S 17 SO 192/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
17
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 17 SO 192/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 25.11.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 06.04.2011 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis zum 09.06.2011 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe von monatlich 332,85 Euro zu bewilligen. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der am 00. Januar 1945 geborene Kläger ist italienischer Staatsbürger und kehrte, nachdem er zuvor aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes in Deutschland unter dem Mai 2005 durch den Kreis W eine nach § 5 des Gesetzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) ausgestellte Freizügigkeitsbescheinigung erhalten hatte, im April 2007 in sein Heimatland Italien zurück. Am 15.07.2010 reist er erneut nach Deutschland ein. Er schloss zum 15.07.2010 einen Mietvertrag über eine 22 m2 große Wohnung zu einem Mietpreis von 200,00 Euro monatlich (einschließlich 50,00 Euro Nebenkosten einschließlich Heizung und Strom). Am 21.07.2010 erlitt der Kläger einen Schlaganfall, aufgrund dessen er über eine Woche stationär in einem Krankenhaus behandelt wurde.

Auf seinen am 30.07.2010 gestellten Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger Grundsicherungsleistungen bis zum 31.10.2010.

Am 09.08.2010 stellte der Kläger bei der Beklagten erneut einen Antrag auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen. Bei seiner an diesem Tag erfolgten persönlichen Vorsprache erklärte er, dass er aufgrund seines erlittenen Schlaganfalles nun nicht mehr in der Lage sei, wie ursprünglich geplant eine Beschäftigung bei einem Pizzabäcker aufzunehmen. Er habe nunmehr noch vor, seinen Rentenantrag zu stellen.

Mit Bescheid vom 25.11.2010 (irrtümlich mit dem Datum vom 25.11.2011 versehen) lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 06.04.2011 zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe nach § 23 Abs. 3 SGB XII keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen, da er nach Deutschland eingereist sei, um Sozialhilfe zu erlangen. Sein in der Bescheinigung vom 22.05.2005 festgestelltes Freizügigkeitsrecht sei durch seinen Wegzug im Jahr 2007 nach Italien per Gesetz erloschen.

Hiergegen hat der Kläger am 11.05.2011 Klage erhoben.

Er behauptet, der Grund für seine Wiedereinreise nach Deutschland am 15.07.2010 sei seine Absicht gewesen, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen und einen Rentenantrag zu stellen. Die Arbeitsaufnahme habe er zuvor bereits verbindlich mit dem Arbeitgeber, Herrn N T, Inhaber der Pizzeria/Cafe F in W, vereinbart. Aufgrund des am 21.07.2010 erlittenen Schlaganfalles habe er die Arbeit jedoch nicht aufnehmen können. Auch ist er der Ansicht, dass sein in der Freizügigkeitsbescheinigung von Mai 2005 festgestelltes Freizügigkeitsrecht nach wie vor bestehe. Dafür spreche auch, dass eine rechtswirksame Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit nicht vorliege. Zur weiteren Klagebegründung legt er eine Bescheinigung seines Vermieters N T vom 09.08.2011 darüber vor, dass die vertraglich vereinbarte Miete bisher nicht geleistet worden ist.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.November 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.April 2011 zu verurteilen, dem Kläger Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) über den 31.Oktober 2010 hinaus bis zum 09.Juni 2011 zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Sie ist der Ansicht, die Freizügigkeitsbescheinigung des Klägers sei aufgrund des Auslandsaufenthaltes des Klägers zwischen April 2007 und Juli 2010 erloschen; eine Aufhebung sei hierfür nicht erforderlich.

Mit Bescheid vom 17.02.2011 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung X dem Kläger rückwirkend ab dem 01.07.2010 eine Regelaltersrente in Höhe von monatlich 226,15 Euro.

Unter dem 24.05.2011 stellt die Beklagte bei dem Kläger den Verlust des Freizügigkeitsrechts fest. Infolge eines rechtlichen Hinweises des Verwaltungsgerichts Düsseldorf anlässlich des diesbezüglichen Rechtsstreits (Az. 22 K 3441/11) nahm die Beklagte den Bescheid vom 24.05.2011 wieder zurück.

Wegen des Sachverhaltes im Einzelnen wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftwechsel, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist begründet.

Der Bescheid vom 25.11.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2011 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger gem. § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Bewilligung von Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich 332,85 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2010 bis zum 09.06.2011.

Gem. § 19 Abs. 2 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den besonderen Voraussetzungen des Vierten Kapitels an Personen zu leisten, die die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 erreicht haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen bestreiten können. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Er hatte in dem hier streitigen Zeitraum ab dem 01.11.2010 bereits das 65. Lebensjahr vollendet und war vor dem 01.01.1947 geboren (vgl. § 41 Abs. 2 SGB XII). Der Kläger ist auch hilfebedürftig im Sinne des § 19 Abs. 2 SGB XII. Denn sein Einkommen in Gestalt des Altersruhegeldes von 226,15 Euro pro Monat reicht nicht aus, seinen grundsicherungsrechtlichen Bedarf in dem streitigen Zeitraum in Höhe von 559,00 Euro (359,00 Euro Regelsatz zuzüglich 200,00 Euro Unterkunftskosten ) zu befriedigen, so dass ein ungedeckter Bedarf in Höhe von 332,85 Euro verbleibt.

Der Kläger verfügt gem. § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII in Verbindung mit § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) in dem streitigen Zeitraum auch über einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Einen gewöhnlichen Aufenthalt hat danach jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, hier erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der Kläger erfüllt in dem streitigen Zeitraum in tatsächlicher Hinsicht diese Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthaltes, da er im Juli 2010 nach Deutschland eingereist ist, um hier eine Arbeit aufzunehmen.

Dabei steht dem Leistungsanspruch des Klägers nicht entgegen, dass er als Italiener nach bundesdeutschem Recht Ausländer ist. Denn auch Ausländer haben nach § 23 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SGB XII Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Dem Grundsicherungsanspruchs des Klägers steht auch nicht der Wortlaut des § 23 Abs. 3 Alt. 1 SGB XII entgegen. Danach haben Ausländer, die eingereist sind, um Sozialhilfe zu erlangen, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Die Vorschrift verlangt einen finalen Zusammenhang zwischen dem Einreiseentschluss und der Inanspruchnahme von Sozialhilfe im Sinne eines ziel- und zweckgerichteten Handelns. Hierfür genügt ein nur fahrlässiges Verhalten bei der Einschätzung der Hilfebedürftigkeit und der Möglichkeit, sich selbst helfen zu können, nicht. Erforderlich ist vielmehr, dass nach den objektiven Umständen mindestens von einem Vorsatz ausgegangen werden kann, der für den Entschluss zur Einreise von prägender Bedeutung gewesen sein muss, ohne dass hierin ein "unlauteres Verhalten" gesehen werden müsste. Der erforderliche Zusammenhang zwischen der Einreise und der missbilligten Inanspruchnahme von Sozialhilfe besteht nicht nur, wenn der Wille Sozialhilfe zu erlangen, der einzige Einreisegrund ist. Beruht die Einreise des Ausländers auf verschiedene Motiven, ist das Erfordernis des finalen Zusammenhanges auch erfüllt, wenn der Zweck der Inanspruchnahme von Sozialhilfe für den Einreiseentschluss von zumindest prägender Bedeutung ist; es genügt aber nicht, dass der Sozialhilfebezug beiläufig verfolgt oder anderen Einreisezwecken untergeordnet und in diesem Sinne nur billigend in Kauf genommen wird (Bundesverwaltungsgericht Urteil vom 04.06.1992 , 5 C 22/87, BVerwGE 90, 212 ff).

Hiervon ausgehend ist bei dem Kläger von einem derartigen finalen Zusammenhang zwischen Einreiseentschluss und Stellung des Antrages auf Leistungen der Grundsicherung nicht auszugehen. Der Entschluss des Klägers zur Einreise nach Deutschland war maßgeblich geprägt von seiner Absicht, eine Arbeit in einer Pizzabäckerei aufzunehmen sowie Rentenleistungen (Altersrente) zu beziehen. Hieraus ergibt sich, dass der Kläger bei Fassung seines Einreiseentschlusses die Möglichkeit des Sozialhilfebezuges allenfalls beiläufig verfolgt hatte bzw. seinen hauptsächlichen Einreisezwecken untergeordnet hatte und dementsprechend einen Sozialhilfebezug allenfalls billigend in Kauf genommen hatte.

Dem Grundsicherungsanspruch des Klägers steht auch nicht der Wortlaut des § 23 Abs. 3 Alt. 2 SGB XII entgegen. Danach haben Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Dieser Leistungsausschuss ist hier nämlich nicht anwendbar, da der Kläger sich auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens ("EFA" vom 11.12.1953, BGBl II 1956, 564) berufen kann (ebenso für die gleichlautende Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II): Bundessozialgericht vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R). Nach Art. 1 EFA,, das unter anderem die Bundesrepublik Deutschland und Italien unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragsschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinen Teil ihres Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen- und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um unmittelbar geltendes Bundesrecht, dessen Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall insbesondere kein jüngeres und deshalb vorrangig anzuwendendes Recht entgegensteht (vgl. BSG a.a.O.).

Bei dem Kläger liegen die o. a. Voraussetzungen des Geleichbehandlungsgebotes nach Art. 1 EFA vor. Denn bei der beanspruchten Grundsicherungsleistung nach § 19 Abs. 2 SGB XII handelt es sich um Fürsorge im Sinne des EFA. Der Kläger hält sich in der Bundesrepublik Deutschland zudem auch erlaubt im Sinne von Art. 1 EFA auf. Nach Art. 11 Abs. a Satz 1 EFA gilt der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragsschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen, in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, aufgrund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Als eine solche Erlaubnis ist auch die Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügigkeitsG/EU anzusehen, die an die Stelle der sogenannten "Aufenthaltserlaubnis-EG" getreten ist (vgl. hierzu mit ausführlicher Begründung BSG a. a. O. Randnr. 37 bis 38). Über eine solche Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügigkeitsG/EU verfügt der Kläger.

Entgegen der Ansicht der Beklagten ergibt sich bereits allein daraus, dass der Kläger über diese Freizügigkeitsbescheinigung verfügt, dass er sich rechtmäßig in Deutschland aufhält. Gegen eine Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes spricht auch nicht, dass dieser Bescheinigung nach dem Wortlaut der Vorschrift ". über das Aufenthaltsrecht ausgestellt") nur deklaratorischer Charakter im Hinblick auf das sich unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergebende Freizügigkeitsrecht zukommt und es sich um keinen Aufenthaltstitel handelt. Es entspricht nämlich der gesetzlichen Konzeption des Freizügigkeitsrecht, von der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes auszugehen, solange die Ausländerbehörde nicht von ihrer Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, den Verlust oder das Nichtbestehen des Aufenthaltsrechtes nach § 5 Abs. 5 FreizügigkeitsG/EU festzustellen und die Bescheinigung über das gemeinschaftsrechtliche Aufenthaltsrecht einzuziehen (ebenso BSG a.a.O. Randnr. 14 mit weiteren Nachweisen).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

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Rechtskraft
Aus
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