L 10 R 4927/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 1903/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 4927/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 30.10.2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 1960 geborene philippinische Klägerin hat nach ihren Angaben auf den P. eine Ausbildung zur Verkäuferin absolviert, dort jedoch keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet. In Deutschland war sie erstmals vom 06.06.1988 bis 04.07.1988 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog vom 05.07.1988 bis 08.08.1988 Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit. Danach war sie erst wieder vom 21.09.1998 bis zum 14.11.1998 versicherungspflichtig beschäftigt und bezog vom 30.11.1998 bis 31.12.1999 Entgeltersatzleistungen. Vom 04.01.2000 bis 22.07.2001 und vom 28.09.2001 bis 13.01.2002 bezog sie Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe, unterbrochen durch Zeiten des Bezugs von Krankengeld. Vom 14.01.2002 bis 28.04.2002 bezog sie eine Entgeltersatzleistung wegen Arbeitslosigkeit/Berufsausbildung und übte sodann vom 29.04.2002 bis 15.07.2002 eine versicherungspflichtige Beschäftigung als angelernte Masseurin aus. Daran anschließend bezog sie vom 16.07.2002 bis 03.10.2003 Krankengeld, vom 04.10.2003 bis 31.12.2004 wiederum Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und vom 01.01.2005 bis 30.04.2008 Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf den Versicherungsverlauf zum Bescheid vom 10.08.2011 Bezug genommen.

Im Mai 2003 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Im Befundbericht hierzu berichtete Dr. W. , Facharzt für Allgemeinmedizin, über eine schizoaffektive Psychose mit depressiven Psychosyndromen, derentwegen die Klägerin seit 04.06.2002 arbeitsunfähig sei. Mit Bescheid vom 13.06.2003 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Im Zuge des (erfolglosen) Widerspruchsverfahrens gelangten mehrere Arztbriefe des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Bad S. über stationäre Behandlungen der Klägerin zur Verwaltungsakte. Im Arztbrief des ZfP Bad S. vom 09.06.2000 wurde ausgeführt, die Klägerin habe sich vom 06.05. bis 31.05.2000 zum 14. Mal wegen einer akuten Exazerbation einer schizoaffektiven Psychose in dortiger stationärer Behandlung befunden. Die Klägerin sei zuletzt im Mai 1999 trotz psychotischer Symptomatik mangels ausreichender Gründe einer Unterbringung nach dem Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker (UBG) nach Hause entlassen worden. Im Arztbrief des ZfP Bad S. vom 01.08.2002 über eine stationäre Behandlung vom 26.06. bis 30.07.2002 auf Grund einer Unterbringung der Klägerin nach dem UBG wurde gleichfalls die Diagnose einer akuten Exazerbation einer schizoaffektiven Psychose gestellt. Die Klägerin habe sich seit 1988 bereits mehrmals auf Grund einer ähnlichen Symptomatik in dortiger stationärer psychiatrischer Behandlung befunden, zuletzt in der Zeit vom 03.01. bis 30.01.2001. In einem weiteren Arztbrief des ZfP Bad S. vom 29.01.2003 wird über eine neuerliche stationäre Behandlung auf Grund einer Unterbringung nach dem UBG in der Zeit vom 06.12.2002 bis 07.01.2003 berichtet. Die Diagnose lautete wiederum schizoaffektive Psychose. Die Beklagte veranlasste weiterhin eine nervenfachärztliche Begutachtung. Im Gutachten vom 15.10.2003 stellte Dr. M.-T. die Diagnosen einer schizo¬affektiven Psychose bei derzeit depressivem Bild und eines medikamentös induzierten Parkin¬son¬oids. Rein nervenärztlich sei die Klägerin derzeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auch stundenweise für leichte Tätigkeiten nicht einsetzbar, und zwar sowohl im Hinblick auf das medikamentös induzierte Parkinsonoid wie auch im Hinblick auf die bestehende depressive Stimmung und die Antriebsminderung im Rahmen der Grunderkrankung. Im Arztbrief vom 27.03.2003 führte der behandelnde Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie S. aus, die Klägerin habe bei den Vorstellungen am 13.02., 14.03. und 24.03.2003 in psychischer Hinsicht das Bild einer ausgesprochen depressiven Symptomatik geboten. Er stellte die Diagnose einer schizoaffektiven Psychose, derzeit depressives Psychosyndrom und eines ausgeprägten extrapyramidalen Syndroms.

Am 27.12.2004 beantragte die Klägerin Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Nachdem sie zu einer Untersuchung beim Nervenarzt K. in Neu-Ulm nicht erschienen war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.06.2005 den Rentenantrag wegen Verletzung von Mitwirkungspflichten ab. Im Widerspruchsverfahren veranlasste die Beklagte eine nervenärztliche Untersuchung der Klägerin durch Dr. L. , Facharzt für Nervenheilkunde. Dieser gelangte im Gutachten vom 26.01.2006 zu dem Ergebnis, die Klägerin sei wegen einer schizophrenen Psychose und einem Parkinsonoid seit Jahren nicht mehr in der Lage, mindestens drei Stunden täglich Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten. Die Klägerin sei auch aktuell, auch unter regelmäßiger psychiatrischer und psychopharmakologischer Therapie, nicht kompensiert. Noch immer seien psychotische Merkmale festzustellen. Eine Besserung sei eher unwahrscheinlich. Er befürchte eine zunehmende schizophrene Defektsymptomatik. Mit Widerspruchsbescheid vom 22.05.2006 wies die Beklagte den Widerspruch zurück mit der Begründung, die Klägerin sei seit dem 14.04.2003 voll erwerbsgemindert. Bis zum Eintritt der Erwerbsminderung seien nur 58 Monate mit auf die Wartezeit anzurechnenden Beitragszeiten zurückgelegt. Die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (60 Monate) sei damit nicht erfüllt. Auch die Voraussetzungen einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung lägen nicht vor.

Hiergegen richtete sich die am 14.06.2006 zum Sozialgericht Ulm erhobene Klage (S 2 R 2258/06). Das Sozialgericht vernahm schriftlich den behandelnden Nervenarzt S. als Zeugen. In seiner schriftlichen Zeugenaussage teilte dieser mit, die Klägerin stehe seit 1991 in seiner ärztlichen Behandlung. Im Wesentlichen handle es sich um eine schizoaffektive Psychose mit sehr häufigen Stimmungsschwankungen und depressiven Einbrüchen sowie Erregungszuständen. Schon seit einigen Jahren bestehe ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich. Ergänzend teilte er mit, er könne nach Aktenlage keine belastbare Aussage über den Eintritt der Erwerbsminderung treffen. Der gleichfalls als sachverständige Zeuge vernommene Dr. M. , Assistenzarzt am ZfP Bad S. , teilte mit, die Klägerin leide seit mindestens 1998 an einer schizoaffektiven Psychose mit meist manischen Episoden. Seit dieser Zeit habe sie sich mehrmals in stationärer psychiatrischer Behandlung befunden, zuletzt auf Grundlage eines richterlichen Unterbringungsbeschlusses vom 02.02.2006 bis zum 02.03.2006. Aus hiesiger Sicht sei eine zeitlich andauernde Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit auf Grund der Gesundheitsstörung durchaus vorstellbar; konkrete Aussagen seien zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Die Entlassung sei als arbeitsfähig erfolgt. Mit Urteil vom 07.04.2008 wies das Sozialgericht die Klage mit der Begründung ab, die Klägerin sei zwar voll erwerbsgemindert. Es bestehe jedoch kein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung, da der Versicherungsfall (Eintritt der Erwerbsminderung) vor April 2003 eingetreten sei und deshalb die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Die hiergegen eingelegte Berufung (L 3 R 2796/08) wies das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Beschluss vom 02.03.2009 zurück. Erst ab Juni 2003 seien 60 Monate mit Beitragszeiten belegt und damit die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung erst bei einem Versicherungsfall ab dem 01.06.2003 erfüllt. Zur Überzeugung des Senats sei die Klägerin jedoch bereits seit einem davor liegenden Zeitpunkt wegen einer schizoaffektiven Psychose voll erwerbsgemindert. Der Senat stütze sich hierbei auf die Aussage aller die Klägerin im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren behandelnden bzw. begutachtenden Ärzte. Ausweislich des Arztbriefes des ZfP Bad S. vom 09.06.2000 habe sich die Klägerin dort vom 06. bis 31.05.2000 bereits zum 14. Mal in stationärer Behandlung befunden; bei ihr habe keinerlei Krankheits- und Behandlungseinsicht bestanden. Auch dem Arztbrief über die stationäre Behandlung vom 06.12.2002 bis 07.01.2003 könne entnommen werden, dass auf Grund der schizoaffektiven Psychose bereits zu diesem Zeitpunkt das Leistungsvermögen der Klägerin aufgehoben und sie nicht mehr in der Lage gewesen sei, eine verwertbare Tätigkeit in nennenswertem Umfang auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verrichten. Dementsprechend habe auch Dr. W. angegeben, eine Belastbarkeit der Klägerin für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. deren Schulungsfähigkeit sei fraglich und solle geprüft werden. Es bestehe keine Belastbarkeit für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, ungefähr im Jahr 2001 sei eine Verschlechterung im Gesundheitszustand der Klägerin eingetreten. Sowohl Dr. M.-T. als auch Dr. L. seien in ihren Gutachten zu der Beurteilung gelangt, die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten. Schließlich habe der behandelnde Nervenarzt S. in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 25.04.2007 mitgeteilt, bei der Klägerin liege eine chronische psychische Erkrankung vor, die gerade wegen ihrer Häufigkeit der Stimmungsschwankungen ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erkennen lasse. Schon seit einigen Jahren bestehe ein Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich. Letztlich seien die Voraussetzungen des § 43 Abs. 6 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht erfüllt, da die Wartezeit von 20 Jahren nicht erfüllt sei.

Am 05.08.2010 beantragte die Klägerin neuerlich die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie sei seit 2004 infolge einer schizoaffektiven Störung erwerbsgemindert. Im beigezogenen Befundbericht des Facharztes für Nervenheilkunde S. teilte dieser mit, die Klägerin leide seit mehr als zehn Jahren unter rezidivierenden affektiven Schwankungen aus dem psychotischen Formenkreis. Die Beklagte holte weiterhin ein Gutachten beim Facharzt für Nervenheilkunde Dr. S. ein. Dieser diagnostizierte bei der Klägerin eine schwergradige Depression mit Panikattacken und sah ihr Leistungsvermögen dauerhaft auf weniger als drei Stunden reduziert. Mit Bescheid vom 09.08.2011 lehnte die Beklagte eine Rücknahme des Bescheides vom 22.06.2005 ab. Die Überprüfung habe ergeben, dass weder das Recht unrichtig angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Den hiergegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, nach der Stellungnahme des Herrn S. vom 09.07.2007 sei sie insgesamt acht Mal in Behandlung gewesen, wobei sie nicht immer einen krankhaften Eindruck hinterlassen habe. Ausweislich der Stellungnahme des Dr. M. sei sie nach der stationären Behandlung als arbeitsfähig entlassen worden. In einem neuerlich bei Herrn S. eingeholten ärztlichen Befundbericht berichtete dieser von einer weiteren stationären Behandlung der Klägerin im Juni/Juli 2011. Aktuelle Befunde lägen nicht vor. Im beigefügten Arztbericht des Dr. Fey, Oberarzt im ZfP Bad S. , wird über einen stationären Aufenthalt der Klägerin vom 07.06. bis 07.07.2011 berichtet. Die Diagnose lautete auf schizoaffektive Störung, gegenwärtig manisch; die letzte stationäre Behandlung sei in der Zeit vom 12.08. bis 23.08.2010, ebenfalls wegen einer schizomanischen Dekompensation, erfolgt. Mit Widerspruchsbescheid vom 14.05.2012 wies die Beklagte den Widerspruch dann zurück. Zur Begründung wird im Wesentlichen auf die zutreffenden Ausführungen und Feststellungen im Bescheid vom 22.06.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2006 sowie im Überprüfungsbescheid vom 09.08.2011 verwiesen.

Zur Begründung der hiergegen am 13.06.2012 zum Sozialgericht Ulm erhobenen Klage hat die Klägerin im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im Widerspruchsverfahren Bezug genommen. Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 30.10.2012 die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen für eine Rücknahme der Entscheidung der Beklagten vom 22.06.2005 gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) lägen nicht vor. Die Beklagte habe es im Jahr 2005 vielmehr zu Recht abgelehnt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Der Leistungsfall sei spätestens im März 2003 eingetreten, zu diesem Zeitpunkt sei die allgemeine Wartezeit gemäß § 50 SGB VI nicht erfüllt gewesen. Dies folgere das Gericht insbesondere aus dem Befundbericht des Facharztes für Nervenheilkunde S. vom 27.03.2003. Nachdem eine weitergehende Entscheidung, als über die Überprüfung des Bescheides aus 2005 von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden nicht vorgenommen worden sei, komme es auf das durch Dr. S. erstellte Sachverständigengutachten nicht an.

Gegen den ihr am 02.11.2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 28.11.2012 Berufung eingelegt. Sie meint, im Zeitpunkt der Antragstellung Ende 2004 seien alle anspruchsbegründenden Voraussetzungen gegeben gewesen. Es lägen keine durchschlagenden Beweise für eine volle Erwerbsminderung für die Zeitdauer vor. Das Krankheitsbild einer schizoaffektiven Psychose sei keinesfalls gleichbedeutend mit Erwerbsunfähigkeit. So nehme diese bei korrekter Behandlung bzw. Therapie keinen chronischen Verlauf und müsse keine Verschlechterung erfahren. Im Übrigen verweist die Klägerin auf den von ihr beigefügten medizinischen Beratungsvermerk der Agentur für Arbeit Ravensburg vom 06.11.2003, wonach sie zu diesem Zeitpunkt noch grundsätzlich vollschichtig überwiegend leichte Tätigkeiten in wechselnder Arbeitshaltung habe ausüben könne. Eine vollständige Erwerbsminderung der Klägerin bestehe damit erst seit 22.11.2004, spätestens 2006, bestätigt durch die Gutachter Dr. L. und Dr. S ...

Die Klägerin beantragt (Schriftsatz vom 28.12.2012, sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 30.10.2012 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 09.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.05.2012 zu verurteilen, den Bescheid vom 22.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2006 zurückzunehmen und ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 22.11.2004 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung ihres Antrags bezieht sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen und die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.

Zwar beschreibe der medizinische Beratungsvermerk der Agentur für Arbeit Ravensburg von 2003 ein vollständiges Leistungsvermögen, dabei würden aber keine Befunde mitgeteilt, die diese Einschätzung belegen könnten.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 153 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß den §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig; sie ist jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Bescheid der Beklagten vom 09.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.05.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Mit diesen Bescheiden lehnte es die Beklagte zutreffend ab, der Klägerin unter Rücknahme des Bescheids vom 22.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2006 Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Denn zum Zeitpunkt der Erteilung dieser Bescheide lagen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine von der Klägerin damals ausdrücklich nur beantragte Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht vor. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Beklagte es mit Bescheid vom 22.06.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2006 ablehnte, der Klägerin eine entsprechende Erwerbsminderungsrente zu gewähren.

Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei dessen Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Inwieweit der Widerspruchsbescheid bereits deshalb rechtswidrig ist, weil die Beklagte die Rentenablehnung im Ausgangsbescheid vom 22.06.2005 (auch) auf § 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) stützte und es somit an einer inhaltlichen Entscheidung über den Rentenanspruch im Ausgangsbescheid fehlte, kann hier dahingestellt bleiben. Denn auch in diesem Falle wären Sozialleistungen nicht zu Unrecht nicht er¬bracht worden, nachdem die Klägerin im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente hatte.

Die Beklagte wandte bei der Ablehnung der Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung das Recht weder unrichtig an, noch ging sie von einem Sachverhalt aus, der sich nachträglich als unrichtig erwies. Vielmehr erfüllte die Klägerin zum maßgeblichen Zeitpunkt der Ablehnung des Rentenantrages im Widerspruchsbescheid vom 22.05.2006 und auch aktuell nicht die Anspruchsvoraussetzungen für die in Rede stehende Rente, da sie die allgemeine Wartezeit gemäß § 50 SGB VI nicht erfüllte und ein Ausnahmetatbestand nicht vorlag.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Der Anspruch auf Rente setzt, sofern nicht der in § 43 Abs. 6 SGB VI geregelte Ausnahmefall greift (Wartezeit von 20 Jahren nach Eintritt der Erwerbsminderung), die Erfüllung der Wartezeit vor Eintritt des Versicherungsfalls voraus (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI). Nach § 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI beträgt die allgemeine Wartezeit für einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit fünf Jahre. Auf die Wartezeit werden Kalendermonate mit Beitragszeiten, freiwillige Beiträge von Pflegepersonen und Ersatzzeiten angerechnet.

Nachdem die Klägerin keine versicherungsrechtlichen Zeiten im Ausland zurückgelegt hat, welche der Erfüllung der allgemeinen Wartezeit dienen könnten, sind erstmals zum Juni 2003 60 Mo¬nate mit Beitragszeiten belegt, so dass erstmalig zu diesem Zeitpunkt die allgemeine Wartezeit erfüllt ist. Dies hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg im Beschluss vom 02.03.2009 zutreffend und ausführlich dargelegt. Hierauf nimmt der Senat Bezug. Zur Überzeugung des Senats ist aber die Erwerbsminderung bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingetreten. Die Klägerin ist spätestens seit März 2003, vermutlich aber bereits seit Ende der neunziger Jahre wegen einer schizoaffektiven Psychose dauerhaft voll erwerbsgemindert. Dies folgert der Senat aus den Arztberichten des ZfP Bad S. , den im Laufe des Verwaltungsverfahrens und der Gerichtsverfahren vorgelegten Arztberichten und Stellungnahmen des Facharztes für Nervenheilkunde Schäfer, dem Arztbericht des Dr. W. sowie den im Verwaltungsverfahren eingeholten nervenfachärztlichen Gutachten von Dr. M.-T. sowie Dr. L ... So kann dem Arztbericht des ZfP Bad S. vom 09.06.2000 über den stationären Aufenthalt in der Zeit vom 06.05.bis 31.05.2000 entnommen werden, dass sich die Klägerin bereits zum 14. Mal in stationärer Behandlung wegen psychischer Dekompensation befand. Die Klägerin wurde dabei, ebenso wie bei den weiteren stationären Aufenthalten vom 26.06. bis 30.07.2002 und vom 06.12.2002 bis 07.01.2003, jeweils bei akuter Exazerbation einer schizoaffektiven Psychose im ZfP Bad S. auf Grundlage des UBG untergebracht. Es zeigten sich bei Aufnahme erhebliche Wahnvorstellungen bei fehlender Krankheits- und Behandlungseinsicht. Bereits diese Häufigkeit behördlich veranlasster stationären Unterbringungen der Klägerin bei ausgeprägten psychotischen Symptomatiken lässt aus Sicht des Senats keinen Raum für die Annahme eines zu diesem Zeitpunkt noch vorhandenen nennenswerten Erwerbsvermögens. Dies bestätigt auch der ärztliche Befundbericht des Facharztes für Nervenheilkunde S. vom 27.03.2003. Danach nahm die psychische Erkrankung bei der Klägerin einen sehr wechselhaften Verlauf und es traten häufig manische und depressive Episoden auf. Eine Arbeitsfähigkeit schloss der Behandler aus. Im Rahmen der Untersuchung am 24.03.2003 habe sich bei der Klägerin eine ausgesprochen depressive Symptomatik, verstärkt durch eine ausgeprägte extrapyramidale Symptomatik gezeigt. Dr. W. , Hausarzt der Klägerin, gab in seinem Befundbericht vom 11.05.2003 an, eine Belastbarkeit für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sei fraglich. In einem weiteren Befundbericht zum Antrag auf Rehabilitation verneinte er sogar eine Belastbarkeit hierfür. Die im Auftrag der Beklagten tätig gewordene Gutachterin Dr. M.-T. kam in ihrem Gutachten vom 15.10.2003 zum Ergebnis eines aus nervenfachärztlicher Sicht vollständig aufgehobenen Leistungsvermögens, sowohl im Hinblick auf das Parkinsonoid als auch wegen der bestehenden depressiven Stimmung und der Antriebsminderung im Rahmen der psychischen Grunderkrankung. Zwar erfolgte die ambulante Untersuchung der Klägerin, die dieser Leistungseinschätzung zu Grunde liegt, am 14.10.2003. Der Senat hat dennoch keine Bedenken, diese Leistungseinschätzung auf den Zeitpunkt März 2003 zu erstrecken, nachdem keine Anhaltspunkte für eine zwischenzeitliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ersichtlich sind. Vielmehr berichtete bereits der Facharzt für Nervenheilkunde S. in seiner Stellungnahme vom 27.03.2003 von einer ausgesprochen depressiven Symptomatik und extrapyramidalen Symptomatik. Die Einschätzung der behandelnden Ärzte und der Gutachterin wird weiterhin durch das Gutachten von Dr. L. vom 26.01.2006 bestätigt. Auch Dr. L. sah die Klägerin nicht in der Lage, Arbeiten von wirtschaftlichem Wert zu verrichten, ja sie sei noch nicht mal in der Lage, sich selbst zu versorgen. Wenngleich die dem Gutachten Dr. L. zu Grunde liegende Untersuchung am 12.01.2006 stattfand, bezog Dr. L. seine Feststellungen zum Leistungsvermögen explizit auf die Vergangenheit. Von einem aufgehobenen Leistungsvermögen sei "seit Jahren" auszugehen. Soweit abweichend von der übereinstimmenden Einschätzung der ärztlichen Behandler und der beiden Gutachter der Amtsarzt der Agentur für Arbeit Ravensburg im medizinischen Beratungsvermerk vom 06.11.2003 zu einem vollschichtigen Leistungsvermögen gelangte, kann dem nicht gefolgt werden. Dem offensichtlich nach Aktenlage erstellten Beratungsvermerk lagen lediglich der Entlassungsbericht des ZfP Bad S. vom 09.06.2000 sowie einige lungenfachärztliche Befunde zu Grunde. Angesichts der unzureichenden Befundgrundlage ist diese amtsärztliche Stellungnahme nicht geeignet, insbesondere das kurz zuvor auf Grundlage einer ambulanten Untersuchung der Klägerin erstellte Gutachten von Frau Dr. M.-T. , aber auch die angesprochenen Befundberichte von Dr. W. und S. zu widerlegen. Nichts anderes folgt aus den Bekundungen des vom Sozialgericht Ulm als sachverständiger Zeuge schriftlich vernommenen Dr. M. , ZfP Bad S ... Dieser teilte zwar unter dem 16.05.2007 mit, die Klägerin sei im Anschluss an den stationären Aufenthalt vom 02.02.2006 bis zum 02.03.2006 arbeitsfähig entlassen worden. Diese Mitteilung steht aber im deutlichen Widerspruch zu der auf Seite drei der Zeugenaussage geäußerten Einschätzung, wonach eine deutliche und sich wiederholende Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bestehe und aus hiesiger Sicht bei der Klägerin "eine zeitlich andauernde Beeinträchtigung der beruflichen Tätigkeit aufgrund ihrer Gesundheitsstörung" durchaus vorstellbar sei, konkrete Aussagen aber derzeit nicht getroffen werden könnten. Vor diesem Hintergrund kann der Aussage von Dr. M. zur Arbeitsfähigkeit keine, die anderen medizinischen Dokumente in Frage stellende Bedeutung beigemessen werden.

Der Senat schließt sich deshalb der Beurteilung in den ärztlichen Befundberichten von Dr. W. und dem Facharzt für Nervenheilkunde S. sowie den beiden im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten an und gelangt in Übereinstimmung mit den dortigen Leistungseinschätzungen und der Beurteilung durch das Sozialgericht Ulm im angefochtenen Gerichtsbescheid wie auch bereits derjenigen im Beschluss des Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 02.03.2009 zum Ergebnis, dass bereits vor dem 01.06.2003, nämlich spätestens im März 2003 das Leistungsvermögen der Klägerin auf unter drei Stunden täglich gesunken war. Nachdem die Klägerin die Wartezeit von 20 Jahren noch nicht erfüllt hatte (und bis zum heutigen Tage nicht erfüllt), lagen auch die Voraussetzungen des § 43 Abs. 6 SGB VI zum Zeitpunkt des 22.05.2006 nicht vor.

Ebenfalls lag (und liegt) auch kein Fall einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung gemäß § 53 SGB VI vor. Insbesondere ist die Klägerin nicht vor Ablauf von sechs Jahren nach Beendigung einer Ausbildung voll erwerbsgemindert geworden oder gestorben und hatte dabei die letzten zwei Jahre vorher mindestens ein Jahr Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (§ 53 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Soweit sich im Versicherungsverlauf vom 10.08.2011 für Zeitraum vom 14.01.2002 bis 28.04.2002 eine "Pflichtbeitragszeit berufliche Ausbildung" findet, kann dem nicht entnommen werden, ob es sich hierbei um eine bloße Anlerntätigkeit oder tatsächlich eine berufliche Ausbildung handelte. Es fehlt jeglicher Nachweis über diesen Zeitraum. Insbesondere liegen nach telefonischer Auskunft des Ehemanns der Klägerin vom 27.01.2011 gegenüber der Beklagten weder der Klägerin noch der Ausbildungsstätte hierzu noch Unterlagen vor. Der damalige Bevollmächtigte der Klägerin teilte im Übrigen unter dem 28.04.2006 der Beklagten mit, dass die Klägerin zur Masseurin nicht ausgebildet, sondern lediglich angelernt worden sei, weshalb keine Ausbildungsnachweise vorgelegt werden könnten. Demnach kann sich der Senat schon nicht vom Vorliegen einer Ausbildung i.S. des § 53 Abs. 2 Satz 1 SGB VI überzeugen.

Die Klägerin erlangte nach Überzeugung des Senats auch nach März 2003 kein Leistungsvermögen von wenigstens sechs Stunden täglich zurück. Denn es liegen für den gesamten Zeitraum bis zum heutigen Tage - mit Ausnahme des bereits erwähnten Beratungsvermerks der Agentur für Arbeit vom 06.11.2003 und der Angabe des Dr. M. über eine Entlassung als arbeitsfähig, die aber aus den dargestellten Gründen nicht zu überzeugen vermögen - keine ärztlichen Befundberichte oder Gutachten vor, aus denen auf die Wiedererlangung eines auf dem Arbeitsmarkt verwertbaren Leistungsvermögens geschlossen werden kann. Vielmehr belegen die von der Beklagten eingeholten nervenfachärztlichen Gutachten - neben den bereits genannten Gutachten von Frau Dr. M.-T. und von Dr. L. hat die Beklagte auch noch das Gutachten des Dr. S. vom 11.04.2011 veranlasst - durchgehend ein unter drei Stunden täglich liegendes Leistungsvermögen der Klägerin. Auch Dr. S. stellte bei Diagnose einer schwergradigen Depression mit Panikattacken ein aufgehobenes Leistungsvermögen fest und erachtete eine Besserung als unwahrscheinlich. Eine vergleichbare Leistungseinschätzung ist dem Befundbericht des Facharztes für Nervenheilkunde S. vom 21.05.2005 sowie seiner schriftlichen Zeugenaussage gegenüber dem Sozialgericht Ulm vom 25.04.2007 zu entnehmen: Danach lagen - so der Befundbericht vom 21.04.2005 - bei der Klägerin bei einem in den letzten zwölf Monaten unveränderten Befund rezidivierende Erregungs- und Depressionszustände mit häufigen Stimmungsschwankungen und manischer Symptomatik vor, welche die Arbeitsunfähigkeit der Klägerin zur Folge hätten. Eine Besserung des Leistungsvermögens schließe er aus. In der schriftlichen Zeugenaussage vom 25.04.2007 berichtete der Facharzt für Nervenheilkunde S. von einer chronischen psychischen Erkrankung, die gerade wegen der Häufigkeit von Stimmungsschwankungen ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht erkennen lasse. Er gehe von einem Leistungsvermögen von unter drei Stunden täglich aus, wobei diese Einschränkung bereits seit einigen Jahren bestehe. Der Einschätzung der Gutachter und des behandelnden Facharztes für Nervenheilkunde S. folgend ist deshalb von einem durchgehend aufgehobenen Leistungsvermögen der Klägerin auszugehen, weshalb der spätestens im März 2003 eingetretene Versicherungsfall auch weiterhin maßgebend bleibt.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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