S 20 75/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 75/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 355/13
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte Kosten für die Beschaffung eines türkischen Passes in Höhe von 182,20 EUR aus Sozialhilfemitteln als Zuschuss statt – wie bewilligt – als Darlehen zu übernehmen hat.

Der 0000 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er steht unter amtsgerichtlich angeordneter Betreuung. Er bezieht von der Beklagten laufend ergänzende Sozialhilfe (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII), zuletzt bewilligt vom 01.11.2012 bis 31.10.2013 durch Bescheid vom 21.11. und 19.12.2012. Der Kläger war bisher erheblich pflegebedürftig, ist inzwischen schwerstpflegebedürftig und bezieht seit Juni 2013 Leistungen nach der Pflegestufe II.

Am 18.02.2013 beantragte der Kläger die Übernahme der Kosten für die Beschaffung eines neuen Passes in Höhe von 208,00 EUR als Zuschuss, hilfsweise als Darlehen, gemäß § 73 SGB XII mit der Begründung, der alte Pass sei abgelaufen, in Deutschland bestehe Passpflicht.

Durch Bescheid vom 21.02.2013 lehnte die Beklagte die Übernahme der Passgebühren nach § 73 SGB XII ab. Bei Passkosten handele es sich nicht um einen laufenden, sondern einen unregelmäßig anfallenden Bedarf. Wenn es keine andere Möglichkeit gebe, die Kosten für die Passgebühren aufzubringen, könne ein Darlehen nach § 37 Ab. 1 SGB XII beantragt werden.

Gegen die Ablehnung der Übernahme der Passkosten als Zuschuss erhob der Kläger am 25.02.2013 Widerspruch. Am selben Tag beantragte er ein Darlehen für die Passkosten gem. § 37 SGB XII in Höhe von 208,00 EUR.

Durch Bescheid vom 28.02.2013 bewilligte die Beklagte dem Kläger ein Darlehen für die Passbeschaffung in Höhe von 179,20 EUR. Die Höhe des Darlehens begründete sie damit, dass für die Ausstellung des neuen türkischen Passes 208,00 EUR anfielen; da die Gebühren für einen Personalausweis als mit dem Regelsatz abgegolten anzusehen seien, werde der derzeitige geltende Gebührensatz für die Beschaffung eines (deutschen) Personalausweises in Höhe von 28,80 EUR in Abzug gebracht.

Am 12.04.2013 teilte der Betreuer des Klägers der Beklagten mit, dass er die Gesamtsumme für den Reisepass – 211,00 EUR – bezahlt habe. Er legte hierzu eine entsprechende Quittung vor und bat um Überweisung des Betrages auf sein Konto. Er erklärte sich damit einverstanden, dass (zur Tilgung des Darlehens) monatlich 20,00 EUR von der Sozialhilfe einbehalten werden könne.

Daraufhin änderte die Beklagte durch Bescheid vom 16.04.2013 den Darlehensbetrag auf 182,20 EUR (211,00 EUR abzüglich 28,80 EUR). Die Rückzahlung des Darlehens habe in neun Raten a 20,00 EUR und einer zehnten Rate von 2,20 EUR zu erfolgen.

Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 24.04.2013 mit ausführlicher Begründung und Hinweis auf mehrere sozialgerichtliche Entscheidungen zurück.

Dagegen hat der Kläger am 22.05.2013 Klage erhoben. Er weist nochmals darauf hin, dass aufgrund der einschlägigen Rechtsvorschriften eine Passbeschaffungspflicht des Leistungsempfängers bestehe. Der Bedarfssatz des SGB XII enthalte nur die Passkosten für Deutsche in Höhe von 28,80 EUR, nicht aber die Kosten für einen ausländischen Ausweis. Da es sich nicht um einen laufenden Bedarf handele, entfalle eine Anwendung der Vorschrift des § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII. Der Kläger meint, ein Darlehen nach Maßgabe der Regelung des § 37 SGB XII scheide aus, weil diese Vorschrift voraussetze, dass ein vom Regelbedarf umfasster Bedarf nicht gedeckt werden könne, es sich aber bei ausländischen Passkosten gerade nicht um einen in der Bemessungsgrundlage des Eckregelsatzes enthaltenen Bedarfs handele. Dass dies so sei, liege schon in der Natur der Sache, weil dieser Bedarf nur bei ausländischen Hilfeempfängern anfalle. Auch aufgrund seiner Höhe werde deutlich, dass er nicht berücksichtigt worden sein könne, da er ansonsten wegen der mehr als über 700 % erhöhten Beträge zu den Passkosten von Deutschen zu einer Erhöhung der Kosten für Dienstleistungen im Eckregelsatz hätte führen müssen. Ausgehend davon, dass ein Pass alle fünf Jahre neu ausgestellt werden müsse, erfordere ein Betrag von 211,00 EUR einen monatlichen Ansparbetrag von ca. 3,51 EUR für einen Ein-Personen-Haushalt. Wenn aber Kosten für einen ausländischen Pass nicht im Regelbedarf enthalten seien, käme schon nach dem Gesetzeswortlaut dieser Vorschrift ein Darlehen nach § 37 SGB XII nicht in Betracht. Vielmehr sei der Anspruch nach § 73 SGB XII begründet. Hierbei handele es sich um einen aus verfassungsrechtlichen Gründen geschaffenen Hilfsanspruch für Leistungsempfänger des SGB XII. Dieser zusätzliche Anspruch werde immer dann notwendig, wenn ein bestimmter atypischer Bedarf außerhalb der Regelleistung nicht gedeckt werden könne. Dies treffe auf die Kosten für die Beschaffung eines türkischen Passes zu, jedenfalls soweit sie die im Regelbedarf abgedeckten Kosten für die Beschaffung eines deutschen Personalausweises in Höhe von 28,80 EUR überschreiten.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.02.2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2013 sowie unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 28.02.2013 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 16.04.2013 zu verurteilen, ihm Kosten für die Beschaffung des türkischen Reisepasses in Höhe von 182,20 EUR als Zuschuss zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verbleibt bei ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsauffassung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen den Kläger betreffenden Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Der Kläger wird durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da sie nicht rechtswidrig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Übernahme von Kosten für die Beschaffung seines türkischen Passes aus Sozialhilfemitteln als Zuschuss. Die Entscheidung der Beklagten, die Kosten im Wege eines Darlehens zu übernehmen, ist nicht zu beanstanden; insbesondere hat die Beklagte von dem ihr eingeräumten Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht.

Gemäß § 27 Abs. 1 SGB XII ist Hilfe zum Lebensunterhalt Personen zu leisten, die ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften oder Mitteln bestreiten können. § 27a SGB XII bestimmt, dass der für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendige Lebensunterhalt insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens sowie Unterkunft und Heizung umfasst (Abs. 1 Satz 1). Der gesamte notwendige Lebensunterhalt nach Abs. 1 (mit Ausnahme der Bedarfe nach dem Zweiten bis Vierten Abschnitt) ergibt den monatlichen Regelbedarf (Abs. 2 Satz 1). Zur Deckung der Regelbedarfe sind monatliche Regelsätze zu gewähren. Der Regelsatz stellt einen monatlichen Pauschalbetrag zur Bestreitung des Regelbedarfs dar, über dessen Verwendung die Leistungsberechtigten eigenverantwortlich entscheiden; dabei haben sie das Eintreten unregelmäßig anfallender Bedarfe zu berücksichtigen (Abs. 3). Nach § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII wird der individuelle Bedarf im Einzelfall abweichend vom Regelsatz festgelegt, wenn ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.

Anders als nach dem bis 31.12.2010 geltenden Sozialhilferecht sind durch das zum 01.01.2011 in Kraft getretene "Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe nach § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch" – Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz (RBEG) – nunmehr die Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren im Regelbedarf abgebildet (vgl. § 5 Abs. 1 unter Abteilung 12 – andere Waren und Dienstleistungen – ). Hierzu heißt es in der Gesetzesbegründung (BT-Drucksache 17/3404 S. 64): "Bei sonstigen Dienstleistungen werden die neufestgelegten Gebühren von 28,80 EUR bezogen auf zehn Jahre für den Personalausweis, die künftig auch hilfebedürftige Personen zu entrichten haben, zusätzlich berücksichtigt. Die sich durch Einführung des neuen Personalausweises ergebenden Gebühren sind – da erst im Jahre 2010 beschlossen – in den Verbrauchsausgaben der EVS 2008 nicht erfasst, werden aber ab dem 2011 anfallen. Zusätzlich wird unter der Position "Sonstige Dienstleitungen, nicht genannte" ein Betrag von 0,25 EUR berücksichtigt. (Daraus ergeben sich 3,00 EUR im Jahr und für die Gültigkeitsdauer des neuen Personalausweises insgesamt 30,00 EUR.)" Daraus folgt, dass § 73 SGB XII nicht mehr als Anspruchsgrundlage für die Übernahme der Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren herangezogen werden kann. Das Urteil des LSG NRW vom 23.05.2011 (L 20 AY 19/08) erging noch zu dem bis 31.12.2010 geltenden Recht, als diese Kosten noch nicht im Regelbedarf abgebildet waren. Die Kammer hält daher die rechtlichen Erwägungen zu einem Anspruch nach § 73 SGB XII für das frühere – hier nicht anzuwendende – Recht für nachvollziehbar und überzeugend. Unter dem ab 01.01.2011 – hier anzuwendenden – Recht scheidet § 73 SGB XII jedoch als Anspruchsgrundlage aus.

Nach § 73 Satz 1 SGB XI können Leistungen auch in sonstigen Lebenslagen erbracht werden, wenn sie den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigen. Geldleistungen können als Beihilfe oder Darlehen erbracht werden (Satz 2). Eine sonstige Lebenslage, die den Einsatz öffentlicher Mittel rechtfertigt, besteht, wenn es um die Regelung einer so genannten unbenannten Bedarfslage geht, die jedoch eine gewisse Vergleichbarkeit mit den ansonsten von der Sozialhilfe abgedeckten Lebenslagen aufweist (sog. atypische Bedarfslage). Eine "unbenannte Bedarfslage" liegt vor, wenn der Lebenssachverhalt weder einer der anderen in § 8 SGB XII genannten Hilfearten unterfällt, noch in den sonstigen Bereichen des (Sozial-)Rechts eine abschließende Regelung erfährt (LSG, Urteil vom 23.05.2011 – L 20 AY 19/08). Passbeschaffungskosten stellen – jedenfalls seit 01.01.2011 – keine atypische Bedarfslage i. S. v. § 73 SGB XII dar (vgl. auch LSG NRW, Beschlüsse vom 22.07.2010 – L 7 B 204/09 AS, vom 03.01.2011 – L 7 AS 460/10 B, vom 25.02.2011 – L 19 AS 2003/10 B und vom 28.01.2013 – L 12 AS 1836/12 NZB; Urteil der Kammer vom 05.06.2012 – S 20 SO 179/11).

Die Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren gehören – wie dargelegt – seit dem 01.01.2011 zum notwendigen Lebensunterhalt im Sinne von §§ 27, 27a, 28 SGB XII. Indem die Gebühren für die Beschaffung von Ausweispapieren seit dem 01.01.2011 Eingang in die Bemessung des Regelsatzes gefunden haben, kommt allenfalls eine Übernahme der Kosten nach § 27a Abs. 4 Satz 1 oder nach § 37 Abs. 1 SGB XII, nicht mehr aber nach § 73 SGB XII in Betracht.

§ 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII scheidet als Anspruchsgrundlage aus, da sich diese Vorschrift nur auf laufende, nicht nur einmalige, besondere, aber vom Regelbedarf grundsätzlich erfasste Bedarfe bezieht (vgl. Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Auflage, § 28 SGB XII Rn. 20). Zu Recht hat die Beklagte daher durch Bescheide vom 28.02. und 16.04.2013 die streitigen Kosten der Passbeschaffung gem. § 37 Abs. 1 SGB XII in Form eines ergänzenden Darlehns übernommen. Die Vorschrift bestimmt: "Kann im Einzelfall ein von den Regelsätzen umfasster und nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf auf keine andere Weise gedeckt werden, sollen auf Antrag hierfür notwendige Leistungen als Darlehen erbracht werden." Kosten für die Beschaffung von Ausweispapieren werden grundsätzlich seit 01.01.2011 von den Regelsätzen umfasst. "Im Einzelfall" des Klägers liegt jedoch die Besonderheit vor, dass die Kosten für die Beschaffung eines türkischen Reisepasses höher sind als diejenigen, die nach dem RBEG im Regelbedarf abgebildet sind. Die Beschaffung des türkischen Passes war jedoch aus aufenthaltsrechtlichen Gründen ein nach den Umständen unabweisbar gebotener Bedarf. Der Kläger hat glaubhaft gemacht, dass er ihn nicht auf andere Weise als durch Sozialhilfemitteln decken konnte. Sein Betreuer hat ihm die Passgebühren von 211 EUR zwar bezahlt, jedoch auch nur für den Kläger darlehensweise. Unter diesen Umständen war es geboten, dass die Beklagte dem Kläger die entsprechenden Mittel als Darlehen zur Verfügung stellte. Ihre Entscheidung, die Sozialhilfe "nur" als Darlehen zu gewähren und auch nur in Höhe von 128,20 EUR statt in Höhe der tatsächlichen Kosten von 211 EUR, ist nicht ermessensfehlerhaft. Sie hat bei der Höhe des Darlehensbetrages berücksichtigt, dass 28,80 EUR (die Höhe der Gebühr für die Beschaffung eines deutschen Personalausweises) im Regelbedarf angesetzt sind, und deshalb die tatsächlichen Kosten um diesen Betrag vermindert. Dass sie weitere Umstände des Klägers nicht bei ihren Erwägungen berücksichtigt hat, macht die Darlehensbescheide nicht ermessensfehlerhaft. Die Bedarfsdeckung über § 37 SGB XII sieht das Darlehen als Regelfall ("sollen") vor. Die festgesetzte Tilgungshöhe entspricht dem Vorschlag des Klägers im Schreiben vom 12.04.2013.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die im Hinblick auf den Streitwert an sich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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