L 8 U 4991/12

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 3322/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 4991/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 3. September 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob Folgen des anerkannten Arbeitsunfalls des Klägers am 29.05.2009 auch über den 09.10.2009 hinaus noch vorliegen (und Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit verursachen).

Der 1955 geborene Kläger ist Bankkaufmann und seit 1985 als Leiter der inneren Revision der VR-Bank E. beschäftigt. Am 29.05.2009 erlitt er auf dem Heimweg von der Arbeit einen Pkw-Unfall. Er suchte am 02.06.2009 den Allgemeinmediziner Dr. Ra. auf, der eine Prellung der linken Schädelseite, Übelkeit, Tremor, Bluthochdruck und keine knöchernen Verletzungen als Befund erhob. Er diagnostizierte eine Kopfprellung, Halswirbelsäulen(HWS)-Syndrom, Hypertone Krise und ein Schmerzsyndrom (Ärztliche Unfallmeldung vom 08.06.2009). Am 09.06.2009 untersuchte der Unfallchirurg Dr. T. den Kläger, wobei sich Schmerzen links paravertebral an der HWS mit muskulären Verspannungen des Musculus trapezius bei schmerzhaft endgradig eingeschränkter HWS-Beweglichkeit in allen Ebenen zeigten, aber ohne sensomotorische Defizite oder radikuläre Symptomatik. Er diagnostizierte eine Distorsion der HWS (Durchgangsarztbericht vom 09.06.2009). Dem Kläger war Krankengymnastik verordnet worden. Im Zwischenbericht vom 19.06.2009 gab Dr. T. eine Beschwerdebesserung an der HWS an. Der Kläger sei tagsüber beschwerdefrei und ohne neurologische Defizite. Nachts bestünden Schmerzen im Bereich des Musculus trapezius. Analgetikaeinnahme sei nicht mehr erforderlich. Es bestand Arbeitsunfähigkeit vom 31.05. bis 19.06.2009 (Aktenvermerk der Beklagten vom 15.07.2009 über ein Telefonat mit der Krankenkasse des Klägers).

Der Psychiater Dr. A. beschrieb eine katastrophisierende dysfunktionale Kognition des Klägers, der eigenen Angaben gemäß innerlich auf keinen Fall zur Ruhe komme, da er jeden Tag woanders hin müsse, z.B. Termine bei Ärzten, Autohaus, Rechtsanwalt. Unter der Diagnose einer akuten Belastungsreaktion ging Dr. A. von einer psychischen Fehlverarbeitung bei prädisponierender Persönlichkeit aus (Arztbrief von Dr. A. vom 16.06.2009). Am 02.07.2009 stellte sich der Kläger bei dem Orthopäden Dr. Bre. wegen starker HWS-Beschwerden vor. Dr. Bre. fand eine starke schmerzhafte Bewegungseinschränkung der HWS bei ausgeprägter Fehlhaltung mit Steilstellung und Druckschmerzen der oberen und mittleren HWS. Er diagnostizierte einen Zustand nach HWS-Schleudertrauma und attestierte Arbeitsunfähigkeit ab 06.07.2009 (H-Arzt-Bericht von Dr. Bre. vom 02.07.2009). Nach leichter Besserung der Nackenbeschwerden, jedoch bei fortbestehenden starken Beschwerden mit Ausstrahlung in die linke Schulter und den rechten Arm verordnete Dr. Bre. eine stufenweise Wiedereingliederung in das Arbeitsleben, beginnend ab 13.07.2009 (Arztbericht vom 13.07.2009 mit Wiedereingliederungsplan vom 13.07.2009), die der Kläger abbrach (Schreiben der Beklagten vom 17.07.2009). Nach stationärer Behandlung vom 10.08.2009 bis 08.09.2009 in der Fachklinik E. wurde der Kläger als arbeitsfähig ab 14.09.2009 mit Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung entlassen (Entlassungsbericht der Fachklinik E. vom 08.09.2009). Die Arbeitsbelastungserprobung zur Wiedereingliederung (ab 14.09. bis 09.10.2009) wurde entsprechend der ärztlichen Verordnung durchgeführt.

Am 08.10.2009 erlitt der Kläger erneut einen Auffahrunfall auf dem Weg zur Arbeit. Dr. Me. diagnostizierte am gleichen Tag eine HWS-Beschleunigungsverletzung Grad I nach Erdmann und beurteilte den Kläger als arbeitsunfähig bis voraussichtlich 19.10.2009 (H-Arztbericht-Bericht von Dr. Me. vom 08.10.2009). Bei der Untersuchung am 12.10.2009 fand Dr. Bre. eine Bewegungseinschränkung der HWS (Rotation beidseitig bis 40°, Lateralflexion bis 20°) und Druckschmerz der hinteren Schulter- und Nackenmuskulatur bei physiologischem Muskeltonus. Er beurteilte den Kläger als arbeitsfähig (H-Arzt-Bericht von Dr. Bre. vom 12.10.2009). Am gleichen Tag, Montag, den 12.10.2009 nahm der Kläger seine Tätigkeit bei der VR-Bank wieder vollschichtig auf (Telefonvermerk der Beklagten vom 09.10.2009, Arztbrief von Dr. Bre. vom 14.10.2009). Arbeitsunfähigkeit bestand vom 06.07.2009 (Aktenvermerk der Beklagten vom 15.07.2009) bis 09.10.2009.

Der Kläger erhielt über den 14.10.2009 hinaus durch Dr. Bre. verordnete Krankengymnastik/physikalische Therapie (Verordnungen vom 17.09.2009 und 07.01.2010). Der Kläger beklagte persistierende Nackenbeschwerden seit dem Unfall vom 29.05.2009 (Bescheinigung von Dr. Bre. vom 08.03.2010), ebenso eine Sehminderung an den Augen und einen Hörverlust des linken Ohres, weshalb er sich bei einem HNO-Arzt und beim Augenarzt vorgestellt habe (Arztbrief von Dr. Bre. vom 10.05.2010).

In dem von der Beklagten veranlassten Zwischenbericht der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik T. (BG-Klinik) vom 20.10.2009 wurde aufgrund der Untersuchung am 25.09.2009 eine vorübergehende Verschlimmerung eines vorbestehenden Leidens durch den Unfall im Mai 2009 angenommen. Die grob orientierende neurologische Untersuchung sei ohne pathologischen Befund gewesen. Die Auswertung der Röntgen- und MRT-Befunde habe degenerative Veränderungen in der gesamten HWS ohne Unfallfolgen ergeben. Die konservative Therapie sei zu Lasten der Krankenkasse fortzuführen.

Mit Bescheid vom 26.07.2010 erkannte die Beklagte das Ereignis vom 29.05.2009 mit der Folge einer Distorsion der HWS als Arbeitsunfall und als dessen mittelbare Folge den Unfall vom 08.10.2009 mit einer leichten HWS-Beschleunigungsverletzung an. Unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit habe bis 09.10.2009 bestanden. Ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 09.10.2009 hinaus bestehe nicht.

Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 25.08.2010 zurückgewiesen wurde.

Der Kläger erhob am 23.09.2010 Klage vor dem Sozialgericht Ulm (SG), das Dr. Bre. als sachverständigen Zeugen schriftlich befragte. In seiner schriftlichen Aussage vom 14.03.2011 beurteilte er ein posttraumatisches HWS-Syndrom nach HWS-Schleudertrauma als Folge des Unfalls vom 29.05.2009. Der Kläger werde seit dem Unfall kontinuierlich ambulant behandelt und erhalte ambulante Physiotherapie. Er nehme Schmerzmedikamente, wie Voltaren Resinat. Arbeitsunfähigkeit habe bis zum 11.09.2009 bestanden.

In dem orthopädischen Gutachten vom 16.08.2011 führte Dr. He. aus, dass nach den vorliegenden bildgebenden Befunde ein unfallbedingter Strukturschaden der HWS ausgeschlossen werden könne. Eine solche Distorsion der HWS heile innerhalb von Wochen bis Monaten aus, was durch Studien belegt werde, wonach ab einem Jahr nach dem Unfall kein signifikanter Unterschied zwischen Unfallopfern und der Kontrollgruppe bezüglich Häufigkeit und Intensität von Kopf- und Nackenschmerzen vorliege. Eine gravierende Struktur- oder Funktionsstörung im Bereich der HWS, die die angegebenen Dauerbeschwerden plausibel begründen würden, sei beim Kläger durch die gutachtliche Untersuchung nicht festzustellen gewesen. Es läge nahe, die anhaltenden Beschwerden des Klägers nach den Verkehrsunfällen auf primär psycho-soziale Faktoren zurückzuführen. Bei großzügiger Betrachtung sei der Kläger aus orthopädischer Sicht bis 12.07.2009 vollständig und ab 13.07.2009 bis 09.10.2009 teilweise arbeitsunfähig gewesen.

Der Sachverständige Dr. Wi. kam in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 21.12.2011 zu dem Ergebnis, beim Kläger liege ein unfallbedingtes Zervikalsyndrom mit Schmerzfehlverarbeitung nach ICD-10 Nr. M54.2, F45.41 vor. Die Testpsychologie habe keine nicht authentische Beschwerdeschilderung nachweisen können und die technische Zusatzuntersuchungen hätten keinen auffälligen Befund, abgesehen eines Carpaltunnelsyndroms rechts, ergeben. Die nach dem 2. Unfall erfahrenen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit sowohl am Arbeitsplatz und letztlich aber auch in der kurz nach dem 2. Unfall geschlossenen Ehe habe zur Fehlverarbeitung der Schmerzen mit deren Verselbstständigung zu einem chronischen Schmerzsyndrom geführt. Die Fehlverarbeitung sei auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers und seine entsprechende Vulnerabilität zurückzuführen, mit der der Kläger aber auch im Unfallzeitpunkt versichert sei.

Die Beklagte legte die von ihr eingeholte beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. N. vom 20.03.2012 vor. Danach sei eine unfallbedingte psychiatrische Erkrankung nicht wahrscheinlich zu machen. Die im Diagnoseschlüssel ICD-10 unter F 45.41 beschriebenen somatoformen Störungen bedingten emotionale Konflikte oder psychosoziale Probleme, die schwerwiegend genug seien, um ein Schmerzsyndrom zu erklären. Solche seien dem Gutachten von Dr. Wi. nicht zu entnehmen. Die Fragebogen-Interviewtechnik sei grundsätzlich in ihrem Aussagewert limitiert. Vorliegend bestehe aber auch klinisch ein Verdacht auf Verdeutlichungstendenz oder Aggravation. Der Beschwerdeverlauf nach dem 1. Unfall mit Beschwerdezunahme nach dem zunächst den Erwartungen entsprechenden initialen Decrescendo-Verlauf, wie von Dr. T. angegeben, sei nicht auf den Unfall zu beziehen. Die Unfälle seien lediglich Anlass für den persönlichkeitsbedingten Umgang des Klägers mit den Verletzungen und nicht ursächlich für die anhaltend geklagte Symptomatik.

Mit Urteil vom 03.09.2012 wies das SG die Klage, auch über den 09.10.2009 hinaus Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit anzuerkennen, ab. Nach Dr. He. sei die HWS-Distorsion ohne nachweisbaren Strukturschaden und ohne objektivierbare neurologische Störungen verblieben. Das Gutachten von Dr. Wi. sei nicht überzeugend. Die von ihm diagnostizierte Fehlverarbeitung der Schmerzen könne nach der Theorie der wesentlichen Bedingung nicht als Unfallfolge festgestellt werden. Sie beruhe auf der primären Persönlichkeitsstruktur des Klägers und somit habe die beim Kläger bestehende innere Ursache Vorrang vor den folgenlos ausgeheilten Unfällen im Mai 2009 und Oktober 2009.

Gegen das dem Kläger am 22.11.2012 zugestellte Urteil hat er am 30.11.2012 Berufung eingelegt. Er macht geltend, die von Dr. He. beschriebenen funktionellen Seh- und Hörstörungen sowie der Hallux rigidus rechts seien ebenfalls auf den Arbeitsunfall vom 29.05.2009 zurückzuführen. Es bestünden nach wie vor erhebliche Bewegungseinschränkungen und Schmerzen der HWS, weshalb er nach wie vor zweimal wöchentlich Physiotherapie erhalte. Nach Dr. Wi. sei das anhaltenden Schmerzsyndrom auf beide Verkehrsunfälle zurückzuführen. Der Kläger hat das im Zivilrechtsstreit vor dem Landgericht Ellwangen eingeholte orthopädische Sachverständigengutachten von Dr. Bi. vom 30.05.2013 vorgelegt. Darin ist ausgeführt, dass bezüglich der exakten Natur und der Entstehungsweise von HWS-Beschleunigungsverletzungen noch ein erhebliches wissenschaftliches Wissensdefizit bestehe. Das Fehlen von durch verfügbare Bildgebungsverfahren darstellbaren strukturellen Verletzungen korreliere nicht immer mit Fehlen von Beschwerden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielten neurophysiologische wie auch neuropsychologische Phänomene bei der Entstehung von solchen Beschwerdekomplexen eine Rolle. Nach Aktenlage sei davon auszugehen, dass zumindest das 1. Unfallereignis ausschlaggebend für den Beginn der durchaus komplexen Beschwerdeproblematik des Klägers sei. Inwieweit und in welchem Ausmaß sich hieraus ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelt habe, unterliege allein der neurologisch-psychiatrischen Begutachtung.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 03.09.2012 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 26.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25.08.2010 abzuändern und festzustellen, dass auch über den 09.10.2009 hinaus auftretende Beschwerden der Halswirbelsäule Folgen der Unfälle vom 29.05.2009 und 08.10.2009 sind.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, Dr. Wi. habe in seinem Gutachten darauf hingewiesen, dass das Schmerzsyndroms allein auf psychosomatischen Faktoren beruhe und die Einschätzung von Dr. He. , wonach körperliche Unfallfolgen auf orthopädischem Fachgebiet nicht mehr nachweisbar seien, nachvollziehbar sei. In seinem psychiatrisch-neurologischen Gutachten werde die Fehlverarbeitung der Schmerzen auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers und seine besondere Ansprechbarkeit für psychische Störungen zurückgeführt. Der Schlussfolgerung von Dr. Wi. , dass der Kläger in dem Zustand versichert sei, in dem er sich befinde und dass sinngemäß auch den Unfällen vom 29.05. und 08.10.2009 neben der Persönlichkeitsstruktur auch eine rechtlich wesentliche Bedeutung zukomme, sei das Sozialgericht völlig zu Recht nicht gefolgt.

Der Senat hat die Verwaltungsakte der Beklagten und die Akten des Sozialgerichts beigezogen. Auf diese Unterlagen und die vor dem Senat angefallene Berufungsakte wird wegen weiterer Einzelheiten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung der geltend gemachten Gesundheitsstörung als Unfallfolge.

Die mit der Berufung verfolgte Feststellungsklage ist zulässig. Der Kläger kann mit der kombinierten Anfechtungs und Feststellungsklage die Feststellung einer Erkrankung als Unfallfolge begehren (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Über dieses Feststellungsbegehren ist durch die Beklagte auch durch den angefochtenen Verwaltungsakt entschieden worden, denn das Vorliegen von HWS-Beschwerden als Unfallfolge über den 09.10.2009 hinaus wurde verneint, weshalb die prozessuale Voraussetzung einer Verwaltungsentscheidung und eines durchgeführten Vorverfahrens vorliegt. Voraussetzung ist auch für diese Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 SGG), dass ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung besteht. Dieses besondere Feststellungsinteresse liegt hier vor, da ein Gesundheitsschaden behauptet wird, der nach klägerischer Auffassung auf das angeschuldigte Geschehen zurückzuführen ist und geeignet ist, Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung in Form der Gewährung von Verletztengeld und Heilbehandlung für die Vergangenheit und derzeit noch nicht für eine Leistungsklage hinreichend konkretisierbare Leistungen für die Zukunft zu begründen.

Dagegen liegen die materiellen Voraussetzungen für die Feststellung von Unfallfolgen nach dem 09.10.2009 nicht vor.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i. S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis dem Unfallereignis geführt hat und das Unfallereignis einen Gesundheit( erst )schaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat. Das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheit( erst )schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. stellvertretend BSG, Urteile vom 09.05.2006 B 2 U 1/05 R= SozR 4 2700 § 8 Nr. 17, B 2 U 40/05 R= UV Recht Aktuell 2006, 419 422, B 2 U 26/04 R= UV Recht Aktuell 2006, 497 509, alle auch in juris).

Nach diesen Grundsätzen ist ein Arbeitsunfall des Klägers am 29.05.2009 durch den angefochtenen Bescheid von der Beklagten ausdrücklich anerkannt, wobei eine HWS-Distorsion als Gesundheitserstschaden angenommen wird. Der Unfall am 08.10.2009 ist als mittelbare Folge dieses Arbeitsunfalls festgestellt. Der Senat lässt dahinstehen ob dies richtig ist, denn der Kläger ist durch diese Feststellung als Unfallfolge nicht beschwert. Selbst wenn es sich in Bezug auf den Unfall im Mai 2009 bei dem Ereignis im Oktober 2009 um einen - grundsätzlich unversicherten - Nachschaden, der durch unfallfremde Bedingungen eine Verschlimmerung von Unfallfolgen bewirkt, handeln würde, der ausnahmsweise selbst die Voraussetzungen eines weiteren Arbeitsunfalls erfüllt, erwächst dem Kläger durch die dann fehlerhafte Feststellung als Unfallfolge kein rechtlicher Nachteil.

Gesundheitserstschaden i.S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist grundsätzlich jeder regelwidrige körperliche, geistige oder seelische Zustand, der unmittelbar durch die (von außen kommende, zeitlich begrenzte) Einwirkung rechtlich wesentlich verursacht wurde, die selbst rechtlich wesentlich durch die Verrichtung der versicherten Tätigkeit verursacht wurde. Von diesem zum Tatbestand des Arbeitsunfalls gehörenden Primärschaden sind diejenigen Gesundheitsschäden zu unterscheiden, die rechtlich wesentlich erst durch den Erstschaden verursacht (unmittelbare Unfallfolgen) sind (BSG Urt. v. 15.05.2012 B 2 U 16/11 R , juris, Rnr. 19) oder sich in der Folge gegebenenfalls unter Hinzutreten weiterer Bedingungen entwickeln oder der versicherten Tätigkeit aufgrund Spezialvorschriften (z.B. § 11 SGB VII, vgl. BSG Urteil vom 15.05.2012, a.a.O.) zuzurechnen sind (mittelbare Unfallfolgen). Das Vorliegen von Unfallfolgen gleich welcher Art ist keine Tatbestandsvoraussetzung des Arbeitsunfalls. Der den Gesundheitserstschaden begründende regelwidrige physische oder psychische Zustand entspricht nach herrschender Meinung dem allgemeinen Krankheitsbegriff (vgl. BSG Urt. vom 09.05.2006 B 2 U 1/05 R , a.a.O. Rn. 21, 22; Ricke in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 8 SGB VII Rn. 20), was angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden psychischen Erkrankungen und möglicher Schulenstreite in der Medizin eine sichere und nachvollziehbare Diagnosestellung unter Verwendung der üblichen Diagnose Manuale voraussetzt (BSG, a.a.O.).

Nach dem überzeugenden Gutachten von Dr. He. liegen nach dem 09.10.2009 keine auf die Ereignisse vom 29.05.2009 und 08.10.2009 zurückführbare Gesundheitsstörungen beim Kläger vor. Zum Untersuchungszeitpunkt war eine auf ein Trauma zurückführbare substantielle Schädigung der HWS des Klägers nicht mehr nachweisbar. Den Röntgen- und Kernspintomographieaufnahmen der HWS entnahm Dr. He. eine Steilstellung der HWS ohne Gefügestörung. Es lag eine fortgeschrittene Osteochondrose zwischen den Halswirbelkörpern C5 und C7 vor in Verbindung mit einer diskreten Spondylose bei C6/C7. Unfallbedingte Strukturschädigung der HWS oder der umgebenden Weichteile waren den Aufnahmen nicht zu entnehmen. Dies stimmt letztlich auch mit der Beurteilung des Orthopäden Dr. Bi. in dem vom Kläger vorgelegten Gutachten vom 30.05.2013 überein. Danach lag die Aufprallenergie bei der Kollision mit dem Fahrzeug des Unfallgegners bei beiden Unfällen unter der Bagatellgrenze, lediglich der Anstoß beim Abkommen von der Straße bei dem Unfall im Mai erzeugte eine die Bagatellgrenze geringfügig überschreitende Aufprallenergie. Nach Dr. Bi. wird aber bei noch bestehendem erheblichem wissenschaftlichem Defizit diskutiert, dass auch bei geringerer energetischer Einwirkung Schäden an den Rezeptoren zur Positions- und Spannungskontrolle an sämtlichen Halsstrukturen auftreten könnten, die keine in einer Computertomographie oder Magnetresonanztomographie sichtbaren Spuren hinterlasse. Abgesehen davon, dass nach Dr. Bi. dieses Erklärungsmodell noch wissenschaftlich diskutiert wird und sich insoweit noch keine herrschende wissenschaftliche Meinung ausgebildet hat, hat die Beklagte dem insoweit Rechnung getragen, als sie die vom Kläger geltend gemachten HWS-Beschwerden für den hier insoweit unstreitigen Zeitraum als unfallbedingt anerkannt hat. Für den danach liegenden Zeitraum geht auch Dr. Bi. davon aus, dass die Beurteilung, inwieweit und in welchem Ausmaß sich hieraus ein chronisches Schmerzsyndrom entwickelt hat, allein einer neurologisch-psychiatrischen Beurteilung unterliegt. Insoweit hält er aus der komplexen Aktenlage lediglich eindeutige Hinweise dafür gegeben, dass das erste Unfallereignis ausschlaggebend für den Beginn der komplexen Beschwerdeproblematik war.

Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht sind dagegen zur Überzeugung des Senats keine Gesundheitsstörungen nachgewiesen bzw. nachgewiesene Gesundheitsstörungen hinreichend wahrscheinlich auf die Unfälle zu beziehen. Der Sachverständige Dr. Wi. erhob, abgesehen von einem Carpaltunnelsyndrom, keinen neurologisch auffälligen Befund. Sensibilität, Muskeleigenreflexe und Motorik sowie die Koordination waren bei der Untersuchung des Klägers unauffällig. Die technischen Zusatzuntersuchungen ergaben bis auf die auf ein unfallunabhängiges Carpaltunnelsyndrom hinweisende Nervenleitgeschwindigkeit Normalbefunde.

Die von Dr. Wi. angenommene unfallbedingte Diagnose eines Zervikalsyndroms ohne radikuläre Ausfälle mit Schmerzfehlverarbeitung nach ICD-10 M54.2, F45.41 überzeugt den Senat nicht. Insoweit hat Dr. N. in seiner neurologisch-psychiatrischen Stellungnahme nachvollziehbar dargelegt, dass die Diagnosekriterien der somatoformen Störungen nach ICD-10 F45.41 nach den Untersuchungsergebnissen von Dr. Wi. und nach der Aktenlage nicht erfüllt sind. Danach wird ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht erklärt werden kann, und emotionale Konflikte oder psychosoziale Probleme, die schwerwiegend genug sind, um als ursächliche Einflüsse zu gelten, gefordert. Nach Dr. N. sind solche emotionalen Konflikte oder Probleme weder der Exploration durch Dr. Wi. noch der Akte zu entnehmen. Vielmehr ist der Beschwerdeverlauf mit zunehmender Besserung nach dem Unfall im Mai 2009, wie er dem Zwischenbericht von Dr. T. vom 19.06.2009 zu entnehmen ist, mit dem medizinisch zu erwartenden Verlauf abklingender Beschwerden nach einer HWS-Distorsion Grad I nach Erdmann in Einklang zu bringen. Der Kläger hatte nach dem 19.06.2009 seine Arbeit wieder aufgenommen. Bei der Vorstellung beim Psychiater Dr. A. im Juni 2009 wurden keine HWS-Beschwerden, sondern eine psychische Belastung beklagt. Für die Zunahme der HWS-Schmerzen, wie sie Dr. Bre. in seinem Bericht vom 02.07.2009 darlegt, nach zunächst eingetretener annähernder Beschwerdefreiheit ist nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. N. keine medizinische Erklärung ersichtlich. Weder ist hierfür eine organische Erkrankung zu objektivieren noch findet sich eine psychiatrisch hinreichende Diagnose. Nach Dr. N. litt der Kläger unmittelbar nach dem Unfallgeschehen unter keinen Beschwerden, wie es sich auch aus dem von der Beklagten beigezogenen polizeilichen Unfallbericht ergibt. Der Kläger hatte auf polizeiliche Nachfrage am Unfallort das Vorliegen von Verletzungen ausdrücklich verneint. Auch hatte der Kläger auf das Unfallereignis nicht unmittelbar psychisch auffällig reagiert, wie Dr. N. unter Auswertung des Berichtes des Hausarztes Dr. Ra. und des Durchgangsarztberichtes von Dr. T. darlegt, in denen allein somatische Beschwerden angegeben werden. Eine besondere seelische Beeindruckung durch den Unfall mit der Folge eines emotionalen Konflikts oder psychosozialer Probleme ist der Beschwerdeschilderung des Klägers oder den Akten nicht zu entnehmen. Die von Dr. A. in seinem Bericht vom 16.06.2009 gestellte Diagnose einer akuten Belastungsreaktion wird von Dr. N. zurecht hinterfragt, denn hierbei handelt es sich um eine Reaktion auf eine außergewöhnliche körperliche oder seelische Belastung, die im allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt und unmittelbar nach dem Ereignis auftritt. All diese Voraussetzungen lagen aber beim Kläger in Bezug auf das Unfallereignis im Mai nicht vor. Dies trifft nach Dr. N. aber auch für das Unfallereignis im Oktober 2009 zu.

Inwieweit den Ausführungen von Dr. N. , dass klinisch ein Verdacht zumindest auf eine Verdeutlichungstendenz oder Aggravation bestehe, zu folgen ist und gegebenenfalls die Diagnose als solche nicht als nachgewiesen anzusehen ist, mag dahinstehen. Nach Dr. N. stehe das Ausmaß der vom Kläger geschilderten Beschwerden nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe - in der Fachklinik E. seien keine psychischen Beeinträchtigungen beklagt und wohl auch nicht die Notwendigkeit der Beiziehung eines Psychiaters oder Psychologen gesehen worden - und die klägerischen Angaben wichen erheblich von den in den Akten dokumentierten Erstbefunden ab, wie sich auch Diskrepanzen der im nahen zeitlichen Zusammenhang erhobenen Bewegungsmaße der HWS ergäben (Entlassungsbefund der Fachklinik E. mit Seitenneigung 30-0-30°, dagegen Befund von Dr. Bre. am 12.10.2009 mit Seitneigung lediglich bis 20°), was jedenfalls neurologisch nicht erklärbar sei.

Die Schlussfolgerung von Dr. N. , beim Kläger könne keine unfallbedingte psychiatrische Erkrankung wahrscheinlich gemacht werden, ist für den Senat insoweit überzeugend, dass die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung im Sinne einer Unfallfehlverarbeitung zwar nicht ausgeschlossen ist, jedoch der wesentliche Zusammenhang mit den Unfallereignissen mit den von Dr. N. genannten Gründen nicht wahrscheinlich ist. Die Unfälle scheiden als Ursache emotionaler Konflikte oder psychosoziale Probleme aus. Aus welchen anderen Gründen die Diagnose zu rechtfertigen ist, ist nicht entscheidungserheblich. Ein anderweitiger emotionaler Konflikt oder psychosoziale Probleme, die für die Entstehung und Unterhaltung der geklagten Beschwerden in Betracht kommen, wird in den nervenärztlichen gutachterlichen Äußerungen nicht erhellt. Ist das streitige Unfallereignis aber mit Sicherheit als wesentliche Ursache auszuschließen, bedarf es keines Nachweises von Alternativursachen als wirksam gewordene wesentliche Bedingungen. Es gibt keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte Ursache im Sinne der condicio sine qua non auch dann wesentliche Ursache ist (vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006 – B 2 U 26/04 R – a.a.O., Rn. 24, – B 2 U 1/0 5R –, a.a.O. Rn. 20).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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