Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 11 KR 178/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Nach § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. § 41 Nr. 4 ZPO ist von der Ausübung des Richteramtes auch ausgeschlossen, wer als Bevollmächtigter im konkret dem gerichtlichen Verfahren vorausgehenden Vorverfahren gem. § 78 ff. SGG aufzutreten berechtigt war.
Das Befangenheitsgesuch gegen die Kammervorsitzende Richterin am Sozialgericht X. wird für begründet erklärt.
Gründe:
I.
1. Die Kammervorsitzende war vor ihrer Berufung in das Richteramt mit rechtsberatender Tätigkeit bei dem B.-Verband, B-Stadt, angestellt. In dieser Eigenschaft vertrat sie die Klägerin im Rahmen des Vorverfahrens; eine entsprechende Vollmacht wurde ihr seitens der Klägerin für das Vorverfahren erteilt mit Datum vom 26. Februar 2008. Diese Vollmacht umfasste auch die Vertretung vor den Sozialgerichten. Das Vorverfahren endete mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2012.
Mit Schriftsatz vom 3. April 2012 erhob die Klägerin die vorliegende Klage durch Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten unter nachfolgender Vorlage einer Vollmacht vom 4. April 2012, die sich – naturgemäß – nicht (mehr) auf die Kammervorsitzende erstreckte.
2. Unter dem 29. November 2012 wies die Kammervorsitzende die Beklagte darauf hin, dass sie die Klägerin zu Beginn des Vorverfahrens vertreten habe. Hierauf erklärte die Beklagte mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2012, dass die Beteiligung der Kammervorsitzenden im Vorverfahren die Neutralität der Judikative in Frage stelle. Klarstellend erklärte sie unter dem 27. Dezember 2012, dass sie den Ausschlusstatbestand des § 41 Nr. 4 ZPO i.V.m. § 60 Abs.1 SGG für gegeben erachte.
Mit Datum vom 27. Januar 2013 gab die Kammervorsitzende eine dienstliche Erklärung ab, die den Beteiligten zur Stellungnahme übersandt wurde.
II.
1. Das Befangenheitsgesuch ist zulässig, da ein solches gem. § 42 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG auch auf einen gesetzlichen Ausschlussgrund gestützt werden kann.
Die Beklagte hat das Ablehnungsrecht auch nicht gem. § 43 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG verloren, ohne dass es darauf ankommt, ob das Vorliegen der früheren Vollmacht in ihren Akten als Kenntnis des Ablehnungsgrundes zu werten ist. Denn § 43 ZPO gilt nicht für die Ausschlussgründe des § 41 ZPO (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 43 Rn. 2).
2. Das Gesuch ist auch begründet. Die Kammervorsitzende Y. ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes gem. § 41 Nr. 4 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG ausgeschlossen.
a) Zwar war sie nicht im laufenden Gerichtsverfahren als Prozessbevollmächtigte aufzutreten berechtigt. Denn die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Vollmacht erstreckt sich nicht auf sie. Ob die früher erteilte Vollmacht vom 26. Februar 2008 bereits durch die Berufung in das Richteramt als widerrufen angesehen werden muss, kann offen bleiben. Jedenfalls liegt in der nunmehr am 4. April 2012 erteilten Vollmacht für das Gerichtsverfahren ein konkludenter Widerruf dieser früheren Vollmacht.
Im Hinblick auf Sinn und Zweck des Ausschlussgrundes gem. § 41 Nr. 4 ZPO ist der Begriff der "Sache" im Sozialprozess jedoch nicht auf das gerichtliche Verfahren mit Beginn der Rechtshängigkeit des konkreten Verfahrens gem. § 94 SGG beschränkt, sondern umfasst auch das konkrete diesbezügliche Vorverfahren gem. §§ 78 ff. SGG (so i.E. auch LSG Ba.-Wü., Urt. v. 11. März 1955 – IV b V 1424/54 –, juris [LS]). Denn der Zweck dieses Ausschlusstatbestandes besteht darin, Interessenkonflikte und Zweifel an der richterlichen Neutralität von vornherein auszuschließen, die sich aus einer tatsächlichen oder auch nur rechtlich möglichen Positionierung im Hinblick auf den jeweiligen Streitgegenstand ergeben. Wer die Bevollmächtigung durch eine Partei in Bezug auf eine konkrete Rechtsfrage angenommen hat, gibt damit zu erkennen, dass er deren Interesse und Rechtsschutzziel zu vertreten bereit ist.
Dabei genügt nicht eine allgemeine oder zu anderer Gelegenheit geäußerte Sicht- oder Handlungsweise, etwa die Vertretung in einem Verfahren mit paralleler Streitfrage (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 41 Rn. 10). Vielmehr ergibt sich der Ausschlussgrund erst bei Identität des Streitgegenstandes (MüKo-ZPO/Gehrlein, 4. Aufl. 2013, § 41 Rn. 19), weil erst dann die einseitige Parteinahme für den konkreten Beteiligten und sein Rechtsschutzziel in der "Sache" dokumentiert wird.
Diese Identität des Streitgegenstandes besteht auch betreffend das gerichtliche Verfahren und das ihm vorausgehende Vorverfahren als Prozessvoraussetzung. Denn Gegenstand des Vorverfahrens ist die Recht- und Zweckmäßigkeit eines konkreten angegriffenen Verwaltungsakts (§ 78 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGG), der als solcher gem. § 95 SGG auch Gegenstand der Klage vor dem Sozialgericht ist – in der Gestalt, den er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Auch wenn im Rahmen des Vorverfahrens ein prozessualer Streitgegenstand im technischen Sinne nicht vorliegt, ändert dies nichts daran, dass das und nur das zum Streitgegenstand des Klageverfahrens gemacht werden kann, was als Inhalt des angegriffenen Verwaltungsakts auch Gegenstand des Vorverfahrens war. Dass im Rahmen des Widerspruchsverfahrens auch die Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsakts geprüft wird, während das gerichtliche Verfahren auf die Rechtmäßigkeitkontrolle beschränkt bleibt, ändert an der Identität im Übrigen nichts.
b) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 SGG, der eine Sonderregelung für die Beteiligung am Vorverfahren trifft und hier nur die Mitwirkung auf Behördenseite sanktioniert. Dies rechtfertigt nicht den Umkehrschluss, dass eine Mitwirkung im bzw. während des Verwaltungsverfahrens, das hier auch das Widerspruchsverfahren umfasst (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 60 Rn. 5), auf Seiten eines Klägers nach dem Willen des Gesetzgebers vom Ausschluss vom Richteramt ausgenommen sein soll. Denn Zweck des § 60 Abs. 2 SGG ist es, den Ausschluss zur Sicherstellung der Neutralität des Richters aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. zur Parallelvorschrift des § 54 Abs. 2 VwGO BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], NVwZ 1996, S. 885 [885]) über die formale Bevollmächtigung hinaus auf weitere Formen der Mitwirkung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, ebd.) auszudehnen.
c) Nach alledem führt die frühere Bevollmächtigung der Kammervorsitzenden für das Vorverfahren, das dem vorliegenden Klageverfahren gem. § 78 ff. SGG vorausgegangen ist, kraft Gesetzes zu ihrem Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes im vorliegenden Rechtsstreit.
3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 2 SGG), ohne dass es auf die Frage der Normkonkurrenz zu § 46 Abs. 2 ZPO ankäme (vgl. hierzu jüngst BayLSG, Beschl. v. 4. Februar 2013 – L 9 SF 262/12 B AB – juris).
Gründe:
I.
1. Die Kammervorsitzende war vor ihrer Berufung in das Richteramt mit rechtsberatender Tätigkeit bei dem B.-Verband, B-Stadt, angestellt. In dieser Eigenschaft vertrat sie die Klägerin im Rahmen des Vorverfahrens; eine entsprechende Vollmacht wurde ihr seitens der Klägerin für das Vorverfahren erteilt mit Datum vom 26. Februar 2008. Diese Vollmacht umfasste auch die Vertretung vor den Sozialgerichten. Das Vorverfahren endete mit Erlass des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2012.
Mit Schriftsatz vom 3. April 2012 erhob die Klägerin die vorliegende Klage durch Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten unter nachfolgender Vorlage einer Vollmacht vom 4. April 2012, die sich – naturgemäß – nicht (mehr) auf die Kammervorsitzende erstreckte.
2. Unter dem 29. November 2012 wies die Kammervorsitzende die Beklagte darauf hin, dass sie die Klägerin zu Beginn des Vorverfahrens vertreten habe. Hierauf erklärte die Beklagte mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2012, dass die Beteiligung der Kammervorsitzenden im Vorverfahren die Neutralität der Judikative in Frage stelle. Klarstellend erklärte sie unter dem 27. Dezember 2012, dass sie den Ausschlusstatbestand des § 41 Nr. 4 ZPO i.V.m. § 60 Abs.1 SGG für gegeben erachte.
Mit Datum vom 27. Januar 2013 gab die Kammervorsitzende eine dienstliche Erklärung ab, die den Beteiligten zur Stellungnahme übersandt wurde.
II.
1. Das Befangenheitsgesuch ist zulässig, da ein solches gem. § 42 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG auch auf einen gesetzlichen Ausschlussgrund gestützt werden kann.
Die Beklagte hat das Ablehnungsrecht auch nicht gem. § 43 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG verloren, ohne dass es darauf ankommt, ob das Vorliegen der früheren Vollmacht in ihren Akten als Kenntnis des Ablehnungsgrundes zu werten ist. Denn § 43 ZPO gilt nicht für die Ausschlussgründe des § 41 ZPO (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 43 Rn. 2).
2. Das Gesuch ist auch begründet. Die Kammervorsitzende Y. ist von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes gem. § 41 Nr. 4 ZPO i.V.m. § 60 Abs. 1 SGG ausgeschlossen.
a) Zwar war sie nicht im laufenden Gerichtsverfahren als Prozessbevollmächtigte aufzutreten berechtigt. Denn die im gerichtlichen Verfahren vorgelegte Vollmacht erstreckt sich nicht auf sie. Ob die früher erteilte Vollmacht vom 26. Februar 2008 bereits durch die Berufung in das Richteramt als widerrufen angesehen werden muss, kann offen bleiben. Jedenfalls liegt in der nunmehr am 4. April 2012 erteilten Vollmacht für das Gerichtsverfahren ein konkludenter Widerruf dieser früheren Vollmacht.
Im Hinblick auf Sinn und Zweck des Ausschlussgrundes gem. § 41 Nr. 4 ZPO ist der Begriff der "Sache" im Sozialprozess jedoch nicht auf das gerichtliche Verfahren mit Beginn der Rechtshängigkeit des konkreten Verfahrens gem. § 94 SGG beschränkt, sondern umfasst auch das konkrete diesbezügliche Vorverfahren gem. §§ 78 ff. SGG (so i.E. auch LSG Ba.-Wü., Urt. v. 11. März 1955 – IV b V 1424/54 –, juris [LS]). Denn der Zweck dieses Ausschlusstatbestandes besteht darin, Interessenkonflikte und Zweifel an der richterlichen Neutralität von vornherein auszuschließen, die sich aus einer tatsächlichen oder auch nur rechtlich möglichen Positionierung im Hinblick auf den jeweiligen Streitgegenstand ergeben. Wer die Bevollmächtigung durch eine Partei in Bezug auf eine konkrete Rechtsfrage angenommen hat, gibt damit zu erkennen, dass er deren Interesse und Rechtsschutzziel zu vertreten bereit ist.
Dabei genügt nicht eine allgemeine oder zu anderer Gelegenheit geäußerte Sicht- oder Handlungsweise, etwa die Vertretung in einem Verfahren mit paralleler Streitfrage (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl. 2010, § 41 Rn. 10). Vielmehr ergibt sich der Ausschlussgrund erst bei Identität des Streitgegenstandes (MüKo-ZPO/Gehrlein, 4. Aufl. 2013, § 41 Rn. 19), weil erst dann die einseitige Parteinahme für den konkreten Beteiligten und sein Rechtsschutzziel in der "Sache" dokumentiert wird.
Diese Identität des Streitgegenstandes besteht auch betreffend das gerichtliche Verfahren und das ihm vorausgehende Vorverfahren als Prozessvoraussetzung. Denn Gegenstand des Vorverfahrens ist die Recht- und Zweckmäßigkeit eines konkreten angegriffenen Verwaltungsakts (§ 78 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGG), der als solcher gem. § 95 SGG auch Gegenstand der Klage vor dem Sozialgericht ist – in der Gestalt, den er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Auch wenn im Rahmen des Vorverfahrens ein prozessualer Streitgegenstand im technischen Sinne nicht vorliegt, ändert dies nichts daran, dass das und nur das zum Streitgegenstand des Klageverfahrens gemacht werden kann, was als Inhalt des angegriffenen Verwaltungsakts auch Gegenstand des Vorverfahrens war. Dass im Rahmen des Widerspruchsverfahrens auch die Zweckmäßigkeit eines Verwaltungsakts geprüft wird, während das gerichtliche Verfahren auf die Rechtmäßigkeitkontrolle beschränkt bleibt, ändert an der Identität im Übrigen nichts.
b) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus § 60 Abs. 2 SGG, der eine Sonderregelung für die Beteiligung am Vorverfahren trifft und hier nur die Mitwirkung auf Behördenseite sanktioniert. Dies rechtfertigt nicht den Umkehrschluss, dass eine Mitwirkung im bzw. während des Verwaltungsverfahrens, das hier auch das Widerspruchsverfahren umfasst (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 60 Rn. 5), auf Seiten eines Klägers nach dem Willen des Gesetzgebers vom Ausschluss vom Richteramt ausgenommen sein soll. Denn Zweck des § 60 Abs. 2 SGG ist es, den Ausschluss zur Sicherstellung der Neutralität des Richters aus verfassungsrechtlichen Gründen (vgl. zur Parallelvorschrift des § 54 Abs. 2 VwGO BVerfG [1. Kammer des Ersten Senats], NVwZ 1996, S. 885 [885]) über die formale Bevollmächtigung hinaus auf weitere Formen der Mitwirkung (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, ebd.) auszudehnen.
c) Nach alledem führt die frühere Bevollmächtigung der Kammervorsitzenden für das Vorverfahren, das dem vorliegenden Klageverfahren gem. § 78 ff. SGG vorausgegangen ist, kraft Gesetzes zu ihrem Ausschluss von der Ausübung des Richteramtes im vorliegenden Rechtsstreit.
3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 2 SGG), ohne dass es auf die Frage der Normkonkurrenz zu § 46 Abs. 2 ZPO ankäme (vgl. hierzu jüngst BayLSG, Beschl. v. 4. Februar 2013 – L 9 SF 262/12 B AB – juris).
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