S 15 VG 231/06

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 15 VG 231/06
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 (6) VG 55/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 V 1/12 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist, ob der am 00.00.1962 geborenen Klägerin ein Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) zusteht.

In ihrem Antrag vom 16.09.1999 auf Versorgung nach dem OEG gab die Klägerin an, von 1962 bis 1980 sei es mit abnehmender Tendenz im Elternhaus zu Gewalttaten und Missbrauch gekommen. Als Ursachen gab sie Alkoholkonsum des Vaters an sowie Überforderung der Mutter durch Misshandlungen des Ehemannes. Die Mutter sei tablet-tensüchtig. Darüber hinaus sei es zu einem sexuellen Missbrauch durch einen Fremden gekommen, als sie in der 4. Klasse gewesen sei.

Das Versorgungsamt Bielefeld holte eine Auskunft der Techniker Krankenkasse C über Erkrankungen der Klägerin ein sowie einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin T (15.10.1999). Dem Befundbericht waren Berichte der Ambulanz der Klinik N II des Sonderkrankenhauses C1 vom 25.03.1993 beigefügt sowie der Klinik N I vom 15.04.1993 und der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. F (04.09.1990). Außerdem waren ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Westfalen-Lippe vom 02.02.1995 beigefügt und der Entlassungsbericht über die stationäre Behandlung der Klägerin in der Klinik Bad C2 vom 02.03. bis 27.04.1995 sowie ein Arztbrief der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie Dr. T1 (19.09.1997). Die Diplompädagogin und Psychotherapeutin A-M übersandte auf Anforderung des Versorgungsamtes Bielefeld den Bericht zur psychotherapeutischen Behandlung der Klägerin von 1993 bis 1995. Darüber hinaus forderte das Versorgungsamt Bielefeld den Entlassungsbericht über die teilstationäre Behandlung der Klägerin im F1. K-Krankenhaus C vom 30.03. bis 23.06.2000 an sowie eine schriftliche Auskunft der Tante der Klägerin F2 T2 (21.09.2000).

Am 20.11.2000 wurde die Klägerin im Versorgungsamt Bielefeld angehört. Die Klägerin gab u.a. an, die körperlichen Misshandlungen im Elternhaus hätten bis zu ihrem Auszug im 18. Lebensjahr angedauert. Der Vater habe sie einmal kurz vor ihrem Auszug gepackt und aus der Küche auf den Boden des Flurs gestoßen, als sie ihn gefragt habe, warum es eigentlich immer nur das Essen gebe, was er sich wünsche. Das Schlimmste für sie sei gewesen, dass der Vater überfallartig zugeschlagen habe. Er sei ein Choleriker gewesen. Er habe nicht nur geschlagen, wenn er betrunken gewesen sei, sondern es sei auch vorgekommen, dass ihm etwas nicht gepasst habe. Er sei dann ins Zimmer gestürzt und habe zugeschlagen. Als sie einmal mit ihrem jüngeren Bruder um ein Holzspielzeug gestritten habe, sei er einfach reingekommen und habe um sich geschlagen. Sie habe dabei sehr heftiges Nasenbluten erlitten. Häufig habe er mit Fäusten ins Gesicht oder an den Kopf geschlagen. Ab und zu habe er auch mit dem Hausschuh (Lederschlappen) auf den Hintern geschlagen. Sie wisse nicht, wie oft in der Woche es zu diesen Schlägen gekommen sei. Sie habe aber das Gefühl, dass es für sie eine ständige Bedrohung und Gefahr dargestellt habe. Zu so stark äußerlich sichtbaren Verletzungen, dass Lehrer sie darauf angesprochen hätten, sei es nach ihrer Erinnerung nicht gekommen. Sie habe starke Erinnerungslücken, was ihre frühe Kindheit angehe. So wisse sie nur aus Erzählungen ihrer Tante, dass auch ihre Mutter sie massiv geschlagen habe, als sie klein gewesen sei. Als sie ungefähr 15 Jahre alt gewesen sei, habe ihre Mutter sie nachts nach unten ins Wohnzimmer gerufen. Ihr Vater habe dort mit einem Küchenmesser gestanden und habe gedroht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Als sie sich eingemischt habe, habe er sie bedroht und aus dem Zimmer geschickt. Als sie etwa 12 Jahre alt gewesen sei, sei ihr Vater nachts betrunken nach Hause gekommen. Er habe sich auf die Bettkante ihres Bettes gesetzt und ihren Busen angefasst. Er habe sie gefragt, ob sie das nicht auch schön finde. Sie habe das bejaht. Sie wisse aber, dass sie vor Angst wie erstarrt gewesen sei. Sie wisse nicht, was passiert wäre, wenn sie ihn aufgefordert hätte wegzugehen oder mit nein geantwortet hätte. Ob danach noch etwas anderes stattgefunden habe, wisse sie nicht. In den weiteren Jahren habe es immer wieder Situationen gegeben, in denen ihr Vater sie, wenn er betrunken nach Hause gekommen sei, z.B. an der Brust angefasst habe oder seinen Kopf in ihren Schoß gelegt habe. Er habe sich dann bei ihr "ausgeheult", er habe ja so vieles verkehrt gemacht. Als sie nach ihrem 12. Lebensjahr ihre Regel gehabt habe, habe ihr Vater immer mal wieder gesagt, sie könne ja die Binden im Schlafzimmer wechseln, oder er habe sie im Genitalbereich angefasst mit der Frage: "Na hast Du immer noch Deine Regel?". Sie glaube, dass er nach ihrem 12. Lebensjahr nicht mehr zu ihr ins Bett gekommen sei. Sie nehme an, dass die schlimmen Übergriffe sexueller Art vor ihrem 12. Lebensjahr passiert seien. Aber sie könne sich an fast überhaupt nichts erinnern. Erst einen Tag nach dem Vorgespräch im Versorgungsamt habe sie einen Flashback gehabt. Sie habe dabei gesehen, wie sie im Kindergartenalter morgens in das Bett ihres Vaters geklettert sei und sein Geschlechtsteil manipuliert habe. Sie habe dabei auch gehört, dass er gesagt habe: "Soll ich dir mal zeigen, wie das geht?" Als sie in der 4. oder 5. Klasse gewesen sei, habe sie mit zwei ehemaligen Mitschülern draußen gespielt. Auf einmal sei ein Mann erschienen. Dieser habe sie aufgefordert, die anderen wegzuschicken, um Bier für ihn zu holen. Sie habe das auch gemacht. Sie sehe sich dann, wie sie die Hose herunterziehe. Es sei warm gewesen. Sie glaube, sie habe nur ein Kleid oder einen Rock angehabt, so dass sie nur die Unterhose habe herunterziehen müssen. Der Mann selber habe auch schon sein Geschlechtsteil unbekleidet gehabt. Auf einmal seien die anderen Kinder wiedergekommen, da der Laden geschlossen gehabt habe. Der Mann habe sie aufgefordert, die beiden erneut wegzuschicken. Sie habe den beiden gesagt, sie sollten ganz schnell wiederkommen, denn der Mann wollte seinen Penis in ihre Scheide stecken. Die beiden seien dann auch weggegangen. Was dann ganz genau passiert sei, wisse sie nicht mehr. Sie wisse insbesondere nicht, ob es tatsächlich zum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Sie wisse noch, dass sie weggelaufen sei, auf die Turmuhr geguckt und gesagt habe, sie müsse jetzt aber ganz schnell nach Hause und ihre Hausaufgaben machen.

Das Versorgungsamt Bielefeld holte eine weitere Auskunft der Tante der Klägerin ein (01.02.2001) und zog einen Therapiebericht des psychologischen Psychotherapeuten X bei (02.02.2001). Außerdem holte das Gericht ein Gutachten ein von der Ärztin für Neurologie und Fachärztin für psychotherapeutische Medizin Frau Dr. X1 (26.09.2001). Frau Dr. X1 führte aus, es sei von einer Persönlichkeitsstörung auszugehen. Während die Klägerin bis etwa 1984 "funktioniert" habe, sei es dann offenbar durch das Erleben von Ausgeliefertsein im Rahmen eines epileptischen Anfalls zu einer Regression gekommen. Auch Elemente einer posttraumatischen Störung lägen vor (Alpträume, Schlafstörungen). Die Zusammenhangsfrage sei schwierig zu beantworten. Wie ausgeprägt die Misshandlungen gewesen seien und inwieweit länger anhaltender sexueller Missbrauch vorgelegen habe, sei den Angaben nicht zu entnehmen. Sehr viel deutlicher sei die destruktive Familienatmosphäre geworden. Der Vater sei ein aggressiver Alkoholiker gewesen. Die Mutter habe infolge einer Polioerkrankung seit der Kindheit eine verkürzte rechte Körperhälfte gehabt. Die Mutter habe der Klägerin lebenslang vorgeworfen, wegen der ungewollten Schwangerschaft mit ihr in die unglückliche Ehe hineingeraten zu sein. Die Eltern seien offenbar nicht in der Lage gewesen, für die Kinder Verantwortung zu übernehmen, ihnen Geborgenheit, Sicherheit und Fürsorge zu bieten. Die Atmosphäre sei vielmehr geprägt gewesen von unberechenbarer Affektivität sowie Schuldzuweisungen und Ablehnung. Solche Bedingungen hinderten ein Kind ebenso wie ständige Gewalterlebnisse daran, eine eigene Identität zu entwickeln. Insofern sei aufgrund der Symptomatik nicht zu entscheiden, ob die psychische Störung ein Milieuschaden im weitesten Sinne sei oder mindestens gleichwertig auf Gewalttaten im Sinne des Gesetzes zurückzuführen sei. Die spärlichen konkreten Erinnerungen ließen zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu, das Krankheitsbild gleichwertig oder überwiegend ursächlich auf reale Misshandlungen und realen Missbrauch zurückzuführen.

Mit Bescheid vom 15.10.2001 lehnte das Versorgungsamt Bielefeld den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Zur Begründung ist ausgeführt, die für eine Opferentschädigung erforderlichen tätlichen Angriffe könnten körperliche Misshandlungen, Schläge, aber auch sexueller Missbrauch sein. Einzelne solche Handlungen seien auch geschildert worden, vor allem aber auch die insgesamt zerrütteten Familienverhältnisse. Für letztere sehe das OEG keine Leistungen vor. Die Begutachtung habe ergeben, dass vor allem die frühere allgemeine familiäre Situation für die psychischen Probleme verantwortlich sei.

Hiergegen erhob die Klägerin am 25.10.2001 Widerspruch. Sie trug vor, die Schädigung sei nicht auf zerrüttete Familienverhältnisse zurückzuführen. Bei ihren Brüdern hätten die zerrütteten Familienverhältnisse keine ähnlich gravierenden psychischen Folgen gehabt. Lediglich sie habe als Kind die Extremsymptome Bettnässen, Stottern, Selbstisolation, stundenlange Schaukelbewegungen erlebt sowie als Erwachsene Störungen durch Angst- und Panikattacken, psychogene Anfälle, Kraftlosigkeit und Erschöpfung, Migräne, Dissoziationen, Flashbacks, massive sexuelle Störungen, Schlafstörungen, Alpträume sowie Depressionen. Lange Zeit habe sie nur bei Tageslicht schlafen können. Insbesondere die sexuellen Übergriffe des Vaters und eines Fremden seien ursächlich für ihre besonderen Störungen. Die von der Tante dargestellte körperliche Gewalt des Vaters überschreite deutlich den Bereich des Züchtigungsrechts.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2002 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch zurück mit der Begründung, es könne nicht festgestellt werden, dass das Krankheitsbild gleichwertig oder überwiegend auf reale Misshandlungen und sexuellen Missbrauch zurückzuführen sei.

Mit der am 14.06.2002 erhobenen Klage (S 13 VG 57/02 Sozialgericht Detmold) verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 21.05.2003 ist die Klägerin zu den Übergriffen angehört worden. Sie hat u.a. angegeben, dass ihr Vater sich etwa ab ihrem 14. Lebensjahr immer weniger getraut habe, sie zu schlagen. Ab ihrem 16. Lebensjahr habe sie einen Freund gehabt und dann höchstens mal eine Ohrfeige bekommen. Auch ihre Mutter habe ab einem bestimmten Lebensalter nicht mehr den Mut gehabt, sie zu schlagen. Insgesamt meine sie, dass jedenfalls im Jugendalter die Gewaltexzesse nicht mehrmals pro Woche aufgetreten seien. Die wesentlichen sexuellen Übergriffe hätten nach ihrer Erinnerung bis zum 12. Lebensjahr stattgefunden. Aufgrund der psychotherapeutischen Behandlung sei ihr inzwischen bewusst geworden, dass sie ihren Vater vor dem 12. Lebensjahr auch oral befriedigt haben müsse. An einen Geschlechtsverkehr mit ihrem Vater könne sie sich nicht entsinnen. So etwa im Alter von vier bis fünf Jahren habe ihr Vater sie z.B. in das elterliche Schlafzimmer geholt, sich dann teilweise entkleidet und ihr gezeigt, welche Praktiken er gerne hätte. Er habe ihr dann die Hand geführt. Sie habe ihn dann entsprechend berühren müssen. Als Beispiel für eine Gewalttätigkeit gab sie an, dass sie in der Grundschulzeit ihrem Vater aus Versehen die Tür vor der Nase zugemacht habe. Daraufhin sei er ausgerastet, habe sie auf den Boden geworfen und mit der Hand zugeschlagen. Die Klägerin übersandte die Entlassungsberichte über die teilstationären Behandlungen im F1. K-Krankenhaus C (19.03. bis 18.06.2002 und 28.08. bis 09.10.2003). Des Weiteren übersandte sie Kopien von Zeugnissen des L-N1-Gymnasiums der Stadt I für die Zeit ab dem 5. Schuljahr, des Zeugnisses der Allgemeinen Hochschulreife vom 00.00.1983 und des Zeugnisses über die bestandene Magister-Zwischenprüfung der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität C (00.00.1989). Darüber hinaus übersandte sie einen Auszug aus dem Werk "EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome" von Arne Hofmann sowie aus dem Werk "Traumazentrierte Psychotherapie, Theorie, Klinik und Praxis" von Ulrich Sachsse das Kapitel "Kindheitstraumata erinnert". Außerdem übersandte sie eine Kopie des Urteils des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27.04.2006 - L 13 VG 4/04 -. Auf die von der Klägerin übersandten Unterlagen wird Bezug genommen. Nachdem aufgrund des Gesundheitszustandes der Klägerin am 14.09.2005 das Ruhen des Verfahrens angeordnet worden war, ist das Verfahren auf Antrag der Klägerin im November 2006 unter dem Aktenzeichen S 15 VG 231/06 fortgesetzt worden. Auf den von der Klägerin übersandten Entlassungsbericht über die teilstationäre Behandlung im F1.-K-Krankenhaus C vom 22.09. bis 17.11.2005 wird ebenfalls Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15.10.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2002 zu verurteilen, ihr Versorgung nach dem OEG nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, es sei möglich, dass die Unfähigkeit, wichtige Aspekte eines Traumas zu erinnern, ein diagnostisches Kriterium der posttraumatischen Belastungsstörung sei. Erinnerungsprobleme führten aber nicht dazu, dass geringere Anforderungen an den Nachweis der Gewalttat zu stellen seien. Nach den Zeugenaussagen sei nicht mit Gewissheit abzuleiten, dass die Klägerin sexuell missbraucht bzw. anderen Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei. Auch das aussagepsychologische Gutachten habe den Nachweis nicht erbracht.

Das Gericht hat die Schwerbehindertengesetzakten beigezogen. Des Weiteren hat das Gericht die Tante der Klägerin im Wege der Rechtshilfe durch das Sozialgericht Köln vernehmen lassen und im Termin zur Erörterung des Sachverhalts und zur Beweisaufnahme am 26.02.2004 den Bruder der Klägerin U I1 sowie ihren Vater L1-K1 I1 als Zeugen vernommen. Die Mutter der Klägerin N2 I1 berief sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht, ebenso wie der zum Termin am 21.05.2003 geladene Bruder der Klägerin T3 I1. Auf die Sitzungsniederschriften des Sozialgerichts Köln vom 22.09.2003 sowie auf die Sitzungsniederschriften vom 26.02.2004 und 21.05.2003 wird Bezug genommen. Des Weiteren hat das Gericht den Entlassungsbericht beigezogen über die stationäre Behandlung der Klägerin in der Neurologischen Klinik des Kreiskrankenhauses I (19. bis 26.01.1984) sowie einen Befundbericht des Diplom-Psychologen X (21.07.2004). Der Facharzt für Neurologie Dr. N3 teilte auf Anfrage des Gerichts mit, ein Bericht über die Behandlung bei Dr. L2 ab 1984 könne nicht erstattet werden, da die von diesem übernommenen Krankenakten nur bis in das Jahr 1994 zurückgingen. Außerdem hat das Gericht ein psychiatrisches-psychotherapeutisches Gutachten eingeholt von Frau Dr. T4 (23.06.2005) mit aussagepsychologischem Zusatzgutachten von Frau Diplom-Psychologin I2 (05.04.2005). Dem Gutachten der Sachverständigen waren weitere Entlassungsberichte über teilstationäre Behandlungen im F1. K-Krankenhaus C beigefügt (vom 16.05. bis 19.09.1991, vom 10. bis 11.05.1993, vom 29.03. bis 23.05.2001). Aufgrund der von der Klägerin erhobenen Einwände gegen die Ausführungen der Sachverständigen hat das Gericht ergänzende Stellungnahmen eingeholt von Frau Dr. T4 (03.07.2007) und der Diplom-Psychologin I2 (20.06.2007). Nachdem die Klägerin weitere Einwände gegen die Gutachten erhoben hatte, sind auf Anregung des Beklagten weitere ergänzende Stellungnahmen eingeholt worden von Frau Dr. T4 (16.01.2008) und von der Diplom-Psychologin Frau I2 (08.02.2008). Auf den Befundbericht, die Sachverständigengutachten, die ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen und die Entlassungsberichte wird verwiesen.

Die Verwaltungsakten des Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Für den Sachverhalt im Einzelnen wird auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Sie ist aber nicht begründet.

Richtiger Klagegegner ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Durch Art. 1, Abschnitt I, § 1 des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007 - Straffungsgesetz - (GVBl. NRW 2007, S. 482) sind die Versorgungsämter mit Ablauf des 31.12.2007 aufgelöst worden. Die den Versorgungsämtern übertragenen Aufgaben des sozialen Entschädigungsrechts sind gemäß Art. 1, Abschnitt I, § 4 des Straffungsgesetzes mit Wirkung vom 01.01.2008 auf die Landschaftsverbände übertragen worden. Ein Wechsel in der Behördenzuständigkeit und damit ein Rechtsträgerwechsel führt in anhängigen Streitverfahren zu einem Beteiligtenwechsel kraft Gesetzes (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts vom 05.07.2007 - B 9/9a SB 2/07 R). Die vom Landesgesetzgeber mit dem Straffungsgesetz vorgenommene Übertragung der Aufgaben im Bereich der Opferentschädigung auf die Kommunalverbände ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Kammer schließt sich insoweit der vom 6. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 11.03.2008 - L 6 VG 13/06 - vertretenen Auffassung an.

Die Klägerin ist durch den Bescheid vom 15.10.2001 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2002 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtmäßig. Ob und inwieweit die Härteregelung in § 10 a OEG für Schädigungen in der Zeit vom 23.05.1949 bis zum 15.05.1976 anwendbar ist und ob die zusätzlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift vorliegen, bedarf keiner Erörterung, denn bereits das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 OEG lässt sich nicht feststellen.

Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG). Die Anwendung dieser Vorschrift wird nach Satz 2 nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes gehandelt hat. Ein tätlicher Angriff liegt vor, wenn der Täter mit körperlicher Gewalt in feindseliger Absicht gegen das Opfer vorgeht oder wenn der Täter in strafbarer Weise die körperliche Integrität eines anderen rechtswidrig verletzt. Auch gewaltloser sexueller Missbrauch von Kindern ist tätlicher Angriff im Sinne des § 1 OEG (Urteile des Bundessozialgerichts vom 18.10.1995 - 9 RVg 4/93 - und - 9 RVg 7/93 -). Körperliche Misshandlungen durch die Eltern sind als tätliche Angriffe anzusehen. In der Zeit bis zum 18. Lebensjahr der Klägerin kommt eine Rechtfertigung durch das Züchtigungsrecht in Betracht. Ein Recht eines jeden Kindes auf eine uneingeschränkt gewaltfreie Erziehung besteht erst seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung am 02.11.2000 und der gesetzlichen Einfügung von § 1631 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 25.11.1986 - 4 StR 605/86 - hatten Eltern aber bei der Erziehung ihrer Kinder nur eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung. Die Züchtigung musste durch ein bestimmtes Verhalten veranlasst und zur Erreichung eines bestimmten Erziehungszweckes angemessen und erforderlich sein (Kunz/Zellner, Kommentar zum OEG, 4. Aufl. Rdnr. 22 zu § 1 OEG).

Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 1 Abs. 1 OEG i.V.m. § 1 Abs. 3 BVG). Die Wahrscheinlichkeit ist gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr bzw. gewichtigere Tatsachen für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang sprechen. Ursachen sind die Bedingungen, die wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Kommt einem der Umstände gegenüber dem anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechts.

Bei der Klägerin liegt ab September 1999 auf fachpsychiatrischem Gebiet folgende Gesundheitsstörung vor: "Angst und depressive Störung gemischt". Diese Gesundheitsstörung ist nicht allein oder annähernd gleichwertig neben anderen Ursachen auf körperliche Misshandlungen oder sexuellen Missbrauch der Klägerin zurückzuführen. Eine posttraumatische Belastungsstörung liegt nicht vor.

Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. T4. Das Gutachten ist unter Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen nach eingehender Untersuchung und Befunderhebung erstattet worden. Es ist ebenso wie die ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen schlüssig und überzeugend begründet. Die Ausführungen der Sachverständigen stehen auch im Einklang mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, denen im Interesse einer objektivierbaren Bewertung und einer am Gleichheitsgebot orientierten Gleichbehandlung normähnliche Wirkung beizumessen ist. Des Weiteren sind die die Anhaltspunkte ergänzenden Ausführungen des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 12./13.11.1997 zu Punkt 1.1 heranzuziehen. Diese fassen im Wesentlichen die von der Weltgesundheitsorganisation zusammengestellten ICD-10 zusammen. Nach Ziffer 71 Abs. 1 der Anhaltspunkte kommen durch psychische Traumen bedingte Störungen sowohl nach langdauernden psychischen Belastungen (z.B. in Kriegsgefangenschaft, in rechtsstaatswidriger Haft in der ehemaligen DDR) als auch nach relativ kurz dauernden Belastungen (z.B. bei Geiselnahme, Vergewaltigung) in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Die Störungen sind nach ihrer Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer verschieden: Sie können kurzfristigen reaktiven Störungen mit krankheitswertigen (häufig depressiven) Beschwerden entsprechen; bei einer Dauer von mehreren Monaten bis zu ein bis zwei Jahren sind sie in der Regel durch typische Symptome der posttraumatischen Belastungsstörung charakterisiert, ohne diagnostisch auf diese begrenzt zu sein; sie treten gelegentlich auch nach einer Latenzzeit auf. Anhaltend kann sich eine Chronifizierung der vorgenannten Störungen oder eine Persönlichkeitsänderung (früher: erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel) mit Misstrauen, Rückzug, Motivationsverlust, Gefühl der Leere und Entfremdung ergeben. Anhaltende Störungen setzen tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende und in der Regel andauernde Belastungen voraus. Bei länger anhaltenden Störungen und chronisch verlaufenden Entwicklungen ist zu prüfen, ob die Schädigungsfaktoren fortwirken oder schädigungsunabhängige Faktoren für die Chronifizierung verantwortlich sind. Auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter (z.B. sexueller Missbrauch, häufige Misshandlungen) sind nach Art und Intensität sehr unterschiedlich. Sie können ebenso zu Neurosen wie zu vorübergehenden und chronifizierten Reaktionen führen. Nach den Ausführungen des Sachverständigenbeirats vom 12./13.11.1997 setzt die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung eine genaue Orientierung an den von der ICD-10 und dem DSM IV vorgegebenen diagnostischen Kategorien voraus. Dies bedeutet insbesondere, dass die betroffene Person Opfer oder Zeuge eines Ereignisses war, bei dem das eigene Leben oder das anderer Personen bedroht war oder das eine ernste Verletzung zur Folge hatte oder eine Bedrohung für die eigene physische Unversehrtheit oder für die anderer Personen darstellte, und dass die Reaktion des/der Betroffenen Gefühle von intensiver Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen beinhaltete.

Liegen diejenigen Tatsachen vor, die nach den Anhaltspunkten geeignet sind, einen Ursachenzusammenhang zwischen einem belastenden Ereignis und dem Auftreten einer psychischen Erkrankung zu begründen, so ist eine bestärkte Wahrscheinlichkeit anzunehmen, die nur durch einen sicheren anderen Kausalverlauf widerlegt werden kann. Ein größerer zeitlicher Abstand zum schädigenden Ereignis kann den Grad der Wahrscheinlichkeit mindern (Urteile des Bundessozialgerichts vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R - und vom 18.10.1995 - 9/9a RVg 4/92 -).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Sachverständige Frau Dr. T4 nach Auffassung der Kammer zutreffend das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie den Kausalzusammenhang zwischen der vorliegenden Gesundheitsstörung und vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffen im Sinne von § 1 OEG verneint.

Ein zur Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erforderliches kurz oder lang anhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß lässt sich auch nach Auffassung der Kammer nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen. Kein Zeuge hat sexuellen Missbrauch bestätigt. Auch die Tante der Klägerin hat bei ihrer Vernehmung als Zeugin durch das Sozialgericht Köln lediglich angegeben, die Mutter der Zeugin habe insoweit eine Andeutung gemacht. Sie habe erzählt, dass die Klägerin hochgekommen sei und gesagt habe, sie habe sich vor ihrem Vater ausziehen müssen. Sie müsse zu dieser Zeit schon etwa 12 oder 13 Jahre alt gewesen sein. Als die Zeugin näher darauf habe eingehen wollen, habe die Mutter der Zeugin gesagt: "Lass es, belaste Dich nicht damit." Diese vage Angabe reicht nicht aus, die Überzeugung der Kammer von einem sexuellen Missbrauch zu begründen. Das angegebene Verhalten verwirklicht noch keinen Straftatbestand. Der Vater der Klägerin hat bei seiner Vernehmung als Zeuge am 26.02.2004 keine körperlichen Misshandlungen eingeräumt, die als vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriffe gegen die Person der Klägerin einzustufen wären. Der Vater hat als Zeuge ausgesagt, er habe der Klägerin höchstens mal einen leichten Schlag mit der Hand auf den Po oder auf die Hand gegeben, wenn sie nicht gehorcht habe und nicht das getan habe, was sie habe tun sollen. Das Äußerste, zu dem es gekommen sei, sei gelegentlich mal eine Kopfnuss gewesen. Er könne sich nicht daran erinnern, dass die Klägerin an der Nase geblutet habe, nachdem er ihr einen Klaps gegeben habe. Er habe die Klägerin nicht im Alter von zwei bis drei Jahren so an den Kopf geschlagen, dass sie durch die Küche geflogen sei und Prellungen davongetragen habe. Die Klägerin habe sich auch nicht mit 12 oder 13 Jahren vor ihm ausziehen müssen. Er könne ausschließen, dass die Klägerin ihn nackt gesehen habe. Sexuelle Übergriffe habe es nicht gegeben. Der vier Jahre jüngere Bruder der Klägerin U hat bei seiner Vernehmung als Zeuge am 26.02.2004 ausgesagt, er könne Gewalttätigkeiten der Eltern gegenüber der Klägerin oder sexuelle Übergriffe des Vaters nicht bestätigen. Er selbst habe mal Ohrfeigen bekommen, aber nie grundlos, z.B. einmal wegen Schulschwänzen. Bezüglich der Klägerin falle ihm kein konkretes Ereignis ein. Körperliche Misshandlungen der Klägerin durch die Eltern hat lediglich deren Tante nach ihren Angaben beobachtet. Bei ihrer Vernehmung durch das Sozialgericht Köln am 22.09.2003 hat sie als Zeugin ausgesagt, sie habe bis 1965 ebenso wie die Eltern der Klägerin im Haus der Großeltern gewohnt. Sie erinnere sich an einen Vorfall, bei dem der Vater der Klägerin plötzlich ausgeholt habe und mit der Hand fest gegen den Kopf der Klägerin geschlagen habe. Daraufhin sei sie durch die Küche geflogen und an den Herd gestoßen. Sie habe Prellungen erlitten und habe laut geweint. Die Klägerin sei zu dieser Zeit etwa zwei bis drei Jahre alt gewesen. Als sie noch in ihrem Elternhaus gewohnt habe, sei die Zeugin tagsüber berufstätig gewesen. Deswegen habe sie aus eigener Anschauung keine weiteren Gewaltanwendungen beobachten können. Sie könne sich an zwei Ereignisse erinnern, bei denen die Mutter der Klägerin diese mit der Hand geschlagen habe. Die Klägerin habe blaue Flecken und Beulen davongetragen. Dies sei in der Zeit gewesen, als sie noch im Haus der Eltern gewohnt hätten. Der Anlass für die Gewalt der Mutter seien nach Ansicht der Zeugin Nichtigkeiten gewesen. Sie könne sich nicht vorstellen, dass die Klägerin in irgendeiner Form diese Übergriffe provoziert habe. Sie sei sehr eingeschüchtert gewesen und habe niemanden an sich herangelassen. Die Nachbarn hätten sie bei Besuchen angesprochen und ihr erzählt, dass wieder "der Bär" los gewesen sei. Es sei Geschirr geflogen und Geschrei gewesen. Der von der Tante beobachtete Schlag des Vaters, bei dem die etwa zwei bis drei Jahre alte Klägerin durch die Küche flog, ist zwar als vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff zu werten. Er kann nach Ansicht der Kammer nicht als zur Erreichung eines bestimmten Erziehungszweckes angemessen und erforderlich angesehen werden. Die Sachverständige Frau Dr. T4 hat in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 03.07.2007 jedoch darauf hingewiesen, dass die von der Tante beschriebene Szene nicht den Kriterien des ICD-10 entspreche. Sie sei auch kein Hinweis auf eine fortgesetzte Gewalttätigkeit.

Soweit die Angaben der Klägerin, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen, sind sie zwar der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Angaben der Klägerin können aber lediglich hinsichtlich einer Ohrfeige der Mutter als glaubhaft zugrundegelegt werden, wobei unklar bleibt, ob diese durch das Züchtigungsrecht gerechtfertigt gewesen ist. Aufgrund der aussagepsychologischen Begutachtung durch die Diplom-Psychologin I2 kann lediglich eine Ohrfeige der Mutter noch anhand der Aussagequalität mit hinreichender Sicherheit als erlebnisbegründet bewertet werden. Die Klägerin hat insoweit gegenüber der Sachverständigen angegeben, als sie im Alter von etwa 14 oder 15 Jahren mit ihrer Freundin in ihrem Zimmer gewesen sei, sei die Mutter reingekommen und habe ihr eine Ohrfeige gegeben. Sie habe auch über irgendetwas geschimpft. Im Übrigen sind die Angaben zu körperlichen Misshandlungen durch die Eltern und zu sexuellen Übergriffen des Vaters unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlich-aussagepsychologischen Kenntnisstandes nicht mit ausreichender Sicherheit als glaubhaft zu bewerten.

Die Kammer hat keine Bedenken, sich den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen I2 anzuschließen. Das ausführliche Gutachten beruht auf einer gründlichen Exploration und ist schlüssig und überzeugend begründet. Es erfüllt die Anforderungen des Bundesgerichtshofs an ein Glaubhaftigkeitsgutachten (Urteil vom 30.07.1999 - 1 StR 618/98 -). Die Einwände der Klägerin vermögen nicht dazu zu führen, noch weitere der von der Klägerin geschilderten Vorfälle als vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriffe gegen ihre Person zu bewerten. Die Klägerin ist aussagetüchtig. D.h., sie ist grundsätzlich in der Lage, zutreffend wahrzunehmen, sich zu erinnern und das Erinnerte zutreffend wiederzugeben. Hinsichtlich der tatbestandsbezogenen Aussagetüchtigkeit ergeben sich aufgrund des Phänomens der Kindheitsamnesie Einschränkungen für die Darstellung von Ereignissen, die sich im Kleinkindalter ereignet haben sollen. Die Aussagezuverlässigkeit ist insbesondere für solche Gedächtnisinhalte erheblich eingeschränkt, die nicht kontinuierlich zugänglich waren, sondern erst im Zuge der (psychotherapeutisch unterstützten) rückblickenden Auseinandersetzungen mit Kindheitserfahrungen entstanden sind. Es finden sich empirische Belege dafür, dass die wiederholte Imagination eines Ereignisses zu einer Fehlinterpretation der Vorstellungsinhalte als Erinnerungen führen kann, und dass Menschen mit einem gut ausgeprägten bildlichen Vorstellungsvermögen - wie die Klägerin - eher dazu neigen, falsche Kindheitserinnerungen auszubilden. Imaginative Verfahren sowie Trance- und Hypnosesitzungen im Rahmen therapeutischer Behandlungen erhöhen das Risiko für die Fehlattribution von Gedächtnisquellen. Die Klägerin berichtete, dass in der Therapie bei Frau A-M (1993 bis 1995) im Rahmen von Trance- und Hypnosesitzungen Empfindungen und Bilder zu sexuellem Missbrauch aufgetaucht seien. Zwischen den Sitzungen seien ebenfalls Bilder von sexueller Gewalt sowie von körperlicher Gewalt aufgetaucht. Auch wenn - wie die Klägerin vorträgt - Erinnerungen an körperliche oder sexuelle Übergriffe nicht im Rahmen einer EMDR-Sitzung aufgetaucht bzw. bearbeitet worden sind, ist danach nicht auszuschließen, dass Erinnerungen im Rahmen von Therapie verfälscht worden sind. Bei eingeschränkter Aussagezuverlässigkeit sind besondere Anforderungen an die Aussagequalität zu stellen, um die Erlebnisbegründetheit mit ausreichender Sicherheit feststellen zu können. Für den Ausschluss der Hypothese irrtümlicher Falschangaben sind handlungs- und wahrnehmungsnahe, raum-zeitlich vernetzte Situationsschilderungen von differenzierter Qualität erforderlich, die konsistent in die berichtete Gesamtdynamik eingebettet und konstant wiedergegeben werden.

Die genannten Qualitätsanforderungen sind lediglich für die Ohrfeige durch die Mutter im Alter von 14 Jahren erfüllt. Für den fraglichen Ereignisbereich weiterer körperlicher Misshandlungen durch die Mutter im Kindesalter fehlen hinreichend qualitätsreiche Situationsschilderungen, anhand derer mit ausreichender Sicherheit ein Erlebnisbezug festgestellt werden könnte.

Für den fraglichen Ereignisbereich der körperlichen Misshandlungen durch den Vater schilderte die Klägerin beispielhaft vier Einzelsituationen. Die Schilderungen weisen weder eine differenzierte Aussagekonstanz noch eine ausreichende inhaltliche Qualität auf, die sich mit ausreichender Sicherheit als Hinweis auf einen Erlebnisbezug interpretieren ließe. Einzelne Details im Rahmengeschehen der berichteten Einzelsituationen sowie einzelne deliktspezifische Elemente in der dargestellten Gesamtdynamik sprechen für einen Erlebnishintergrund der berichteten körperlichen Misshandlungen durch den Vater. Angesichts der Einschränkungen in der Aussagezuverlässigkeit stehen Detaillierungsbrüche im Kerngeschehen einer Feststellung der Erlebnisbegründetheit für die zentralen Gewaltschilderungen (Faustschläge, Zu-Boden-Werfen, Ohrfeigen) jedoch entgegen. Hinsichtlich der von der Klägerin angegebenen Schläge durch den Vater nach ihrer Bemerkung über das Mittagessen mit etwa 12 Jahren waren im Kern der fraglichen Gewalthandlung auch bedeutsame Inkonstanzen festzustellen (Ohrfeige oder Auf-den-Boden-Stoßen, Körperposition der Klägerin, Ort des fraglichen Geschehens). Bei der aussagepsychologischen Begutachtung gab die Klägerin erstmals an, als sie sich im Alter von etwa 13 oder 14 Jahren in ihrem Zimmer eingeschlossen habe und das Radio lautgestellt habe, habe ihr Vater den Strom ausgestellt. Als er gedroht habe, die Tür einzutreten, habe sie aufgemacht. Dann sei er hereingestürmt und habe auf sie eingeschlagen. Bei dieser Schilderung mangelte es an einer Vernetzung des Rahmengeschehens mit dem zentralen fraglichen Kerngeschehen (Faustschläge auf Rücken und Arme). Die spezifische Qualität der Schilderung fiel im zentralen fraglichen Kerngeschehen im Vergleich zur Darstellung des fraglichen Rahmengeschehens deutlich ab. Die Klägerin machte nähere Angaben zu den fraglichen Schlägen erst auf zunehmend spezifischere Fragen. Die Verwertbarkeit dieser durch Fragen hervorgerufenen Angaben ist vor dem Hintergrund der individuellen Leistungsbesonderheiten eingeschränkt (gutes Vorstellungsvermögen, ausgeprägte Phantasietätigkeit, langjährige mentale Auseinandersetzungen mit Gewalterfahrungen in der Kindheit). Es kann nicht mit ausreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass es sich um eine aggravierte Darstellung einer weniger gewalttätigen Auseinandersetzung handelt.

Die Klägerin gab an, dass fragliche "massivere" sexuelle Handlungen (orale und manuelle Manipulationen am Geschlechtsteil des Vaters) etwa ab dem 12. Lebensjahr nachgelassen hätten, während Berührungen über der Kleidung nach Einsetzen der Regelblutung stattgefunden hätten. Die Berührungen über der Kleidung sind wenig detailliert geschildert. Eine Einbettung und Vernetzung auf Handlungs- bzw. Situationsebene wird nicht in qualifizierter Form vorgenommen. Das berichtete eigenpsychische Erleben weist keine gesteigerte Qualität auf. Insgesamt ist die Darstellung von Berührungen über der Kleidung in der vorliegenden Qualität nicht hinreichend, um einen Erlebnishintergrund mit hinreichender Sicherheit feststellen zu können. Einen sexuellen Charakter der Situationen, in denen sich ihr Vater bei ihr "ausgeheult" habe, schilderte die Klägerin bei der aussagepsychologischen Exploration nicht. Die berichteten manuellen sexuellen Handlungen am Geschlechtsteil des Vaters werden wenig konkret und wenig detailliert geschildert. Es mangelt an einer situativen Einbettung und einer individuell durchzeichneten Darstellung, die von einer auf Schemawissen basierenden, vorstellungsgeleiteten Konstruktion mit ausreichender Sicherheit abgrenzbar wäre. Die Klägerin berichtete über ein erstmaliges Auftauchen von Gedächtnisinhalten an manuelle sexuelle Handlungen in Form eines Flashbacks im Anschluss an das Vorgespräch zur Anhörung beim Versorgungsamt. Flashbacks setzen sich nach Forschungsergebnissen häufig aus einer Mischung aus realen und befürchteten oder vorgestellten Ereignissen zusammen. Es handelt sich um komplexe Konstruktionen und nicht um genaue Erinnerungsbilder früherer Erlebnisse. Auch die aussageimmanente Qualität der Schilderung von oralen sexuellen Handlungen am Geschlechtsteil des Vaters im Vorschul-/Schulalter ist nicht ausreichend, um eine Erlebnisbasis mit ausreichender Sicherheit annehmen zu können. Die fraglichen oralen Handlungen werden sowohl in der Darstellung des Rahmen- als auch des Kerngeschehens zu wenig konkret und zu wenig detailliert geschildert. Eine situative Einbettung fehlt. Orale sexuelle Handlungen hatte die Klägerin bei ihrer Befragung im Versorgungsamt noch nicht berichtet. Die Erweiterung der Aussage um zuvor nicht zugängliche Erinnerungen an sexuelle Interaktionen ist aus gedächtnispsychologischer Sicht problematisch, da Verwechselungen von Gedächtnisquellen wirksam geworden sein könnten. Eine mentale Auseinandersetzung mit etwaigen sexuellen Übergriffen könnte zu einer Ausbildung von - subjektiv als wahr interpretierten - Pseudoerinnerungen geführt haben. Soweit die Klägerin berichtet hat, ihr Vater habe sie nachts in ihrem Zimmer an die Brust gefasst, als sie 12 Jahre alt gewesen sei, ist ebenfalls die aussageimmanente Qualität nicht hinreichend, um eine Erlebnisbegründetheit mit ausreichender Sicherheit annehmen zu können. Das fragliche Geschehen wird ebenfalls zu wenig konkret und zu wenig detailliert geschildert, als dass eine Abgrenzung zu einer etwaigen vorstellungsgeleiteten, auf Schemawissen basierenden Darstellung mit ausreichender Sicherheit möglich wäre. Eigenpsychisches Erleben wird zwar geschildert (steif und starr dagelegen, Biergeruch), ebenso wie ein Gesprächsinhalt mit Bezug zum fraglichen Geschehen (Frage des Vaters, ob sie das schön finde). Diese Aussageelemente sind allerdings zu wenig individuell durchzeichnet und nicht ausreichend in die Darstellung eines Handlungsablaufs eingebettet, als dass die Angaben ausschließlich mit einer zugrundeliegenden Erlebnisbasis erklärt werden könnten.

Als Erklärungsmöglichkeiten für eine wahrnehmungs- und situationsferne Prägung der Schilderungen zentraler Gewaltmomente kommen unter Zugrundelegung der Erlebnishypothese motivationale und gedächtnisbezogene Prozesse in Frage. Für die Klägerin könnte es eine psychische Überforderung darstellen, sich in den ursprünglichen Wahrnehmungskontext fraglicher Gewalterlebnisse zurückzuversetzen. Der Erinnerungszeitraum ist lang, so dass in der Zwischenzeit vielfältige, potentiell verfälschende Einflüsse auf die Erinnerungen einwirken konnten. Insbesondere können durch eine jahrelange psychotherapeutisch unterstützte mentale Auseinandersetzung ursprüngliche Wahrnehmungen durch nachträgliche Bewertungen überlagert und damit unzugänglich geworden sein. In der Gesamtschau der Untersuchungsbefunde lässt sich vor allem die Alternativhypothese, dass es sich bei den Schilderungen fortgesetzter Misshandlungen der Eltern um irrtümliche, d.h. auf Gedächtnisfehlern beruhende Falschangaben handeln könnte, nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen. In den Angaben der Klägerin finden sich zwar hinreichende Anhaltspunkte für originäre Erinnerungen an eine familiäre Atmosphäre, die von elterlicher Aggression, emotionaler Vernachlässigung und gestörten Beziehungen geprägt war. Eine nicht-intentionale Aggravation des Ausmaßes möglicher, gegen die Klägerin gerichteter elterlicher Aggressionen lässt sich jedoch vor dem Hintergrund der Einschränkungen in der Aussagezuverlässigkeit nicht ausschließen. Angesichts der vorliegenden Befunde ist anzunehmen, dass manche der berichteten Erinnerungen an Misshandlungen durch die Eltern wahr sind, manche eine Mischung aus Fakten und Imagination, und andere falsch sein könnten. Eine Abgrenzung originärer Erinnerungen von gänzlich vorstellungsbasierten oder mit Vorstellungen vermischten Gedächtnisinhalten gelang mit aussagepsychologischen Mitteln nicht.

Die Kammer hat keine Bedenken, sich den überzeugenden Ausführungen der aussagepsychologischen Sachverständigen in vollem Umfang anzuschließen. Danach erscheint es zwar möglich, dass die Klägerin von ihren Eltern körperlich misshandelt und von ihrem Vater sexuell missbraucht worden ist. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Angaben der Klägerin der Entscheidung des Gerichts zugrunde legen zu können. Dies gilt auch für den von der Klägerin angegebenen sexuellen Missbrauch durch einen Fremdtäter, zu dem die aussagepsychologische Sachverständige in der Beweisanordnung nicht befragt worden war. Die Sachverständige hat insoweit ausgeführt, bei der Klägerin zeige sich eine Bereitschaft zum rekonstruktiven Füllen von Erinnerungslücken. Dies werde u.a. an Aussageveränderungen im Bericht über fragliche sexuelle Handlungen eines Fremdtäters besonders deutlich. Das fragliche Kerngeschehen war in der Befragung im Versorgungsamt über ein Herunterziehen der Unterhose der Klägerin und die Angabe, das Geschlechtsteil des Mannes sei unbekleidet gewesen, nicht hinausgegangen. Die Klägerin hatte damals angegeben, nicht mehr zu wissen, was ganz genau passiert sei. In der Exploration bei der aussagepsychologischen Begutachtung schilderte die Klägerin dann manuelle Handlungen des Mannes an seinem und ihrem Geschlechtsteil. Eine im zeitlichen Verlauf zunehmend konkretere und feiner detaillierte Darstellung eines Ursprungsereignisses, für das zu einem früheren Befragungszeitpunkt Erinnerungslücken angegeben worden waren, erschwert eine Abgrenzung der Darstellung von vorstellungsbasierten, nachträglichen Rekonstruktionen. Während das Rahmengeschehen der fraglichen Interaktionen mit dem Fremdtäter detailliert, inhaltlich qualitätsreich und konstant vorgetragen wurde, brach die inhaltliche Aussagequalität des berichteten sexuellen Kerngeschehens erheblich ein. Die vorliegende Aussagestruktur deutet auf eine originäre Erinnerungsgrundlage für ein sexuell übergriffiges, aversives Erlebnis mit einem Fremdtäter hin. Eine Erinnerungsbasis für das berichtete zentrale Kerngeschehen (manuelle Handlungen des Fremdtäters an sich selbst und am Genitalbereich der Klägerin) lasse sich anhand der Aussagequalität nicht belegen. Nach den genannten Ausführungen der Sachverständigen vermag das Gericht die Angaben der Klägerin über das Verhalten des fremden Mannes insoweit nicht als glaubhaft zugrunde zu legen, als das geschilderte Verhalten den Tatbestand des sexuellen Kindesmissbrauchs erfüllt.

Mit den Einwänden der Klägerin hat sich die aussagepsychologische Sachverständige in ihren ergänzenden Stellungnahmen vom 20.06.2007 und 08.02.2008 auseinandergesetzt und ist bei ihrer Beurteilung geblieben. Soweit die Klägerin beanstandet hat, dass die Aussagequalität nicht angemessen beurteilt worden sei, weist die Sachverständige darauf hin, das Geschilderte sei nur dann von einer erlebnisfernen Darstellung abzugrenzen, wenn die Aussageperson die Schilderungen nicht ohne Rückgriff auf eigenes Erleben hätte vortragen können. Z.B. könnten in der Schilderung der Situation des Greifens an die Brust schema-nahe Elemente wie die Frage des Vaters, ob sie das schön finde, oder die Angabe, sie habe steif und starr dagelegen und aus Angst "ja" gesagt, nicht mit hinreichender Sicherheit von einer erlebnisfernen Übertragung aus anderen Wissensquellen abgegrenzt werden. Ebenso wäre die Angabe der Klägerin, dass ihr Schlafanzugoberteil in der fraglichen Situation hochgeschoben worden sei, auch bei fehlendem Erlebnisbezug zu leisten. Gleiches gelte für den Vortrag von Elementen wie der Ritterburg oder einem Streit mit dem Bruder. Damit sei der Erlebnishypothese nicht widersprochen. Die Alternativhypothese einer erlebnisfernen Darstellung könne aber auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.

Die Klägerin hat vorgetragen, ihre Schilderung, sie habe ihr Sportzeug häufig unter der Kleidung getragen, um blaue Flecke nicht offenbaren zu müssen, und habe manchmal angegeben, ihre Regel zu haben, um sich nicht entkleiden zu müssen, lasse sich nicht mit der Hypothese einer bewussten oder unbewussten Falschaussage in Einklang bringen. Dem vermag die Kammer im Hinblick auf die überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen I2 nicht zu folgen. Die Sachverständige hat in ihrem Gutachten die Angabe über das Verstecken von Verletzungsspuren als deliktspezifisches Aussageelement gewertet. Eine Abgrenzung dieser Angaben von einer etwaigen nachträglichen, wahrnehmungsfernen Bewertung sei jedoch aufgrund der fehlenden situativen Einbettung erschwert. Es mangele an konkreten Verknüpfungen mit konkreten Misshandlungssituationen. Ohne qualitätsreiche handlungsnahe bzw. situationsspezifische Schilderungen der zentralen fraglichen Gewalthandlungen sei ein aussagepsychologischer Beleg der Angaben vor dem Hintergrund der Einschränkungen in der Aussagezuverlässigkeit nicht mit hinreichender Sicherheit möglich. Diese Ausführungen hält die Kammer für überzeugend.

Soweit die Klägerin vorgetragen hat, anders als Erinnerungen an einzelne Traumata seien Erinnerungen an vielfältige gleichartig ablaufende Geschehensverläufe typischerweise in der Erinnerung ausgesprochen schwer voneinander abzutrennen, ist dies von der Sachverständigen berücksichtigt worden. Sie hat darauf hingewiesen, dass unter Zugrundelegung der Erlebnishypothese Gedächtniseffekte der Reihung bzw. Verschmelzung zu erwarten sind. Wiederkehrende Elemente des fraglichen Kerngeschehens könnten dann einzelnen Situationen nicht mehr zuverlässig zugeordnet werden, so dass es zu gedächtnispsychologisch nachvollziehbaren Abweichungen kommen könnte. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20.06.2007 hat die Sachverständige darauf hingewiesen, dass auch in Aussagen über langjährig gleichförmig-wiederkehrende Ereignisse gemäß forensischer Erfahrung eine Qualität von Hinweiswert auf einen Erlebnishintergrund grundsätzlich nachweisbar ist. Fehlt - wie hier - ein hinreichendes Maß an Qualität, kann dies nicht durch den Hinweis auf ein langes Erinnerungsintervall und eine Vielzahl ähnlicher Handlungen ausgeglichen werden.

Soweit die Klägerin rügt, es fehle eine Auseinandersetzung damit, wie die Erinnerungsfähigkeit und -qualität der Klägerin im Rahmen der posttraumatischen Belastungsstörung zu bewerten sei, hat die Sachverständige in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 20.06.2007 darauf hingewiesen, dass Qualitätsmängel der Aussage mit etwaigen spezifischen Erinnerungseigenheiten aufgrund einer etwaigen posttrauma-tischen Belastungsstörung erklärt werden könnten. Diese könnten jedoch nicht durch einen Hinweis auf eine solche - hypothetisch zugrunde gelegte - Diagnose behoben werden.

Zur von der Klägerin vorgetragenen Kritik einer Übertragung von Qualitätsmängeln einzelner Situationsschilderungen auf andere Situationsschilderungen hat die Sachverständige angemerkt, dass in ihrem Gutachten die Qualität jeder einzelnen Situationsschilderung separat beurteilt worden ist.

Soweit die Klägerin die unzureichende Würdigung von Angaben der Tante beanstandet, hat die Sachverständige zutreffend darauf hingewiesen, dass Angaben Dritter im Rahmen aussagepsychologischer Begutachtungen bei der Bildung und Bewertung der Hypothesen über das Zustandekommen der Aussage zu berücksichtigen sind, aus den Angaben jedoch keine Schlüsse über die Faktizität des fraglichen Ereignisses gezogen werden. Bezüglich der Misshandlungen durch die Mutter ergäben sich angesichts der Aussageentwicklung (zunächst keine eigenen Erinnerungen, Berufung auf Erzählungen der Tante, dann eigene Erinnerungen an Schläge der Mutter im frühen Kindesalter) Anhaltspunkte für die Annahme, dass es im Laufe der Auseinandersetzungen mit Kindheitserfahrungen zu einer Vermischung von Erinnerungen an Erzählungen der Tante mit originären Erinnerungen an selbst Erlebtes gekommen sein könnte. Bei der aussagepsychologischen Exploration hat die Klägerin eine konkrete Situation beschrieben, in der die Mutter sie mit einem Trockentuch an den Kopf geschlagen habe. Soweit die Klägerin insoweit gegen die Ausführungen der Sachverständigen einwendet, die Hypothese einer Erinnerungsübertragung aus Berichten der Tante sei für diesen konkreten Erlebnisablauf auszuschließen, da die Tante von dieser Situation keine Kenntnis gehabt habe, vermag dies nicht zu einer anderen Beurteilung zu führen. Die genannte Schilderung kann auch deshalb nicht als erlebnisbegründet zugrunde gelegt werden, weil der Ablauf der fraglichen Situation nach den Ausführungen im Gutachten wenig detailliert geschildert wurde und zum Teil auf Spekulationen beruhte. Details, die weit eher vergessensanfällig seien (Aussehen des Trockentuchs und der Kittel), seien präziser geschildert worden als auf die eigentliche fragliche Handlung bezogene Details. Eine Konfiguration spezieller Qualitätsmerkmale, die eine Bewertung der Darstellung der fraglichen Schläge mit ausreichender Sicherheit ermöglichen würde, lasse sich nicht erkennen.

Soweit die Klägerin nach Vorliegen der ergänzenden Stellungnahme der Sachverständigen I2 nach wie vor beanstandet hat, die Frage der traumabedingten abweichenden Erinnerungsleistung sei nicht thematisiert und die entsprechenden standardwissenschaftlichen Untersuchungen seien nicht herangezogen worden, hat sich die Sachverständige hierzu in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 08.02.2008 geäußert. Sie hat darauf hingewiesen, dass im Gutachten ausdrücklich auf die einschlägige aussagepsychologisch-wissenschaftliche Publikation von R. Volbert aus dem Jahre 2004 Bezug genommen wurde, welche sich umfassend mit den aktuellen gedächtnisbezogenen Erkenntnissen der Traumaforschung auseinandersetzt. Die Sachverständige weist darauf hin, dass im Gutachten eine möglicherweise erschwerte Zugänglichkeit und sprachliche Wiedergabe von Erinnerungen aufgrund eines traumatischen Charakters angeführt wurde. Die Sachverständige führt aus, dass eine Schilderung nur dann als erlebnisbegründet befundet werden kann, wenn die Hypothese einer erlebnisfernen Darstellung nicht mehr als Erklärung für die vorgefundene Struktur und Qualität der Aussage herangezogen werden kann. Durch den Hinweis auf eine diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung könnten Qualitätsmängel nicht behoben werden.

Unter Berücksichtigung der überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen I2 hat die Sachverständige Frau Dr. T4 nach Auffassung der Kammer das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung zutreffend verneint. Entgegen der Auffassung der Klägerin haben der Sachverständigen Frau Dr. T4 die Entlassungsberichte des F1. Krankenhauses C vorgelegen und sind nach Ansicht des Gerichts auch von dieser ausreichend berücksichtigt worden. In ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 03.07.2007 hat die Sachverständige Frau Dr. T4 überzeugend darauf hingewiesen, dass ihre psychodynamisch ausgerichtete Untersuchung von zwei Stunden unter Einbezug der ausführlichen ambulanten und stationären Vorberichte für die Diagnosestellung ausreichend gewesen ist. Es bestehe kein Zweifel, dass die Klägerin in einer familiären Atmosphäre mit elterlicher Aggression, emotionaler Vernachlässigung und gestörtem Beziehungsverhalten aufgewachsen sei und dadurch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gehindert worden sei. Ob die familiäre Atmosphäre den in der ICD-10 bzw. DSM IV geforderten Kriterien zur Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung entspreche, die ja das Vorliegen eines Ereignisses oder Geschehens von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß erfordere, könne nicht mit Sicherheit erschlossen werden. Weder die vertiefenden Fragen noch die Durchsicht des aussagepsychologischen Gutachtens hätten Hinweise auf Erlebnisinhalte ergeben, die den Kriterien einer schwersten Traumatisierung (wie im ICD-10 gefordert) entsprächen. Soweit die Klägerin vorträgt, eine posttraumatische Belastungsstörung könne nicht ausgeschlossen werden, weil die Tante eine körperliche Misshandlung geschildert habe, hat die Sachverständige Frau Dr. T4 darauf hingewiesen, dass auch die von der Zeugin aufgeführte Szene nicht den für eine posttraumatische Belastungsstörung erforderlichen Kriterien entspreche. Des Weiteren hat sie darauf hingewiesen, dass die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung in ärztlichen Berichten oft auf den Angaben der Patienten zu traumatischen Erfahrungen beruht und nicht deren Vorliegen beweist. Entgegen ihren Angaben sei die Klägerin über Inhalte von Alpträumen und Flashbacks sowie über Gewalttaten befragt worden. Sie habe darauf keine konkreten Antworten gegeben und auf das Zusatzgutachten verwiesen. Dass die Art der Erinnerungsbildung bei traumatischen Erlebnissen ebenso wie die Frage der Abrufbarkeit dieser Erinnerungen grundsätzlich nicht vergleichbar ist mit Erinnerungsbildung und Abruf bei nicht traumatischen Erlebnissen, hat die Sachverständige in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.01.2008 nicht in Frage gestellt. Soweit in dem von der Klägerin zitierten Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27.04.2006 ausgeführt ist, dass beim Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung unvollständige und sogenannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden können, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann, hat die Sachverständige Frau Dr. T4 in ihrer ergänzenden Stellungnahme vom 16.01.2008 darauf hingewiesen, dass bei der Klägerin keine dissoziative Erkrankung bzw. dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert worden ist. In ihrer letzten ergänzenden Stellungnahme ist die Sachverständige Frau Dr. T4 bei ihrer Auffassung geblieben, dass die jetzt auftretenden rezidivierenden Gesundheitsstörungen mehr auf ein Zusammenwirken atmosphärisch ungünstiger Entwicklungsbedingungen zurückzuführen ist als auf reale schwere Misshandlungen oder fortgesetzten sexuellen Missbrauch. Nach den Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. T4 im Gutachten vom 23.06.2005 wird in den psychotherapeutischen Berichten übereinstimmend auf die Besonderheiten der biographischen Anamnese hingewiesen. Die Klägerin war ein unerwünschtes Kind. Der Vater war Alkoholiker und unberechenbar aggressiv. Die Mutter wird als schwach, ablehnend und wenig fürsorglich geschildert. Es gab viel Streit zwischen den Eltern. Die ablehnende Haltung der Mutter und die unberechenbare Aggressivität sowie grenzüberschreitende weinerliche Anhänglichkeit des Vaters habe schon früh eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung bei der Klägerin verursacht. Auf dem Boden dieser gestörten Persönlichkeitsentwicklung mit unsicheren Selbst- und Objektrepräsentanzen haben dann aktuelle Auslöser, wie zwischen 1981 und 1993 Krampfanfälle sowie später Belastungssituationen und Misserfolge in Partnerschaft und Studium die Gesundheitsstörungen Angst und Depression hervorgerufen. Aufgrund der defizitären Ich-Entwicklung war die Klägerin nur unzureichend in der Lage, Belastungsmomente adäquat zu verarbeiten. Die Kammer hat keine Bedenken, sich den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Frau Dr. T4 auch insoweit anzuschließen.

Nach alledem war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved