L 9 AS 350/08 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 29 AS 1139/08 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 350/08 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Auch Fahrtkosten zur Schule oder zur Ausbildungsstätte können im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R) im Einzelfall an SGB II - Leistungsempfänger als Hilfe in besonderen Lebenslagen nach § 73 SGB XII vom Sozialhilfeträger zu erstatten sein.
Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 16. September 2008 wird zurückgewiesen.

Der Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller zu tragen.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Beigeladenen gegen den eingangs genannten Beschluss des Sozialgerichts hat keinen Erfolg.

Das Sozialgericht hat zu Recht den Beigeladenen im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen zu 1. und zu 3. ab dem 1. September 2008 bis zur Bestandskraft eines Widerspruchsbescheides die durch Vorlage der Monatskarten nachgewiesenen Fahrtkosten für öffentliche Verkehrsmittel zwischen ihrem Wohnort und der F-Schule in Weilburg zu erstatten. Zur Begründung wird gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen. Lediglich das Rubrum war von Amts wegen dahingehend zu berichtigen, dass die noch nicht volljährigen Antragstellerinnen zu 1. und zu 2. von den Eltern und nicht nur von der Mutter vertreten werden, da vorliegend für von § 1629 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) abweichende Vertretungsbefugnisse keine Anhaltspunkte bestehen.

In der Sache führt das Beschwerdevorbringen des Beigeladenen nicht zu einer Änderung der getroffenen Entscheidung zu seinen Gunsten.

Zwar trifft es grundsätzlich zu, dass nach dem Konzept des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch (SGB II) eine Erhöhung der Regelleistung für atypische Bedarfe ausgeschlossen ist (vgl. zuletzt BSG, Urteil vom 25. Juni 2008 - B 11b AS 19/07 R -). Dieser Grundsatz ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts konsequent durchzuhalten, so dass die vom Beigeladenen favorisierten Lösungsansätze über eine "grundgesetzkonforme Auslegung" des § 20 SGB II bzw. der Darlehensgewährung nach § 23 Abs.1 SGB II aufgrund der eindeutigen Rechtsprechung ausgeschlossen sind. In seiner grundlegenden Entscheidung vom 7. November 2006 (B 7b AS 14/06 R) hat das Bundessozialgericht festgestellt, dass die Grenzen einer zulässigen verfassungskonformen Auslegung überschritten werden, wenn entgegen der eindeutigen gesetzlichen Regelung in § 3 Abs. 3 Satz 2 SGB II, wonach eine abweichende Festlegung des Bedarfs ausgeschlossen ist, dennoch im Ergebnis höhere Regelsätze zugesprochen werden. Ebenso scheidet nach der genannten Entscheidung die Anwendung des § 23 Abs. 1 SGB II aus, weil diese für wiederkehrende Bedarfe (wie auch die monatlich entstehenden Fahrtkosten) nicht anwendbar ist.

Demnach gibt es nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts in Fällen, in denen eine strukturelle Unterscheidung zwischen Ansprüchen nach dem SGB II und dem SGB XII nicht gerechtfertigt ist, nur die Möglichkeit, einer atypischen Bedarfslage über die Anwendung des § 73 SGB XII, 8. Auflage 2008, der die Hilfe in sonstigen Lebenslagen regelt, zu begegnen.

Zwar weist auch das Bundessozialgericht darauf hin, dass dabei § 73 SGB XII nicht zu einer allgemeinen Auffangregelung für Leistungsempfänger des SGB II mutieren darf. Als Korrektiv wird daher verlangt, dass bei einer wertenden Betrachtung mit anderen Bedarfslagen (vgl. Berlit, LPK-SGB XII, 8. Auflage 2008, § 73 Rdnr. 5) der zu regelnde Bedarf eine gewisse Nähe zu den speziell in den §§ 47 – 74 SGB XII geregelten Bedarfslagen aufweist.

Zwar kann diese Voraussetzung nicht generell für alle Arten von Fahrtkosten, auch nicht für alle Schulbeförderungskosten als gegeben erachtet werden. In dem vorliegenden Einzelfall liegen die Verhältnisse jedoch so, dass eine "sonstige Lebenslage" als gegeben anzusehen ist, die geeignet ist, Sozialleistungen auszulösen. Dabei können unter den Begriff "sonstige Lebenslage" auch Lebens- und Bedarfslagen gefasst werden, die durch Veränderung sozialer Verhältnisse entstanden sind oder bei denen sich die Problemwahrnehmung durch gesellschaftliche Entwicklungen verändert hat (vgl. Berlit a.a.O. § 73, Rdnr. 5).

Von einem derartigen Sachverhalt kann vorliegend ausgegangen werden. Das Sozialgericht hat insoweit zutreffend darauf hingewiesen, dass erst jüngst auch von Seiten der Politik festgestellt wurde, dass Kinder und Jugendliche aus ärmeren Haushalten nicht dieselben Chancen haben, am Bildungserfolg zu partizipieren wie Kinder und Jugendliche aus besser situierten Elternhäusern. Es ist deshalb sicherzustellen, dass der Zugang zur Bildung nicht nur formal gleichberechtigt allen Kindern und Jugendlichen offensteht, sondern dass auch die materiellen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Angebote tatsächlich beanspruchen zu können (vgl. BT-Drucks. 16/4486). Dabei ist auch von Bedeutung, dass durch die Gewährung einer angemessenen Ausbildung die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass zukünftig der Lebensunterhalt durch Arbeit sichergestellt werden kann und ein Leistungsbezug entfällt.

Vorliegend besuchen die Antragstellerinnen zu 1. und zu 3. eine Berufsfachschule, bei der die Ausbildung voraussichtlich im Juni/Juli 2009 enden wird. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es unverhältnismäßig, wenn die Ausbildung vorzeitig abgebrochen werden müsste, weil die Beförderungskosten für öffentliche Verkehrsmittel in Höhe von 55,30 Euro pro Person und Monat aus den geleisteten Regelsätzen nicht aufgebracht werden könnten. Zu Recht hat das Sozialgericht auch die Berechtigung der Inanspruchnahme öffentlicher Verkehrsmittel bejaht, denn es ist nicht ersichtlich, wie die Antragstellerinnen zu 1. und zu 3. aus dem ländlichen Bereich, in dem sie wohnen, in zumutbarer Weise zu der xx,5 km entfernt gelegenen nächsten Stadt Weilburg gelangen könnten. Die Verurteilung zur Kostenübernahme ist daher zu Recht erfolgt.

Dem steht auch nicht entgegen, dass der Beigeladene erst durch die - zwingende - gerichtliche Beiladung (vgl. insofern BSG, Urteil vom 25. Juni 2008 - B 11b AS 19/07 R -) in das Verfahren einbezogen worden ist. Bereits früher ist insofern entschieden worden, dass ein Vorverfahren seitens des Beigeladenen nicht erforderlich ist (vgl. BSG Urteil vom 4. Februar 1965 - 11/1 RA 312/63 - SozR § 75 SGG Nr. 27) und dass der Beigeladene auch verurteilt werden kann, wenn die Klage gegen den Beklagten (Antragsgegner) abgelehnt wird.

Auch die Begrenzung der einstweiligen Anordnung auf den Abschluss eines Widerspruchsverfahrens ist nicht zu beanstanden. Der Beigeladene wäre nach allgemeinen Regeln verpflichtet gewesen, ab Kenntnis der Leistungsvoraussetzungen, das heißt, ab dem Zugang des Beiladungsbeschlusses, ein Verwaltungsverfahren einzuleiten und dies sodann mit einem Bescheid oder Widerspruchsbescheid zum Abschluss zu bringen. Wann dies geschieht, liegt letztlich beim Beigeladenen selbst. Für das einstweilige Anordnungsverfahren bildet jedenfalls der bestandskräftige Abschluss des Verwaltungsverfahrens eine brauchbare Begrenzung der vorläufig gewährten Leistungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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