L 2 R 4779/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 3997/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 4779/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Der Klägerin werden Gerichtskosten in Höhe von 225,- EUR auferlegt.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der Rente wegen Erwerbsminderung unter Berücksichtigung des ungekürzten Zugangsfaktors im Streit. Die Klägerin begehrt die Rente ohne Abschläge.

Mit Bescheid vom 14.02.2008 gewährte die Beklagte der 1943 geborenen Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung vom 01.11.2005 bis 31.05.2008 in Höhe von 563,69 EUR monatlich (in Ausführung des Urteils vom 14.01.2008). Dabei wurde für die Inanspruchnahme der Rente für jeden Kalendermonat vor Ablauf der Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor von 1,0 um 0,003 gekürzt. Hierdurch verringerte sich die Summe aller Entgeltpunkte von 24,3124 auf 23,8019.

Dagegen legte die Klägerin Widerspruch ein, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04.09.2008 zurückwies. Nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI sei der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente gewesen seien, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen werde, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginne eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 60. Lebensjahres, sei die Vollendung des 60. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI maßgebend. Die Zeit des Bezugs einer Rente vor Vollendung des 60. Lebensjahres des Versicherten gelte gemäß § 77 Abs. 2 Satz 3 SGB VI nicht als Zeit der vorzeitigen Inanspruchnahme. Deshalb sei die Höhe des Abschlags bei Erwerbsminderungsrenten, die vor der Vollendung des 60. Lebensjahres geleistet würden, auf die Abschlagshöhe begrenzt, die für den Zeitpunkt der Vollendung des 60. Lebensjahres gelte. Für Erwerbsminderungsrenten, die vor dem 60. Lebensjahr geleistet würden, sei danach der Zugangsfaktor und 10,8 % zu mindern. Danach entspreche der angefochtene Bescheid der geltenden Rechtslage.

Dagegen hat die Klägerin am 30.09.2008 Klage zum Sozialgericht Freiburg erhoben (Az. S 4 R 4812/08) und vortragen lassen, dass die Begründung des Beklagten eine Scheinbegründung sei. Auch sei das Rentenniveau in den letzten zwölf Jahren deutlich abgesenkt worden. Vor dem Hintergrund auch anderer gesetzlicher Kürzungen und Zugriffe auf die Rentenanwartschaften sei eine Unverhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung anzunehmen. Die Kürzung widerspreche Verfassungsrecht.

Das SG hat im Hinblick auf das beim Bundesverfassungsgericht anhängige Verfahren 1 BvR 3588/08 das Ruhen des Verfahrens angeordnet (Beschluss vom 20.10.2008). Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 11.01.2011 die Kürzung der Erwerbsminderungsrente auch bei einem Rentenbeginn vor dem 60. Lebensjahr für verfassungsgemäß erklärt hatte, hat die Beklagte den Rechtsstreit wieder angerufen (Az. S 11 R 3997/11) und die Rücknahme der Klage angeregt. Die Klägerin hat an der Klage festgehalten und geltend gemacht, in keinem anderen europäischen Land gebe es Abschläge auf Renten bei Erreichen eines bestimmten Lebensalters. Die der angefochtenen Entscheidung zu Grunde liegende gesetzliche Regelung sei mit den höherrangigen Normen der EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) nicht zu vereinbaren.

Mit Gerichtsbescheid vom 17.10.2012 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen und ergänzend auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) verwiesen. Eine von der Klägerin geltend gemachte Unvereinbarkeit mit Regelungen der EMRK lasse sich nicht nachvollziehen.

Gegen den dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 19.10.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat er am 16.11.2012 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt und zur Begründung wie bereits im SG-Verfahren vorgetragen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 17. Oktober 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. September 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin höhere Rente wegen Erwerbsminderung unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Mit Schreiben vom 02.07.2013 wurde der Klägerbevollmächtigte darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf die vorliegende Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung zum Zugangsfaktor die Berufung missbräuchlich sein könnte und der Senat die Verhängung von Mutwillens- bzw. Missbrauchskosten zu prüfen haben wird.

Mit Schreiben vom 10.07.2013 und 16.07.2013 haben die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Gewährung ihrer Rente wegen Erwerbsminderung ohne Abschläge auf der Grundlage einer Berechnung mit dem ungekürzten Zugangsfaktor 1,0.

Streitgegenstand ist die Höhe der Rente wegen Erwerbsminderung der Klägerin, wobei zwischen den Beteiligten im Rahmen der Rentenberechnung allein der Zugangsfaktor streitig ist. Die Beklagte hat zu Recht bei der Berechnung des Rentenzahlbetrages den Zugangsfaktor von 0,979 zugrunde gelegt.

Die Kürzung des Zugangsfaktors ergibt sich bei der am 11.15.2005 beginnenden Rente aus § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der ab dem 01.01.2001 bis 31.12.2007 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20.12.2000 (BGBl I S. 1827), wonach der Zugangsfaktor für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 63. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0 ist, begrenzt allerdings auf 36 Monate (§ 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Dies bedeutete für die am 28.05.1943 geborene Klägerin, die die Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.11.2005 in Anspruch genommen hat, eine entsprechende Kürzung für 7 Kalendermonate.

Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI ist auch verfassungsgemäß. Das BVerfG hat nach den Beschlüssen vom 11.01.2011 (1 BvR 3588/08 u.a., s. auch BVerfG, Beschl. v. 01.02.2011 - 1 BvR 1262/10, veröffentlicht in juris) eine Verletzung des Grundrechts auf Eigentum aus Art 14 Abs. 1 Satz 1 GG sowie des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art 3 Abs. 1 GG nicht feststellen können. Der Senat hat sich bereits in seinem Urteil vom 22.02.2012 (LSG Baden-Württemberg - L 2 R 6/12) hiermit auseinandergesetzt und auf die Bindungswirkung nach § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, wonach auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg daran gebunden ist, hingewiesen. Da das BVerfG § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI als mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat (BVerfG aaO - 1 BvR 3588/08), erlangt seine Entscheidung sogar Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG). Der Senat sieht deshalb zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).

Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerin einen Anspruch aus Art 14 EMRK i.V.m. Art 1 des Protokolls Nr. 1 (Schutz des Eigentums) zur EMRK vom 20.03.1952 ((Zusatzprotokoll zur EMRK), BGBl II 1956, 1880) herleiten will, hat er rechtliche Gesichtspunkte nicht vorgetragen und sind auch neue nicht ersichtlich. Zu Rang und Reichweite der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle innerhalb der deutschen Rechtsordnung hat sich das Bundesverfassungsgericht ausführlich geäußert (BVerfG vom 04.05.2011 - 2 BvR 2333/08 u.a. - Juris RdNr 86 ff m.w.N.). Danach stehen die EMRK und ihre Zusatzprotokolle im Rang eines Bundesgesetzes und damit unter dem Grundgesetz, sie sind jedoch auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR bei der Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes heranzuziehen. Nachdem die Vereinbarkeit von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI mit dem Grundgesetz bereits vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, kann die Klägerin hieraus keine weitergehenden Rechte herleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 193, 192 SGG. Die Klägerseite hat trotz des Hinweises des Vorsitzenden, dass aufgrund der zwischenzeitlich vorliegenden Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der streitigen Regelung in § 77 SGB VI bei Fortführung der Berufung die Verhängung von Missbrauchskosten nach § 192 SGG in Betracht käme, an der Berufung festgehalten. Daher waren Missbrauchskosten gem. § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 3 i.V.m. § 184 Abs. 2 SGG in Höhe von 225,- EUR festzusetzen.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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