S 1 AL 276/11

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 1 AL 276/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Beurteilung der Tragfähigkeit einer Existenzgründung als Voraussetzung der Bewilligung eines Gründungszuschusses.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2011 verurteilt, der Klägerin Gründungszuschuss in gesetzlichem Umfang ab dem 20.12.2010 zu gewähren.

II. Die Beklagte hat der Klägerin die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin macht einen Anspruch auf Gründungszuschuss ab 20.12.2010 geltend.

Die 1963 geborene Klägerin war langjährig im Verkaufs- bzw. Vertriebsbereich größerer Hotels als Arbeitnehmerin beschäftigt, so vom 15.08.1990 bis 31.12.1994 im C. P. Hotel K. I., vom 01.05.1995 bis 24.07.2000 beim Hotel I.-C. F., zunächst als "Sales Manager", später als "Assistant Director of Sales" und zuletzt als "Director of Sales" und vom 25.07.2000 bis 31.10.2003 beim Hotel C. P. in W. als "Director of Sales and Marketing" und später als "Senior Sales Manager".

Am 03.11.2003 meldete sie sich sodann erstmals arbeitslos. Nach entsprechendem Antrag vom 13.11.2003 machte sie sich, von der Beklagten bis 01.08.2004 durch Überbrückungsgeld gefördert, ab Februar 2004 ebenfalls im Verkaufs- und Vertriebsbereich des Hotelgewerbes selbständig; insoweit wird wegen des Unternehmenskonzepts auf Blatt 15 ff. der zur Klägerin geführten Leistungsakte, Aktenteil Überbrückungsgeld, verwiesen. Nachdem sie die Tätigkeit aus familiären Gründen nicht länger hauptberuflich ausüben konnte, nahm sie am 01.04.2009 (bis 31.10.2009) eine abhängige Beschäftigung als Sales Managerin bei einem B. W. Hotel auf. Vom 02.11.2009 bis 01.11.2010 folgte eine Beschäftigung als "Sales Manager" wiederum beim Hotel C. P. in W.

Im Hinblick auf das nahende Ende des Beschäftigungsverhältnisses meldete sie sich am 28.10.2010 erneut arbeitslos und beantragte am 15.11.2010 den hier streitigen Gründungszuschuss für die (erneute) Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit im Bereich der Beratung für Hotelbetriebe; wegen der Einzelheiten des Unternehmenskonzepts wird auf Blatt 43 ff. der zur Klägerin geführten Leistungsakte der Beklagten, Aktenteil Gründungszuschuss (im Folgenden: GZ), verwiesen. Die Beklagte gewährte daraufhin im Dezember 2010 zunächst Arbeitslosengeld für 180 Tage ab 02.11.2010. Unter dem 03.12.2010 schlossen die Beteiligten sodann eine Eingliederungsvereinbarung mit dem Ziel der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit durch die Klägerin; wegen der Einzelheiten wird auf GZ Bl. 86 Bezug genommen.

Die Klägerin nahm die selbständige Tätigkeit wie im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung vorgesehen am 20.12.2010 auf.

Unter dem 07.03.2011 äußerte sich die Industrie- und Handelskammer D-Stadt als fachkundige Stelle zur Tragfähigkeit der Existenzgründung, die sie auf dem entsprechenden Formblatt der Beklagten grundsätzlich positiv bewertete. Im Rahmen kurzer ergänzender Ausführungen hielt sie allerdings fest, die von der Klägerin geplante Stundenzahl von 25-30 Stunden sei für einen Nebenerwerb angemessen, für "einen Vollerwerb würde dies allerdings nicht genügen. Hier wäre die private Situation von der der Arbeitsagentur zu klären." (GZ Bl. 7 und 28)

Nachdem die Klägerin am 17.03.2011 den Formblattantrag eingereicht hatte, bat die Beklagte am Folgetag um ergänzende Informationen. Die Klägerin legte daraufhin u.a. eine Rentabilitätsvorschau vom 06.04.2011 vor; insoweit wird wegen der Einzelheiten auf GZ Bl. 11 ff. Bezug genommen. Die IHK äußerte sich unter dem 11.04.2011 nochmals (GZ Bl. 25 f.), und zwar dahin, angesichts der Wochenstundenzahl und des entsprechenden Gewinns gehe man von einem Nebenerwerb aus, und nahm dabei auf die Stellungnahme vom 07.03.2011 Bezug. Zu der Frage, ob das zu erwartende Einkommen dem Existenzgründer voraussichtlich eine ausreichende Lebensgrundlage bieten könne, war nunmehr in Abweichung von der ersten Stellungnahme "nein" angekreuzt.

Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 21.04.2011 (GZ Bl. 70) die Bewilligung eines Gründungszuschusses ab, da die Existenzgründung nicht tragfähig sei.

Den zunächst per E-Mail, dann per Post eingelegten Widerspruch der Klägerin (GZ Bl. 73 und 112) wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 31.05.2011 als unbegründet zurück. Diesbezüglich wird wegen der Einzelheiten auf GZ Bl. 113 ff. Bezug genommen.

Mit ihrer Klage vom 30.06.2011 verfolgt die Klägerin ihren Anspruch weiter. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, die widersprüchlichen Aussagen der IHK zur Tragfähigkeit seien auf eine unzureichende Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt zurückzuführen. Ihr Ehemann habe ein Einkommen von monatlich 3.950 Euro, dazu komme das Kindergeld, so dass ihre privaten Aufwendungen – die sie mit monatlich durchschnittlich 1.554,83 Euro angegeben hat – problemlos mitgetragen werden könnten. Nach dem maßgeblichen Ertragsplan vom 06.04.2011 sei für die ersten neun Monate von durchschnittlichen Erträgen in Höhe von monatlich 937,11 Euro – bzw. eher höher, wenn man die Fahrzeugkosten weniger vorsichtiger ansetze, als sie das getan habe –, im zweiten Jahr von 1.361,33 Euro und im dritten Jahr von 1.673,80 Euro auszugehen. Die tatsächlichen Gesamteinnahmen in der Zeit von Januar bis September 2011 von 18.880,65 Euro, denen zeitraumbezogene Ausgaben von 5.658,43 Euro gegenüberstünden (die Gesamtaufwendungen von 9.005,75 Euro seien um die Abführungen an das Finanzamt zu reduzieren, da es sich um nachträgliche Zahlung von Einkommens- und Umsatzsteuer aus dem Jahr 2009 gehandelt habe), stimmten mit den prognostizierten Zahlen im Übrigen im Wesentlichen überein. Nicht zuletzt auf Grund der fehlenden Förderung habe sie zwischenzeitlich eine abhängige Beschäftigung (im Umfang von zwölf Wochenstunden) aufgenommen; daneben führe sie die selbständige Tätigkeit in eingeschränktem Umfang fort.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2011 zu verurteilen, ihr Gründungszuschuss in gesetzlichem Umfang ab dem 20.12.2010 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung macht sie insbesondere geltend, auch nach neun Monaten deckten die prognostizierten Gewinne nicht die privaten Aufwendungen in Höhe der zuletzt angegebenen 1.564,83 Euro monatlich. Damit sei die Klägerin weiter auf die Einkünfte ihres Ehemanns angewiesen; die Existenzgründung sei damit nicht tragfähig, die prognostizierte langfristige Steigerungsfähigkeit sei insoweit nicht ausreichend. Die nachträglich eingereichten Unterlagen zu den tatsächlichen Einkünften seien nicht maßgeblich, da von ihr, der Beklagten, eine Prognoseentscheidung zu treffen sei.

Die Kammer hat die Klägerin im Rahmen des Erörterungstermins am 03.06.2013 ausführlich gehört; insofern wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichts- sowie der zur Klägerin geführten Leistungsakte, die bei der Entscheidung vorlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer kann über die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem beide Beteiligten im Rahmen des Erörterungstermins vom 03.06.2013 hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Gründungszuschuss ab 20.12.2010 zu. Der angefochtene Bescheid vom 21.04.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31.05.2011 erweist sich damit als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthaft, nachdem § 57 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) – Arbeitsförderung – in der hier maßgeblichen, ab 01.08.2009 geltenden Fassung (im Folgenden: a.F.) des Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch, zur Errichtung einer Versorgungsausgleichskasse und anderer Gesetze vom 15.7.2009 (BGBl. I S. 1939) noch einen gebunden Anspruch auf Gründungszuschuss vorsah.

Die Klage ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere angesichts des Klageeingangs am 30.06.2011 frist- und formgerecht beim zuständigen Sozialgericht erhoben.

Rechtsgrundlage für den beanspruchten Gründungszuschuss ist § 57 SGB III a.F., der angesichts der Antragstellung und der Aufnahme der Tätigkeit Ende 2010 auf Grund von § 422 Abs. 1 Nr. 3 SGB III hier weiter anwendbar ist.

Danach hatte eine Arbeitnehmerin, die durch Aufnahme einer selbständigen, hauptberuflichen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beendete, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung Anspruch auf einen Gründungszuschuss (§ 57 Abs. 1 SGB III a.F.). Der Gründungszuschuss wurde – auf vorherigen Antrag (§§ 323 Abs. 1 S. 1, 324 Abs. 1 S. 1 SGB III) – geleistet, wenn die Arbeitnehmerin (1.) bis zur Aufnahme der selbständigen Tätigkeit einen Anspruch auf Entgeltersatzleistungen nach dem SGB III oder eine Beschäftigung ausgeübt hatte, die als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nach dem SGB III gefördert worden war, (2.) bei Aufnahme der selbständigen Tätigkeit noch über einen Anspruch auf Arbeitslosengeld, dessen Dauer nicht allein auf § 127 Abs. 3 SGB III beruhte, von mindestens 90 Tagen verfügte, (3.) der Agentur für Arbeit die Tragfähigkeit der Existenzgründung nachwies und (4.) ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zur Ausübung der selbständigen Tätigkeit darlegte (§ 57 Abs. 2 S. 1 SGB III a.F.), wobei die Geförderte in zeitlicher Hinsicht ab dem Monat, in dem sie das Lebensjahr für den Anspruch auf Regelaltersrente im Sinne des Sechsten Buches vollendete, keinen Anspruch mehr hatte (§ 57 Abs. 5 SGB III a.F.). Zum Nachweis der Tragfähigkeit der Existenzgründung war der Agentur für Arbeit die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorzulegen; dabei kamen insbesondere die Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, berufsständische Kammern, Fachverbände und Kreditinstitute in Betracht (§ 57 Abs. 2 S. 2 SGB III a.F.). Der Gründungszuschuss wurde nicht geleistet, solange Ruhenstatbestände nach den §§ 142 bis 144 SGB III a.F. vorlagen oder vorgelegen hätten (§ 57 Abs. 3 SGB III a.F.). Die Förderung war regelmäßig ausgeschlossen, wenn nach Beendigung einer Förderung der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit durch Leistungen nach dem SGB III noch nicht 24 Monate vergangen waren (§ 57 Abs. 4 HS. 1 SGB III a.F.).

Diese Anspruchsvoraussetzungen hat die Klägerin – abgesehen von der Frage der Tragfähigkeit der Existenzgründung unproblematisch und zwischen den Beteiligten unstreitig – erfüllt: Sie war Arbeitnehmerin im Sinne der Vorschrift. Auch hat sie durch die Aufnahme ihrer hauptberuflichen selbständigen Tätigkeit die zuvor bestehende Arbeitslosigkeit im Sinne von §§ 117 ff. SGB III a.F. beendet. Anders als dies möglicherweise die IHK ihrer Stellungnahme zugrunde gelegt hat, steht auch die Hauptberuflichkeit der selbständigen Tätigkeit nicht etwa deswegen in Zweifel, weil die Klägerin zunächst nur eine Tätigkeit im Umfang von etwa 20 Stunden geplant hatte. Dies ist ausreichend, wenn – wie hier – der zeitliche Schwerpunkt der Erwerbstätigkeit auf der selbständigen Tätigkeit liegt (vgl. BT-Drs. 15/3674 S. 19) und die Arbeitslosigkeit durch diese Aufnahme beseitigt wird.

Die Klägerin hat weiter – wie geplant und mit der Beklagten im Rahmen der Eingliederungsvereinbarung vom 03.12.2010 abgestimmt – am 20.12.2010 die Tätigkeit aufgenommen, wie sich aus Gewerbeanmeldung an diesem Tage und der zeitnah erzielten ersten Umsätze ergibt. Die Aufnahme steht auch nicht deswegen in Frage, weil die Klägerin ab dem Jahre 2004 bereits eine vergleichbare selbständige Tätigkeit ausgeübt hatte: Diese hatte sie bereits im Frühjahr 2009 aufgegeben und war in eine abhängige Beschäftigung gewechselt. Die Karenzfrist für eine erneute Förderung (§ 57 Abs. 4 SGB III a.F.) bezieht sich auf den Zwischenzeitraum sei dem Ende der letzten Förderung, die hier schon deutlich länger als 24 Monate zurücklag.

Vor der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit bezog die Klägerin Arbeitslosengeld, wobei ihr zum Zeitpunkt der Aufnahme ein ausreichender Restanspruch zur Verfügung stand: Die Beklagte hatte ihr Arbeitslosengeld für 180 Tage ab 02.11.2010 bewilligt, so dass bei Aufnahme der selbständigen Tätigkeit am 20.12.2010 noch ein Restanspruch von (deutlich mehr als) 90 Tagen vorhanden war.

Die Klägerin hat die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für die Ausübung der selbständigen Tätigkeit angesichts ihrer langjährigen selbständigen und unselbständigen Tätigkeit im Verkaufs- und Vertriebsbereich des Hotelgewerbes ausreichend dargelegt; dies wird zu Recht auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogen.

Der notwendige Antrag vor Aufnahme der Tätigkeit lag vor.

Entgegen der Auffassung der Beklagte war das Existenzgründungsvorhaben schließlich auch tragfähig.

Dem steht zunächst die Stellungnahme der IHK nicht entgegen. Zwar ist zum Nachweis der Trägfähigkeit die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorzulegen (§ 57 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 i.V.m. S. 2 SGB III a.F.). Bei der Beurteilung der Tragfähigkeit ist die Beklagte jedoch an die Stellungnahme nach der hier geltenden Fassung der Vorschrift nicht (mehr) gebunden; eine Einschränkung der letztlich eigenverantwortlichen Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts ist der Regelung nicht (mehr) zu entnehmen (vgl. so auch LSG Schleswig-Holstein, 11.12.2009 – L 3 AL 28/08; Stratmann, in: Niesel/Brand, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 57 Rn. 11; Stark, in: NK-SGB III, 3. Aufl. 2008, § 57 Rn. 66; a.A. allerdings ohne sich mit der seit 2007 geänderten Fassung der Vorschrift auseinanderzusetzen – Winkler, in: Gagel, SGB II/III, § 57 SGB III Rn. 29 [Stand: EL 38 April 2010]). Auch eine Bindung des Gerichts bei der Überprüfung der Entscheidung der Beklagten besteht dementsprechend nicht.

Denkbar wäre angesichts der Formulierung der gesetzlichen Vorschrift allenfalls, dass die Beklagte die Stellungnahme nur daraufhin zu überprüfen hat, ob trotz eines positiven Votums der fachkundigen Stelle Grund zu Zweifeln an der Tragfähigkeit besteht, sie aber umgekehrt nicht berechtigt sein könnte, sich über ein negatives Votum hinwegzusetzen. Eine derartige asymmetrische Einschränkung des Prüfungsrechts erscheint aber schon grundsätzlich nicht gerechtfertigt. Umso mehr muss dies gelten, wenn die Stellungnahme – wie hier (dazu sogleich noch ausführlicher) – in sich nicht ausreichend schlüssig ist bzw. Hinweise bestehen, dass der von der fachkundigen Stelle angelegten Kriterien mit der gesetzlichen Konzeption möglicherweise nicht übereinstimmen.

Im Ergebnis bleibt es – jedenfalls in diesem Falle – bei einer eigenen Prüfpflicht des Leistungsträgers, so dass dieser nicht von der Pflicht zu eigenen Ermittlungen entbunden ist (vgl. so auch zur parallelen Problematik hinsichtlich des Einstiegsgeldes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch: Harks, in: jurisPK-SGB II, 3. Aufl. 2012, § 16c i.d.F. vom 20.12.2011 Rn. 26): Im konkreten Fall ist nämlich die Stellungnahme der IHK wenig eindeutig und enthält deutliche Anhaltspunkte dafür, dass ihr andere Maßstäbe zugrunde liegen, als das SGB III sie vorsieht: So geht die IHK offenbar von der Annahme aus, eine Stundenzahl von 20 bis 30 Stunden sei (regelmäßig) als nebenberuflich einzuschätzen; noch problematischer ist, dass nicht hinreichend offengelegt ist, welche Voraussetzungen nach Auffassung der IHK erfüllt sein müssen, um eine positive Einschätzung abgeben zu können. Dem entspricht, dass die IHK am 07.03.2011 zunächst eine grundsätzlich positive Stellungnahme abgegeben hat, dieser allerdings offenbar zugrunde gelegt hat, dass eine Tätigkeit im Umfang von 25 bis 30 Stunden für einen "Nebenerwerb angemessen" sei, und die Beklagte hinsichtlich eines "Vollerwerbs" auf die Klärung der privaten Situation der Klägerin verwiesen hat, ohne näher auszuführen, inwiefern dies von Belang sein könnte. Ihrer im Ergebnis negativen und damit korrigierten Einschätzung vom 11.04.2011 hat die IHK denn auch keine anderen tatsächlichen Umstände zugrunde gelegt als der vom 07.03.2011, sondern nur nochmals hervorgehoben, angesichts der Stundenzahl ginge sie von einem Nebenerwerb aus – was, wie bereits dargestellt, mit den Maßstäben des Arbeitsförderungsrechts nicht, jedenfalls nicht zwingend übereinstimmt –, und (sogar unter ausdrücklichem Verweis auf die ursprüngliche Stellungnahme vom 07.03.2011) nunmehr die Tragfähigkeit verneint. Eine hinreichend eindeutige, schlüssige und damit belastbare Stellungnahme stellt dies nach Auffassung der Kammer nicht dar, so dass sie als solche dem Anspruch der Klägerin nicht entgegengehalten werden kann.

Notwendig war (und ist) vor diesem Hintergrund vielmehr eine eigenständige Beurteilung der Tragfähigkeit durch die Beklagte (und das Gericht).

Hinsichtlich der tatsächlichen Umstände zieht dabei auch die Beklagte die Zahlen aus der Rentabilitätsvorschau vom 06.04.2011 nicht in Frage; auch die Kammer hält diese angesichts der beruflichen Vorerfahrungen der Klägerin, die überdies im gleichen Bereich bereits selbständig war, für belastbar. Zu weiteren Ermittlungen in tatsächlicher Hinsicht bestand daher kein Anlass. Die Kammer geht vielmehr auf Grund dieser Zahlen davon aus, dass die Klägerin für das erste Jahr ein Ergebnis von 10.744 Euro, für das zweite Jahr von 12.244 Euro und für das dritte Jahr von 14.368 Euro realistischweise prognostiziert hat; wegen der Einzelheiten wird auf GZ Bl. 57 ff. Bezug genommen.

Eine Berücksichtigung der dort aufgeführten Zahlen ist auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Klägerin zu diesem Zeitpunkt die Tätigkeit schon aufgenommen hatte und die Beklagte grundsätzlich die Tragfähigkeit prognostisch zu beurteilen hat. Das schließt aus, die weitere Entwicklung während eines gerichtlichen Verfahrens (und geänderte Zahlen zur Beurteilung der Tragfähigkeit) zu berücksichtigen. Es besteht aber kein Grund, Zahlen, die bis zur letzten Verwaltungsentscheidung anfallen und also bei der Widerspruchsentscheidung der Beklagten vorlagen, unberücksichtigt zu lassen.

Auszugehen ist damit von den Zahlen aus der Rentabilitätsvorschau vom 06.04.2011, die die Kammer für plausibel hält und die auch von der Beklagten im Erörterungstermin am 03.06.2013 nicht (mehr) in Zweifel gezogen worden sind. Streitig ist zwischen den Beteiligten vielmehr allein die rechtliche Bewertung, ob diese tatsächlichen Ertragserwartungen als tragfähig im Sinne des § 57 SGB III angesehen werden können. Die Kammer bejaht dies.

Allerdings ist der Begriff der Tragfähigkeit – der sich in vergleichbarem Zusammenhang im Übrigen auch als Voraussetzung für die Bewilligung von Leistungen für die Eingliederung von Selbständigen nach § 16c SGB II und (früher) eines Existenzgründungszuschusses nach § 421l SGB III findet bzw. fand – in Rechtsprechung und Literatur nicht eindeutig geklärt.

Am großzügigsten ist der Maßstab, den das Sächs. LSG seiner Entscheidung vom 13.10.2009 (Az.: L 3 AS 318/09 B ER) zugrunde gelegt hat: Danach ist es ausreichend, wenn der erzielte Ertrag die Betriebsausgaben deckt. Auf der anderen Seite des Spektrums der zu dieser Frage formulierten Auffassungen wird vertreten, dass eine selbständige Tätigkeit erst dann tragfähig sei, wenn die Selbständige durch sie ein monatliches Bruttoeinkommen in Höhe des Durchschnittseinkommens abhängig Beschäftigter oder jedenfalls von zwei Dritteln hiervon erzielt (vgl. Stark, a.a.O., mit Abweichungen im Einzelfall unter Hinweis auf die frühere FdA-AO; Stratmann, a.a.O., und Hassel, in: Brand, SGB III, 6. Aufl. 2012, § 93 Rn. 12). Gewissermaßen in der Mitte liegen Positionen, die einen Gewinn in Höhe von 1.200-1.500 Euro nach der Anlaufphase (Winkler, a.a.O.) bzw. von 1.000-1.200 Euro in etwa zwei Jahren verlangen (so nunmehr Winkler, in: Gagel: SGB II/SGB III, § 93 SGB III Rn. 43 [Std: EL 45, April 2012] unter Verweis auf BT-Drs 16/10810 S. 47). In der genannten Bundestagsdrucksache, also in den Materialien zum Einstiegsgeld nach dem SGB II, wird es für die Tragfähigkeit als ausreichend angesehen, wenn durch die Existenzgründung die Hilfebedürftigkeit dauerhaft überwunden oder verringert werden kann; in zeitlicher Hinsicht ist dort eine Frist von zwei Jahren erwähnt. Das BSG hat die Frage, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden.

Die Kammer ist zu dieser Frage zunächst der Auffassung, dass jedenfalls im Rechtskreis des SGB III viel dafür spricht, allein auf die Person des Antragstellers abzustellen. Der Anspruch auf Gründungszuschuss stellt sich hier als Versicherungsleistung dar, die auf die von dem oder der Betroffenen gezahlten Beiträge zurückgeht. Jedenfalls in diesem Falle ist es problematisch, an die Tragfähigkeit höhere Anforderungen zu stellen, wenn der oder die Versicherte verheiratet ist und/oder Kinder hat und diesen unterhaltspflichtig ist. Gegen ein entsprechendes Verständnis spricht zudem, dass ein in Ehe und Familie eingebundener Anspruchsteller ggf. schlechter gestellt würde als ein alleinstehender; dies wäre mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz jedenfalls als problematisch anzusehen. Eher denkbar ist eine Unterscheidung nach den finanziellen Verhältnissen der mit dem oder der Betroffenen zusammenlebenden Familienmitglieder im Bereich des SGB II, weil die Leistungen hier nicht nur darauf zielen dürften, den individuellen Antragsteller von steuerfinanzierten Leistungen zum Lebensunterhalt unabhängig werden zu lassen, sondern auch die mit ihm in Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen.

Letztlich kann dies offenbleiben: Wenn man den Umstand berücksichtigen wollte, dass die Klägerin verheiratet ist und Kinder hat, dann müsste man im Gegenzug auch einbeziehen, dass ihr Ehemann nach ihren glaubhaften Angaben ein monatliches Einkommen von 3.950 Euro hat. Daher sind die familiären Verhältnisse der Klägerin für die hier zu treffende Entscheidung nicht, jedenfalls nicht als einschränkender Faktor bedeutsam.

Auch ist für die Kammer kein rechtfertigender Grund erkennbar, warum die Tragfähigkeit am Durchschnittseinkommen abhängig Beschäftigter oder eine Anteil hiervon zu orientieren wäre. Insoweit spricht vielmehr viel dafür, es der freien Entscheidung des Einzelnen zu überlassen, ob er sich – um dem Wunsch nach einer selbständigen und von Lohnersatzleistungen unabhängigen Existenz zu realisieren – mit einem niedrigeren als dem durchschnittlichen Lebensstandard zufrieden geben will. Weiter kann es nicht darauf ankommen, ob im individuellen Fall tatsächlich ein höherer Lebensstandard den (bisherigen) persönlichen Bedürfnissen entspricht als mit dem Ertrag der selbständigen Tätigkeit realisiert werden kann; dies gilt jedenfalls dann, wenn die Differenz voraussichtlich dauerhaft aus anderweit zur Verfügung stehendem Einkommen und Vermögen (ggf. auch anderer Familienmitglieder) ausgeglichen werden kann, so dass eine baldige Aufgabe der selbständigen Tätigkeit aus diesem Grunde nicht zu befürchten steht. Der von der Klägerin für ihre individuellen privaten Aufwendungen angegebene Betrag ist daher für die Entscheidung nicht ausschlaggebend. Maßgebend für die Auslegung des Begriffs der Tragfähigkeit ist vielmehr, dass durch diese Tatbestandsvoraussetzung gesichert werden soll, dass die Beklagte nicht Vorhaben unterstützen muss, die voraussichtlich alsbald wieder eingestellt werden (müssen), weil der Geförderte nicht einmal sein (eigenes) Auskommen sichern kann, so dass er voraussichtlich bald wieder arbeitslos und die Förderung verloren sein wird.

Ausreichend ist danach (jedenfalls) ein Gewinn, der die Existenz sichert, wobei offenbleiben kann, ob hierbei an den Bedarf eines Alleinstehenden nach dem SGB II (unter Berücksichtigung nicht der tatsächlichen, sondern angemessener Kosten der Unterkunft, also derzeit von rund 800 Euro im großstädtischen Bereich) oder der Pfändungsfreigrenze für Arbeitseinkommen (im maßgeblichen Zeitraum: 985,15 Euro nach § 850c Abs. 1 S. 1 der Zivilprozessordnung i.V.m. der Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung 2005) anzuknüpfen ist. Ebenso muss nicht entschieden werden, ob ein Sicherheitszuschlag einzubeziehen ist, um die mit der Prognose notwendig verbundenen Unwägbarkeiten in gewissem Umfang abzufedern und so zu verhindern, dass auch nur kleine Abweichungen der tatsächlichen von der prognostizierten Entwicklung zum Scheitern des Vorhabens führen. Schließlich kann offenbleiben, ob im Einzelfall ein geringerer Betrag ausreichen kann, wenn glaubhaft ein niedrigerer Bedarf – etwa wegen konkret geringer Unterkunftskosten – besteht. Ausreichend ist nach Auffassung der Kammer jedenfalls ein Betrag von 1.100 Euro, den die Klägerin nach ihrer Ertragsplanung ab April 2012 (nahezu) durchgängig zu erreichen bzw. (z.T. deutlich) zu überschreiten plante.

In zeitlicher Hinsicht ist bei der Beurteilung der Tragfähigkeit die Fördermöglichkeit durch den Gründungszuschuss einzubeziehen, der ja gerade dabei helfen soll, die häufig schwierige Anfangsphase zu überwinden. Der genannte Betrag ist daher nicht von Anfang an, sondern unter Berücksichtigung der (damaligen) Laufzeit des Gründungszuschusses erst nach neun Monaten bzw. der eingeschränkten weiteren Förderung für zusätzliche sechs Monate in Höhe von 300 Euro (§ 58 Abs. 1 SGB III a.F.) vollständig erst nach 15 Monaten zu realisieren. Viel spricht dafür, den Zeitraum noch weiter zu strecken, wenn der Antragsteller Reserven zur Verfügung hat (und diese glaubhaft in die Existenzgründung zu investieren bereit ist).

Nach der realistischen und, wie bereits ausgeführt, auch von der Beklagten nicht (mehr) in Zweifel gezogenen Prognose der Klägerin war die Existenzgründung danach tragfähig: In den ersten neun Monaten, also bis August 2011, wäre ihre Existenz durch den Gründungszuschuss gesichert. In den weiteren sechs Monaten bis Februar 2012 kalkulierte sie regelmäßig bereits mit einem Ergebnis nach Steuern, das unter Berücksichtigung der weiteren Förderung ebenfalls als ausreichend anzusehen ist. Für die Zeit nach dem vollständigen Auslaufen der Förderung prognostizierte sie regelmäßig ein Ergebnis von über 1.100 Euro monatlich. Soweit sie auf Grund saisonaler Schwankungen in einzelnen Monaten (namentlich jeweils im Dezember und Januar) eine Unterschreitung der genannten Zahlen prognostiziert hat, ist plausibel, dass sie dies durch das Ergebnis von insgesamt 10.744 Euro im ersten, von 12.244 Euro im zweiten und 14.368 Euro im dritten Jahr hätte ausgleichen können, wenn ihr im ersten und teilweise im zweiten Jahr der Gründungszuschuss zur Verfügung gestanden hätte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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