L 9 B 199/05 AL

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 8 AL 618/04
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 B 199/05 AL
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Wird ein mit der Klage vollständig eingereichter Prozesskostenhilfeantrag erst zwei Monate nach dem erstinstanzlichen Urteil beschieden, handelt es sich um einen sog. steckengebliebenen Prozesskostenhilfeantrag, der ausschließlich auf pflichtwidrigen Versäumnissen des Sozialgerichts beruht.
Die umstrittene Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht spielt dann keine Rolle, wenn die hinreichende Erfolgsaussicht zu jedem maßgeblichen Zeitpunkt (Antragstellung, Entscheidungsreife des PKH-Antrages in erster Instanz, Schluss der mündlichen Verhandlung, erstinstanzliche Entscheidung, Entscheidungsreife des Beschwerdeverfahrens, Beschwerdeentscheidung) zu bejahen ist (vgl. HLSG 10.1.2005 - L 6 B 124/04 AL).
Hat die Beklagte den Eintritt einer Sperrzeit wegen Selbstkündigung der Klägerin festgestellt, ist deren Behauptungen mit Beweisangebot (Mobbing, Verdoppelung der Arbeitszeit, Fehlen von Pausen) nachzugehen zur Prüfung eines wichtigen Grundes bzw. des Vorliegens einer besonderen Härte.
Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes gemäß § 121 Abs. 2 ZPO erscheint nach Umfang und Schwierigkeit der Sache insbesondere auch dann geboten, wenn das Sozialgericht elementare Verfahrensvorschriften, insbesondere den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) verletzt hat.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichtes Marburg vom 21. Oktober 2005 aufgehoben. Der Antragstellerin wird für das vor dem Sozialgericht Marburg unter dem Aktenzeichen S 8 AL 618/04 geführte Verfahren Prozesskostenhilfe ab 2. Juli 2004 unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., A-Stadt, bewilligt.

Gründe:

Im zugrunde liegenden Rechtsstreit ist die Rechtmäßigkeit einer Sperrzeit gemäß § 144 Sozialgesetzbuch 3. Buch (SGB 3) von 12 Wochen (28. November 2003 bis 19. Februar 2004) streitig.

Der am 3. November 2005 bei dem Sozialgericht Marburg eingegangenen Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat (14. November 2005), gegen den die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 21. Oktober 2005 (in dem Verfahren S 8 AL 618/04) war stattzugeben, der ablehnende Beschluss war aufzuheben, PKH ab Klageerhebung zu bewilligen und Rechtsanwalt B. beizuordnen.

Bei dem angefochtenen Beschluss des Sozialgerichtes Marburg vom 21. Oktober 2005 handelt es sich um einen sog. steckengebliebenen Prozesskostenhilfeantrag (vgl. LAG Hamm 30.3.2001 – 4 Ta 693/00 = juris KARE600005275), da er fast zwei Monate nach dem abweisenden Urteil vom 30. August 2005 erlassen wurde. Die verspätete Entscheidung beruht ausschließlich auf pflichtwidrigen Versäumnissen des Sozialgerichts (vgl. OLG SH 12.3.2001 – 2 W 167/00 = OLGR Schleswig 2001, 340 = juris KORE435062001). Denn durch die ohne erkennbaren Grund verspätete Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag wurde die Rechtsverfolgung der Antragstellerin unverhältnismäßig erschwert und damit das aus Art. 3 Abs. 1, 20 Abs. 3, 19 Abs. 4 GG folgende verfassungsrechtliche Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes verletzt (vgl. BVerfG vom 13.3.1990, 2 BvR 94/88 = BVerfGE 81, 347 und vom 30.10.1991 – 1 BvR 1386/91 = NJW 1992, 889).

Nach § 114 Zivilprozessordnung (ZPO), der im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) entsprechende Anwendung findet, erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Senat geht - insoweit in Übereinstimmung mit dem Sozialgericht - entsprechend der von der Antragstellerin abgegebenen Erklärungen (30.6.2004 und 4.11.2005) über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie den eingereichten Unterlagen davon aus, dass sie nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung für ein Verfahren erster Instanz in Höhe von durchschnittlich 464,- EUR (vgl. Becker, in: SGb 2002, Heft 8, S. 428 ff., 438) aufzuwenden.

Die Rechtsverfolgung durch die Antragstellerin bot nach Auffassung des erkennenden Senates – insoweit entgegen der Ansicht des Sozialgerichts - in erster Instanz hinreichende Erfolgsaussicht jedenfalls im Sinne einer gegebenenfalls teilweisen, nicht entfernt liegenden, Erfolgsmöglichkeit. Diese hinreichende Erfolgsaussicht besteht auch jetzt noch im Beschwerde-/Berufungsverfahren. Im Hinblick auf diese Erfolgsaussicht erscheint die Klageerhebung auch nicht als mutwillig. Die in der Rechtsprechung außerordentlich umstrittene Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Beurteilung der hinreichenden Erfolgsaussicht (vgl. HLSG 10.1.2005 L 6 B 124/04 AL m.w.N. = juris KSRE055270627), spielt im vorliegenden Fall keine Rolle, da das erstinstanzliche abweisende Urteil von der Antragstellerin mit der Berufung angefochten ist (L 9 AL 247/05) und die hinreichende Erfolgsaussicht zu jedem maßgeblichen Zeitpunkt (Antragstellung, Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrages in erster Instanz, Schluss der mündlichen Verhandlung der ersten Instanz, erstinstanzliche Entscheidung, Entscheidungsreife des Beschwerdeverfahrens, Beschwerdeentscheidung) zu bejahen ist (vgl. HLSG s. o.). Eine Sachverhaltsaufklärung durch das Sozialgericht ist vollständig unterblieben. Außer einer Eingangsverfügung, Ladungsverfügung (das persönliche Erscheinen der Antragstellerin wurde nicht angeordnet) und Durchführung der mündlichen Verhandlung ist das Sozialgericht nicht tätig geworden. Lediglich die von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten wurden zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Den von der Antragstellerin ausführlich vorgetragenen und unter Beweis gestellten Gründen für die von ihr vorgenommene Kündigung des Arbeitsverhältnisses (am 18.11. zum 27.11.2003), die bei Prüfung des Vorliegens eines wichtigen Grundes (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGB 3) bzw. einer besonderen Härte (§ 144 Abs. 3 Nr. 2b SGB 3) entscheidungserheblich sind, ist das Sozialgericht in keiner Weise nachgegangen, obwohl sich weitere Ermittlungen im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 103 SGG dem Gericht hätten aufdrängen müssen. Die Antragstellerin hat ein Attest ihres behandelnden Arztes vorgelegt, mit dem eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wurde (20.11. bis 29.11.2003) und als Diagnosen neben schmerzhaften Verspannungen "Mobbing am Arbeitsplatz" angegeben wurde. Die Antragstellerin hat mit der Klageschrift vorgetragen, dass sie gemobbt worden sei, indem ihr immer wieder Schlecht- und Fehlleistungen vorgeworfen worden seien, die wöchentlichen Arbeitszeiten von 15 Stunden seien nicht eingehalten worden, sondern sie habe 30 Stunden wöchentlich arbeiten müssen, ohne dass eine Änderung des Anstellungsvertrages erfolgt wäre und ihr seien keine Pausen gewährt worden, insbesondere keine Mittagspause; sie sei dem seelischen Druck bzw. der Belastung nicht gewachsen gewesen und habe keine andere Möglichkeit gesehen, als das Arbeitsverhältnis zu beenden. Gespräche mit der stellvertretenden Verkaufsleiterin Frau D. – hätten nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Hierzu wurde als Zeugin Frau E. angeboten.

Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes gemäß § 121 Abs. 2 ZPO erscheint nach Umfang und Schwierigkeit der Sache insbesondere auch deshalb geboten, da das Sozialgericht elementare Verfahrensvorschriften, insbesondere den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG verletzt hat.

Der Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§§ 153, 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 1 ZPO, § 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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