L 9 AS 1935/11

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Nordhausen (FST)
Aktenzeichen
S 24 AS 6686/10
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 1935/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 15. August 2011 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten betreffend Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der Kläger bezog seit dem 22. Februar 2005 laufend Leistungen zur Sicherung des Lebensun-terhalts von dem Beklagten (für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt mit Bescheid vom 24. Januar 2008 für die Zeit ab 1. März 2008). Im Formular "Einkommenserklä-rung/Selbsteinschätzung" zum Antrag vom 22. Februar 2005 hatte der Kläger in der Rubrik "Rente/Pension (Bitte Rentenart angeben und letzten Rentenbescheid beifügen)" keine Anga-ben gemacht; mit der Unterschrift hatte er die Richtigkeit der Angaben bestätigt. Dies war auch in den Folgeanträgen der Fall.

Im Rahmen eines Datenabgleichs wurde dem Beklagten im Februar 2008 bekannt, dass der Kläger laufende Rentenzahlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung bezog. Auf die Aufforderung des Beklagten legte der Kläger die Rentenbescheide vor und übersandte eine Kopie aus dem Buch "Hartz IV und Arbeitslosengeld II - Ein Fall für Escher", wonach die Unfallrente einem anderen Zweck als das Alg II diene und damit grundsätzlich nicht ange-rechnet werden dürfe. Daraufhin teilte der Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 2. April 2008 mit, dass er in der Zeit vom 22. Februar 2005 bis 30. April 2008 Leistungen in Höhe von 12.298,97 EUR (die im Einzelnen aufgeschlüsselt sind, für die Zeit ab 1. Januar 2008 in Höhe von 343,66 EUR monatlich) zu Unrecht bezogen habe, weil er Einkommen aus der ge-setzlichen Unfallversicherung erzielt habe. Mit den nachgewiesenen Einkommensverhältnis-sen sei er nicht in bisher bewilligter Höhe hilfebedürftig. Er sei nach § 60 Erstes Buch Sozial-gesetzbuch verpflichtet, alle Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen, die für die Leis-tung erheblich seien. Dieser Verpflichtung sei er zumindest grob fahrlässig nicht rechtzeitig nachgekommen (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X). Außer-dem habe er Einkommen oder Vermögen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt habe (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X). Er erhalte Gelegenheit zur Äuße-rung. Daraufhin beantragte der Kläger Akteneinsicht. Mit Schreiben vom 7. Mai 2008 korri-gierte der Beklagte die Rückforderungssumme auf 11.706,25 EUR und gab erneut Gelegen-heit zur Stellungnahme. Der Kläger äußerte sich nicht.

Mit Bescheid vom 10. Juli 2008 hob der Beklagte "die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen ( ) vom 22. Februar 2005 bis 30. April 2008" teilweise in Höhe von 11.706,25 EUR auf. Die Begründung entspricht der in den Anhörungsschreiben enthaltenen.

Den dagegen am 11. August 2008 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger damit, dass er weder vorsätzlich noch fahrlässig gehandelt habe. Bis zur Veröffentlichung der Entschei-dung des Bundessozialgerichts (BSG) über die Anrechnung von gesetzlichen Unfallrenten habe er sich auf die Aussage im Buch "Escher" verlassen, wonach die Unfallrente nicht als Einkommen anzugeben gewesen sei. Er habe die Leistungen für den laufenden Lebensunter-halt verwendet.

Mit Bescheid vom 24. August 2010 änderte der Beklagte die Rückforderungssumme auf 11.496,21 EUR und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. August 2010 zurück. Zur Begründung ist ausgeführt: Zwar sei die angegebene Rechtsgrundlage falsch, weil der Kläger schon seit Beginn des Alg II-Bezugs Leistungen aus der gesetzlichen Unfall-versicherung bezogen habe. Die fehlerhafte Begründung schade jedoch nicht, weil als taugli-che Rechtsgrundlage § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X in Betracht komme. Dem Kläger habe es im Rahmen seiner Mitwirkungspflichten oblegen, wahrheitsgemäße Angaben zu seinen Einkommensverhältnissen zu machen. Allein der Behörde sei es überlassen zu bewerten, was als Einkommen nach dem Gesetz zu berücksichtigen sei. Das BSG habe entschieden, dass Verletztenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung als Einkommen anzurechnen sei. Mithin habe der Kläger durch das vorsätzliche bzw. zumindest grob fahrlässige Verschweigen der Rentenbezüge deren Berücksichtigung bei der Leistungsberechnung verhindert. Verschie-dene Rechtsmeinungen zur einer Streitfrage entbänden einen Leistungsempfänger nicht von seinen Mitwirkungspflichten.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger u. a. vorgetragen, dass er weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt habe. Während der Antragsaufnahme beim Beklagten habe er angegeben, dass er Verletztenrente erhalte, die Mitarbeiterin habe ihm jedoch mitgeteilt, dass dies keine Rolle spiele. Der Aufhebungsbescheid sei auch inhaltlich nicht hinreichend be-stimmt, weil die Bescheide nicht im Einzelnen aufgeführt seien.

Mit Urteil vom 15. August 2011 hat das Sozialgericht Nordhausen der Klage stattgegeben, weil der Bescheid mangels hinreichender Anhörung formell rechtswidrig sei, wie sich aus dem BSG-Urteil vom 9. November 2010 - B 4 AS 37/09 R - ergebe.

Dagegen wendet sich der Beklagte mit der am 28. November 2011 fristgemäß eingegangenen Berufung. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts sei eine nochmalige Anhörung nicht er-forderlich gewesen. Eine Anhörung habe sich schon nach § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X erübrigt. Unbeschadet dessen sei sie aber auch wirksam erfolgt, zumal die Rechtsgrundlage bei der Anhörung nicht mitgeteilt werden müsse. Der Kläger habe auch im Widerspruchsschreiben zu den maßgeblichen Tatsachen Stellung genommen. Ein Auswechseln der Rechtsgrundlage im Widerspruchsbescheid sei zulässig, weil es vorliegend um eine gebundene Entscheidung ge-he.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen vom 15. August 2011 aufzu-heben und die Klage abzuweisen,

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

In der mündlichen Verhandlung am 27. September 2012 hat der Kläger seine Bereitschaft erklärt, den auf die Monate Januar bis April 2008 entfallenden Betrag zu erstatten, und die Klage entsprechend eingeschränkt. Im Termin wurde der Kläger zu weiteren Einzelheiten befragt; insoweit wird auf die Niederschrift über die öffentliche Sitzung Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Be-teiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Die Verwaltungsakte lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die - nach der teilweisen Klagerücknahme nur noch hinsichtlich des Zeitraums ab 22. Februar 2005 bis Dezember 2007 zu entscheidende - Berufung des Beklagten ist unbegründet, denn das Urteil des Sozialgerichts Nordhausen ist im Ergebnis rechtmäßig. Allerdings ergibt sich die Rechtswidrigkeit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids nicht aus einem Anhörungs-mangel, sondern daraus, dass die Voraussetzungen des § 45 SGB X hier nicht vorlagen.

Entgegen der Auffassung des SG ist der Bescheid vom 10. Juli 2008 in der Fassung des Än-derungsbescheids vom 24. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. August 2010 nicht bereits deshalb rechtswidrig und nach § 24 Abs. 1 SGB X iVm § 42 Satz 2 SGB X aufzuheben, weil der Kläger nicht ordnungsgemäß angehört worden wäre. Denn der Beklagte hat seine Entscheidung im Widerspruchsbescheid im Hinblick auf die für den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit iS des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X entschei-dungserheblichen Tatsachen nicht auf eine neue Tatsachengrundlage gestützt.

Nach § 24 Abs. 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erhebli-chen Tatsachen zu äußern. Diese Vorschrift dient der Wahrung des rechtlichen Gehörs und soll das Vertrauensverhältnis zwischen dem Bürger und der Sozialverwaltung stärken und den Bürger vor Überraschungsentscheidungen schützen (vgl. BSG, Urteil vom 25. März 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 14) sowie sicherstellen, dass die Beteiligten alle für sie günsti-gen Umstände vorbringen können (BSG, Urteil vom 4. November 1981 - SozR 1300 § 24 Nr 2). Der Betroffene soll Gelegenheit erhalten, durch sein Vorbringen zum entscheidungser-heblichen Sachverhalt die vorgesehene Entscheidung zu beeinflussen (BSG, Urteil vom 26. September 1991, BSGE 69, 247, 252). Hierzu ist es notwendig, dass der Verwaltungsträger die entscheidungserheblichen Tatsachen dem Betroffenen in einer Weise unterbreitet, dass er sie als solche erkennen und sich zu ihnen, ggf nach ergänzenden Anfragen bei der Behörde, sachgerecht äußern kann (BSG, Urteil vom 22. November 1984; BSG, Urteil vom 26. Sep-tember 1991, aaO). Welche Tatsachen für die Entscheidung erheblich und dem Betroffenen zur Äußerung mitzuteilen sind, richtet sich nach Art und Inhalt der im Einzelfall in Betracht kommenden Entscheidung (BSG, Urteil vom 30. März 1982 - SozR 1300 § 24 Nr 4; BSG, Urteil vom 28. April 1999 - SozR 3-1300 § 24 Nr 15). Entscheidungserheblich sind grund-sätzlich alle Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben, auf die sich die Verwaltung also zumindest auch gestützt hat (BSG, Urteil vom 26. Septem-ber 1991, aaO; BSG, Urteil vom 14. Juli 1994 - SozR 3-4100 § 117 Nr 11).

Eine Ausnahme vom Anhörungserfordernis (§ 24 Abs. 2 SGB X) war hier nicht gegeben; insbesondere lag entgegen der in der Berufung geäußerten Ansicht des Beklagten kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 5 SGB X vor, denn es handelte sich nicht um die Anpassung von Leistun-gen an geänderte Verhältnisse (vielmehr waren diese lediglich dem Beklagten erst nachträg-lich bekannt geworden).

Gemessen an den o. a. Kriterien ist davon auszugehen, dass dem Ausgangsbescheid vom 10. Juli 2008 mit den Schreiben vom 2. April 2008 und 7. Mai 2008 eine ordnungsgemäße Anhö-rung vorausgegangen ist. Denn durch das Anhörungsschreiben war der Kläger über die für die Entscheidung erheblichen Tatsachen hinreichend informiert, sodass er Gelegenheit hat-te, hierzu sachgerecht Stellung zu nehmen. Er musste danach wissen, dass ihm die SGB II-Leistungen wegen der gewährten Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht in der bewilligten Höhe zustanden und dass die Behörde davon ausging, dass er es grob fahrlässig unterlassen habe, bei der Antragstellung entsprechende Angaben zu machen.

Eine erneute Anhörung vor Erlass des auf § 45 SGB X gestützten Widerspruchsbescheids war nicht erforderlich: Zwar gilt § 24 SGB X unstreitig auch im Widerspruchsverfahren. Hat ei-ne ordnungsgemäße Anhörung indes bereits stattgefunden, so ist eine erneute Anhörung nur dann geboten, wenn der Betroffene ansonsten an einer sachgerechten Rechtsverteidigung gehindert ist. Der Beteiligte soll nicht durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen er sich nicht äußern konnte. Dies aber ist nicht bereits dann der Fall, wenn die zu Grunde gelegten Tatsachen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid nicht voll und ganz identisch sind. Aus dem dargestellten Sinnzu-sammenhang folgt vielmehr, dass eine nochmalige Anhörung nur unter bestimmten Voraus-setzungen erforderlich ist. Diese sind namentlich dann als gegeben zu erachten, wenn die Verwaltung auf Grund des Vorbringens des Beteiligten oder aus anderen Gründen neu ermit-telt und sie sich infolge der durchgeführten Ermittlungen auf neue erhebliche Tatsa-chen stützen will, wenn die Widerspruchsbehörde ihrer Entscheidung - ggf ohne ergänzende Ermittlungen durchgeführt zu haben - einen anderen Sachverhalt zu Grunde legen will als die Ausgangsbehörde oder wenn die Behörde die beabsichtigte Maßnahme in dem eingreifenden Verwaltungsakt gegenüber dem bisher geplanten und angekündig-ten Inhalt nicht unerheblich ändert oder den Wesensgehalt des Verwaltungsakts abwandelt (BSG, Urteil vom 15. August 2002 - B 7 AL 38/01 R - mwN).

Eine solche wesentliche Änderung der Tatsachengrundlage oder wesentliche Änderung des Bescheidinhalts liegt hier jedoch nicht vor. Denn der Beklagte hat weder neue Ermittlungen angestellt und dem Kläger dabei gewonnene neue Ermittlungsergebnisse vorenthalten, noch ist die Entscheidung auf einen anderen Sachverhalt gestützt oder inhaltlich abgeändert wor-den. Der Wechsel der Ermächtigungsgrundlagen allein reicht dafür nicht aus. Wie aus der Widerspruchsbegründung eindeutig hervorgeht, waren dem Kläger die Aspekte bewusst, auf die es für eine sachgerechte Rechtsverteidigung ankam. Dementsprechend hat er ausdrücklich ausgeführt, dass er nicht grob fahrlässig gehandelt habe, weil er sich auf die Angaben in dem Alg II - Ratgeber verlassen habe.

Der Bescheid war ferner auch inhaltlich hinreichend bestimmt; insbesondere bedurfte es nicht der Angabe der Daten der einzelnen Bewilligungsbescheide, die mit dem angegriffenen Be-scheid aufgehoben worden sind.

Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist jedoch materiell rechtswidrig, denn die Rück-nahmevoraussetzungen des § 45 Abs. 2 SGB X lagen nicht vor.

Nach § 45 Abs. 1 SGB X gilt: Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswid-rig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter Einschränkungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen wer-den, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Ver-trauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X), wobei Schutzwürdigkeit in der Regel dann vorliegt, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings u. a. dann nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X) oder wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Liegen die Vor-aussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vor, ist der Verwaltungsakt abweichend von den allgemeinen Regelungen zwingend mit Wirkung auch für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 330 Abs 2 SGB III).

Die Voraussetzungen der Rücknahme nach § 45 SGB X liegen hier nicht vor. Dies gilt insbe-sondere unter dem Gesichtspunkt des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 als auch des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X.

Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Dabei ist im Hinblick auf die Obliegenheit des § 66 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) das vor-sätzliche oder grob fahrlässige Unterlassen einer für die Leistung maßgeblichen Mitteilung von Umständen dem aktiven Tun gleichzustellen (BSG, Urteil vom 1. Juni 2006 - B 7a AL 76/05 R -). Dies gilt vornehmlich dann, wenn das Unterlassen einer Mitteilung dazu führt, dass frühere Angaben (im Weiterbewilligungsantrag) unrichtig oder unvollständig werden (BSG SozR 1300 § 45 Nr 29 S 93 f).

Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X kann sich der Begünstigte nicht auf Vertrauen berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässig-keit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorg-falt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Die erforderliche Sorgfalt in besonders schwe-rem Maße verletzt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss (BSGE 42, 184, 187 = SozR 4100 § 152 Nr 3; BSGE 62, 32, 35); dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu beurteilen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff: BSGE 35, 108, 112; 44 264, 273 = SozR 5870 § 13 Nr 20). Bezugspunkt für das grobfahrläs-sige Nichtwissen ist schon nach dem Wortlaut des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes - also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde. Allerdings können "Fehler im Bereich der Tatsachen-ermittlung oder im Bereich der Rechtsanwendung", auch wenn sie nicht Bezugspunkt des grobfahrlässigen Nichtwissens sind, Anhaltspunkt für den Begünstigten sein, die Rechtswid-rigkeit des Verwaltungsaktes selbst zu erkennen. Voraussetzung dafür ist aber, dass sich die tatsächlichen oder rechtlichen Mängel aus dem Bewilligungsbescheid oder anderen Umstän-den ergeben und für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind (BSG, Urteil vom 8. Februar 2001 - B 11 AL 21/00 R -).

Hier darf sich der Kläger zu Recht darauf berufen, auf den Bestand der Bewilligungsbeschei-de vertraut zu haben. Keine der Varianten des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X ist im vorliegenden Fall gegeben. Im Hinblick auf die dort genannten Nr. 2 und 3 ergibt sich dies bei einer Ge-samtschau der Umstände des Einzelfalls unter maßgeblicher Berücksichtigung des Verständ-nishorizonts des Bescheidadressaten, der als Berufskraftfahrer tätig war. Insoweit ist auf die vom Kläger gemachten Angaben - insbesondere in der mündlichen Verhandlung - abzustel-len. Hier hat der Kläger angegeben, dass die ARGE-Mitarbeiterin, die ihm beim Ausfüllen geholfen habe, erklärt habe, dass er die Unfallrentenbescheide nicht angeben müsse; er habe sich mit der Frage der Berücksichtigung bis dahin nicht befasst gehabt. Wenn er gefragt wer-de, ob er die Diskussion um die Unfallrente weiter verfolgt habe, so müsse er sagen, dass er sich zunächst nicht darum gekümmert habe. Erst nach einer Fernsehsendung im MDR habe er sich den "Escher"-Ratgeber gekauft. Das mag so ungefähr ein halbes Jahr nach der Erstan-tragsstellung gewesen sein. In diesem Buch habe er auch gezielt noch einmal nachgelesen, wie es sich mit der Frage der Anrechnung der Unfallrente verhält. Dort habe er seine Ansicht bestätigt gefunden. Im Laufe des Jahres 2007 habe er dann erfahren, dass die Frage der An-rechnung der Verletztenrente wieder in der Diskussion ist. Schließlich sei ja dann auch das BSG Urteil ergangen. Wann er genau davon Kenntnis erhalten habe, wisse er nicht mehr. Als er das ARGE-Schreiben vom Februar 2008 bekommen habe, habe er zunächst gedacht, dass er vom Glauben abfalle. Er sei dann zur ARGE und habe das "Escher"-Buch mitgenommen. Der Mitarbeiter, der seine Stellungnahme entgegengenommen habe, habe dann eine Kopie der entsprechenden Seiten gemacht und zur Akte genommen. Bei der persönlichen Vorsprache vor Ort habe er auch angegeben, dass er das Schreiben der ARGE vom Februar 2008 nicht verstehe, weil ihm doch seinerzeit die ARGE-Mitarbeiterin selbst gesagt habe, dass er die Unfallrente nicht angeben müsse.

Auf der Grundlage dieser Angaben, die der Senat für glaubhaft hält und gegen die auch der Beklagte keine Einwendungen vorgebracht hat, ist das Gericht nicht der Auffassung, dass dem Kläger bei seinen nach dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung an-zunehmenden subjektiven Erkenntnismöglichkeiten die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder Nr. 3 SGB X erfüllt. Er kann sich damit wegen der verbrauchten Leistungen auf Vertrauensschutz berufen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht er-füllt sind.
Rechtskraft
Aus
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