L 9 KR 164/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 28 KR 731/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 164/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Prüfung eines Anordnungsgrundes im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zur Gewährung von Krankengeld.
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Mai 2013 aufgehoben. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 22. April 2013 wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Mai 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Das Sozialgericht hat die Antragsgegnerin zu Unrecht im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller über den 10. März 2013 hinaus bis zum 07. Mai 2013 Krankengeld nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren. Das Sozialgericht hätte es vielmehr ablehnen müssen, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zur Zahlung von Krankengeld für den streitigen Zeitraum zu verpflichten, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen des § 86 b Abs. 2 SGG nicht vorlagen und nicht vorliegen.

Denn der Antragsteller begehrt für einen Zeitraum Krankengeld, der vor der Entscheidung des Sozialgerichts liegt. Hierfür bestand und besteht kein eiliges Regelungsbedürfnis (mehr); insoweit hat der Antragsteller deshalb keinen Anordnungsgrund nach § 86b Abs. 2 Satz 2 und 3 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht.

1.) In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies grundsätzlich der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung, im sozialgerichtlichen Verfahren der Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts. Denn die prozessuale Funktion des einstweiligen Rechtsschutzes besteht vor dem Hintergrund des Artikels 19 Absatz 4 Grundgesetz (GG) darin, in dringenden Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung im – grundsätzlich vorrangigen – Verfahren der Hauptsache zu spät käme, weil ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2002 – 1 BvR 1586/02 – und vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05; zitiert nach juris). Dies bedeutet aber zugleich, dass die Annahme einer besonderen Dringlichkeit und dementsprechend die Bejahung eines Anordnungsgrundes in aller Regel ausscheidet, soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, denn insoweit ist die besondere Dringlichkeit durch den Zeitablauf überholt, das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

2.) Daraus ist abzuleiten, dass das Beschwerdegericht – vorbehaltlich der noch darzustellenden Ausnahmen - Krankengeld erst ab dem Zeitpunkt seiner Entscheidung in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zusprechen kann und darf. Dasselbe gilt auch für das Sozialgericht: Die Verpflichtung der Krankenkassen zur Gewährung von Krankengeld im Wege einstweiliger Anordnung für Zeiträume, die vor der Entscheidung des Sozialgerichts liegen, ist grundsätzlich ausgeschlossen.

3.) Beachtet das Sozialgericht die prozessualen Grenzen des § 86b Abs. 2 SGG und verpflichtet eine Krankenkasse im Wege einstweiliger Anordnung zur Gewährung von Krankengeld erst für Zeiträume, die nach seiner Entscheidung liegen, verschiebt sich der maßgebliche Zeitpunkt zur Beurteilung des Vorliegens des Anordnungsgrundes auch für das Beschwerdegericht auf den Zeitpunkt der sozialgerichtlichen Entscheidung. Denn die Entscheidung des Sozialgerichts ist - jedenfalls insoweit - rechtsfehlerfrei und darf im Beschwerdeverfahren nicht allein deshalb aufgehoben werden, weil sich die zusprechende Entscheidung auf Zeiträume bezieht, die vor der Beschwerdeentscheidung liegen. Bliebe auch in diesem Fall der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung des Anordnungsgrundes, müssten stattgebende einstweilige Anordnungen des Sozialgerichts für die vor der Beschwerdeentscheidung liegenden Zeiträume immer schon dann aufgehoben werden, wenn die Krankenkasse gegen die stattgebende Entscheidung Beschwerde einlegt. Dies wäre jedoch mit dem Charakter der Beschwerdeentscheidung als Entscheidung zur Überprüfung der sozialgerichtlichen Entscheidung nicht zu vereinbaren.

4.) Spricht das Sozialgericht dagegen im Wege einstweiliger Anordnung Krankengeld für Zeiträume zu, die vor seiner Entscheidung liegen, ist auf eine Beschwerde der Krankenkasse der zusprechende Beschluss insoweit grundsätzlich aufzuheben: Auch in diesem Fall können dem Antragsteller durch die Versagung des Krankengeldes für die Vergangenheit grundsätzlich keine wesentlichen Nachteile mehr entstehen, die sich durch den Erlass der auf eine zukünftige Regelung gerichteten einstweiligen Anordnung noch abwenden ließen. Denn der Antragsteller hat in der Zeit, für die er im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung Krankengeld begehrt und vom Sozialgericht zugesprochen bekommen hat, seinen Lebensunterhalt bereits aus eigenen oder fremden Mitteln gedeckt, so dass er hierfür auf das zugesprochene Krankengeld nicht angewiesen war. Für die Erstattung der zur Deckung des Lebensunterhaltes möglicherweise aufgewandten eigenen finanziellen Mittel oder zur Tilgung hierfür eventuell eingegangener Verbindlichkeiten hätte die erlassene einstweilige Anordnung nicht ergehen dürfen, weil die damit verbundenen Nachteile zum Zeitpunkt ihres Erlasses bereits eingetreten waren und deshalb nicht mehr abgewendet werden konnten. Die Klärung des vom Antragsteller behaupteten Anspruchs auf Krankengeld für den Zeitraum vom 10. März 2013 hinaus bis zum 07. Mai 2013 muss damit dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Der Antragsteller hätte seine Rechte auf die Gewährung von Krankengeld für die Zukunft (d.h. für Zeiträume, die nach dem Zeitpunkt dieser Entscheidung liegen) durch eine (eigene) Beschwerde gegen die sozialgerichtliche Entscheidung wahren können. Denn nach Vorlage ärztlicher Bescheinigungen über das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit über den 19. Juli 2013 hinaus hätte der Senat Krankengeld ggf. zusprechen können. Dasselbe Ergebnis kann der Antragsteller nunmehr dadurch erreichen, dass er beim Sozialgericht einen neuen zukunftsbezogenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt, soweit die Antragsgegnerin weiterhin die Gewährung von Krankengeld ablehnen sollte.

5.) Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG kann zwar in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume verlangen, so insbesondere dann, wenn andernfalls effektiver Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren nicht erlangt werden kann, weil bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Verfahren der Hauptsache nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere ist es nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes in Verfahren wie dem vorliegenden, Rechtsschutzsuchenden die Mittel zur Rückzahlung von in der Vergangenheit entstandenen privaten Schulden zu beschaffen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 30. Januar 2008, - L 9 B 600/07 KR ER -, zitiert nach juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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