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (HWS und LWS) vorliegt. Im Bereich der Halswirbelsäule handelt es sich um ein rezidivierendes Cervikalsyndrom bei mittelschwerer Osteochondrose der HWS und kernspintomographisch nachgewiesenem Bandscheibenvorfall HWK3/4 und HWK6/7 mit sensiblem Wurzelreizsyndrom C8 links mit deutlicher Einschränkung der HWS-Beweglichkeit. Die Nativ-Röntgenuntersuchung zeigte eine mittelschwere Osteochondrose und die mitgebrachten MRT-Bilder ergaben einen Bandscheibenvorfall bei HWK3/4 und HWK6/7. Die HWS-Beweglichkeit war in allen Ebenen deutlich eingeschränkt, wobei bei der Untersuchung keine höhergradige Schmerzsymptomatik angegeben worden ist. Die Gefühlsstörungen im Bereich der Finger 4 und 5 der linken Hand sind nach Beurteilung des gerichtlichen Sachverständigen einer Wurzelirritation im Bereich der Nervenwurzel C8 zuzuordnen, was ebenso von der Neurologin Dr. H. so beurteilt worden war. Eine hierdurch bedingte Störung der Feinmotorik oder eine Kraftminderung im Bereich der oberen Extremität für den Handgebrauch fand sich bei der Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. nicht. Die stärkste Einschränkung im Bereich der Wirbelsäule geht mithin von der Halswirbelsäule aus. Im Bereich der Brustwirbelsäule liegt ein rezidivierendes BWS-Syndrom ohne höhergradige Bewegungseinschränkung bei leichter Osteochondrose der mittleren BWS vor. Das Maß nach Ott war altersentsprechend und ein wesentlicher Wirbelsäulendruck- oder -klopfschmerz im Bereich der Brustwirbelsäule ergab sich nicht bei der Untersuchung durch den gerichtlichen Sachverständigen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule liegt lediglich ein Zustand nach Spondylodese LWK4 - SWK1 mit beginnender Anschlussdekompensation LWK3/LWK4 ohne neurologische Ausfallerscheinungen mit deutlichen Bewegungseinschränkungen vor. In Übereinstimmung mit den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Beeinträchtigungen des Klägers im Bereich der Wirbelsäule um einen "Wirbelsäulenschaden mit mittelgradigen Beschwerden und Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten" (HWS und LWS) handelt, wie dies Dr. G. in seinem Gutachten (Seite 14) dargelegt hat. Soweit Dr. G. hierfür den GdB bezüglich der Wirbelsäule auf 40 eingeschätzt hat, teilt der Senat diese Auffassung jedoch nicht, sondern bewertet den Teil-GdB für die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule mit 30. Nach Nr. 18.9 Teil B VG bedingen Wirbelsäulenschäden, die keine Bewegungseinschränkung oder Instabilität verursachen, einen GdB von 0. Bei geringen funktionellen Auswirkungen wird ein GdB von 10 angenommen, bei mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt, d.h. Verformung, häufig rezidivierenden oder anhaltenden Bewegungseinschränkungen oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierenden und über Tage andauernden Wirbelsäulensyndromen wird ein GdB von 20 angenommen. Ein GdB von 30 ist gerechtfertigt bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt mit z.B. häufig rezidivierenden und Wochen andauernden ausgeprägten Wirbelsäulensyndromen oder bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Beim Kläger liegen "mittelgradige bis schwere" funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten nicht vor, sondern ausschließlich "mittelgradige". Dies ergibt sich eindeutig aus den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. G. (Seite 14 des Gutachtens). Daher ist es nicht gerechtfertigt ist, den GdB-Rahmen (30 bis 40) nach oben auszuschöpfen. Somit bleibt es bei dem Teil-GdB von 30 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule, wie dies auch schon im angefochtenen Bescheid vom 01.04.2009 und der diesem Bescheid zugrundeliegenden versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20.03.2009 (Bl. 243 der Beklagten-Akten) zugrunde gelegt worden ist.

Die vom Kläger vorgelegten Arztunterlagen über Wirbelsäulenbeschwerden und deren Behandlung ab Januar 2013 belegen keinen verschlechterten Behinderungszustand, wie der Kläger meint. Sie begründen keinen höheren Teil-GdB für die Wirbelsäulenerkrankung und damit auch keinen höheren Gesamt-GdB. Ein von dem von Dr. G. erhobenen Befund abweichender organischer Befund wird in den Befundberichten der orthopädischen Praxis Dr. E. und Kollegen, des L.-Krankenhaus und des Klinikums K.-L., die den Zeitraum von Januar bis März 2013 umfassen, nicht beschrieben. Der Teil-GdB-Wert von 30 beinhaltet auch bereits häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome als Ausdruck einer mittelgradigen funktionellen Auswirkung der Wirbelsäulenerkrankung. Die am 20.03.2013 durchgeführte Bandscheibenoperation an der LWS ist erfolgreich verlaufen. Postoperativ zeigten sich keine neurologischen Ausfälle. Radiologisch ergab sich der regelrechte Sitz des vorbestehenden Schrauben-Instrumentariums vom Lendenwirbelkörper 4 bis zum Sakralwirbelkörper 1, ohne Lockerungszeichen (Bericht des Klinikums K.-L. vom 28.03.2013).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens "G". Der streitgegeständliche Bescheid des Beklagten vom 01.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.11.2009 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Gemäß § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 9/9a RVs 1/91 BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 9 RVs 4/95 SozR 3 3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 B 9 SB 3/02 R BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 9a/9 RVs 7/89 BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 1). Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin Verordnung; VersMedV) getreten. Damit hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales von der Ermächtigung nach § 30 Abs. 17 BVG (jetzt § 30 Abs. 16 BVG) zum Erlass einer Rechtsverordnung Gebrauch gemacht und die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG aufgestellt. Nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX gelten diese Maßstäbe auch für die Feststellung des GdB.

Allerdings kann sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens "G" nicht auf die VG (Teil D 1) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthalten weder § 30 Abs. 17 BVG (jetzt: Abs. 16), der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche ist auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich "G" sind damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 L 8 SB 3119/08 und vom 14.08.2009 L 8 SB 1691/08 , beide veröff. in juris und im Internet: www.sozialgerichtsbarkeit.de) und dem ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständigen 6. Senat des LSG Baden Württemberg (vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 L 6 SB 2556/09 , unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 L 3 SB 523/12, unveröffentlicht). Rechtsgrundlage sind daher (für die Zeit ab Inkrafttreten der VG) allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.

Das Tatbestandsmerkmal der im Ortsverkehr üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegten Wegstrecke des § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte (grundlegend BSG Urt. vom 10.12.1987 9a RVs 11/87 , SozR 3870 § 60 Nr. 2; BSG Urteil vom 13.08.1997 9 RVS 1/96 , SozR 3 3870 § 60 Nr. 2) die Bewältigung von Wegstrecken von zwei km in einer halben Stunde ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall. Sowohl die Gesetzesmaterialien zur gleichlautenden Vorgängervorschrift des § 58 Abs. 1 Satz 1 SchwbG 1979 als auch die AHP 1983 (Seite 123, 127f ) enthielten keine Festlegung zur Konkretisierung des Begriffs der im Ortsverkehr üblichen Wegstrecke. Diese Festlegung geht auf eine in der Verwaltungs und Gerichtspraxis gegriffene Größe von zwei km zurück, die als allgemeine Tatsache, welche zur allgemeingültigen Auslegung der genannten Gesetzesvorschrift herangezogen wurde, durch verschiedene Studien (vgl. die Nachweise in BSG Urt. vom 10.12.1987 a.a.O.) bestätigt worden ist. Der außerdem hinzukommende Zeitfaktor enthält den in ständiger Rechtsprechung bestätigten Ansatz einer geringeren Durchschnittsgeschwindigkeit als die von fünf bis sechs km pro Stunde zu erwartende Gehgeschwindigkeit rüstiger Wanderer, da im Ortsverkehr in der Vergleichsgruppe auch langsam Gehende, die noch nicht so erheblich behindert sind wie die Schwerbehinderten, denen das Recht auf unentgeltliche Beförderung zukommt, zu berücksichtigen sind (vgl. BSG Urteil vom 10.12.1987, a.a.O.). Anhaltspunkte dafür, dass infolge des Zeitablaufs sich die Tatsachengrundlage geändert haben könnte, hat der Senat nicht. Der Senat legt daher in ständiger Rechtsprechung (vgl. zuletzt Beschluss vom 02.10.2012 L 8 SB 1914/10 , juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de) diese Erkenntnisse weiter der Auslegung des Tatbestandsmerkmals der ortsüblichen Wegstrecken i.S.v. § 146 Abs. 1 SGB IX zugrunde, auch wenn die entsprechenden Regelungen der VG zu dem Nachteilsausgleich "G" unwirksam sind, wie oben ausgeführt (ebenso der 3. und 6. Senat des LSG Baden Württemberg, Urteile vom 17.07.2012 a.a.O. und vom 04.11.2010 a.a.O.).

Hiervon ausgehend ist nicht erwiesen, dass der Kläger durch die bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen gehindert ist, Wegstrecken im Ortsverkehr (ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall) von maximal 2 km bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Zwar hat der Kläger eine Beeinträchtigung seines Gehvermögens geltend gemacht, da er ab einer Wegstrecke von ca. 500 m stehen bleiben müsse, Funktionseinschränkungen, die das Vorliegen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr plausibel machen, liegen jedoch nach dem Ergebnis der im gerichtlichen Verfahren durchgeführten Ermittlungen nicht vor. Der gerichtliche Sachverständige Dr. G. ist nach Untersuchung des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, dass dieser aufgrund der beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen nicht gehindert ist, eine Strecke von etwa 2 km in einer halben Stunde zurückzulegen. Hierbei hat er auch die beim Kläger bestehende Claudicatio spinalis-Symptomatik berücksichtigt. Diese ist jedoch nach Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen nicht so hochgradig, dass sie eine Wegstrecke von 2 km in einer halben Stunde unmöglich machen würde.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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