L 12 R 970/09

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 10 R 1310/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 12 R 970/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Rücknahme eines rechtswidrigen Renten(-bewilligungs-)bescheides für die Zukunft wegen Berücksichtigung von doppelt zu hohen Entgeltpunkten durch die Beklagte; zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bei zwischenzeitlichem Tod des Klägers und zur Vertrauens- und Ermessensprüfung
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. August 2009 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Teilaufhebung eines Rentenbescheides für die Zukunft.

Der 1952 in B geborene, 2011 verstorbene, geschiedene Kläger, ist Vater von zwei Kindern gewesen (S, geboren 1982; und S, geb. 1997), für die er unterhaltspflichtig war. Er verfügte über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Eine begonnene Ausbildung zum Fleischer brach er nach eigenen Angaben im letzten halben Jahr vor der Beendigung ab. Seine Kumpels auf dem Bau hätten damals mehr verdient. Er arbeitete zuletzt vor dem Rentenbezug als Hilfsschlosser, Produktionshelfer und Gabelstaplerfahrer.

Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 27. August 1996 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 01. August 1996 bis 30. Juni 1997 mit einem anfänglichen Zahlbetrag im Monat August 1996 in Höhe von 1.002,52 DM (unter Abzug von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung). Der Rentengewährung lagen persönliche Entgeltpunkte von 23,2351 zugrunde. Da der Kläger ab 4. September 1996 freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung war, gewährte ihm die Beklagte auf seinen Antrag die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit monatlichen Zuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung; der Zahlbetrag der Rente und Zuschüsse betrug ab 4. September 1996 1.166,26 DM (Bescheid vom 17. Dezember 1996). In dem Antrag erklärte der Kläger u. a. keine "andere Rente" zu beziehen. Im Dezember 1996 beantragte der Kläger bei der Beklagten die unbare Rentenzahlung auf das Konto seiner damaligen Ehefrau.

Den Antrag des Klägers vom 01. März 1997 auf Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit über den Wegfallmonat hinaus, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 23. April 1997 ab. Der Kläger sei über dem Wegfallmonat hinaus zum damaligen Zeitpunkt weder berufs- noch erwerbsunfähig gewesen. Mit seinem vorhandenen Leistungsvermögen habe er noch Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig ausüben können.

Der Kläger beantragte am 18. Februar 1998 erneut die Gewährung einer Rente wegen Berufs /Erwerbsunfähigkeit. In dem Antrag gab der Kläger u. a. an, Arbeitslosengeld bezogen zu haben. Mit Schreiben vom 20. Februar 1998 meldete das Arbeitsamt B bei der Beklagten die Erstattung von Sozialleistungen an, weil es Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) gezahlt habe bzw. zahle, die später für den Zeitraum vom 1. März 1998 bis 24. Mai 1998 geltend gemacht wurden.

Mit Bescheid vom 15. Mai 1998 bewilligte die Beklagte dem Kläger die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01. März 1998 bis zur Vollendung seines 65. Lebensjahres (Beginn der Regelaltersrente). Der Zahlbetrag ab Rentenbeginn betrug 1.873,91 DM (unter Abzug von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung) und im Juli 1998 1.886,06 DM (wiederum unter Abzug von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung). Dieser Rentenbewilligung lagen sowohl 23,2351 persönliche Entgeltpunkte als auch 23,2351 persönliche Entgeltpunkte/Ost zugrunde. In der Anlage 6 des Rentenbescheides S. 1 am Ende/S. 2 oben heißt es: "Persönliche Entgeltpunke, die bereits Grundlage einer früheren Rente waren, sind weiterhin zugrunde zu legen, wenn sie zu einer höheren Rente führen. Die bisherigen Entgeltpunkte betragen 46,4702."

Da der Kläger erneut bei der Beklagten einen Antrag auf Zahlung von Zuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung gestellt hatte, wurde die Rente "neu berechnet" und dem Kläger monatlich ab Juli 1998 2.206,92 DM gezahlt; Bescheid vom 22. Juli 1998.

Der Kläger zahlte an die Kranken- und Pflegeversicherung nicht die Beiträge, weswegen die A B ein Verrechnungsersuchen an die Beklagte über den Betrag von 2.568,24 DM im März 1999 stellte. Die Beklagte behielt daraufhin mit Einverständnis des Klägers einen monatlichen Betrag von anfänglich 181,50 DM von der Rente ein. Der Zahlbetrag der Rente und Zuschüsse betrug ab 1. Juli 1999 2.067,13 DM; Bescheid vom 7. Mai 1999. Ab 1. Februar 2000, 1. Juli 2000 bzw. 1. Juli 2001 behielt die Beklagte 201,50 DM, 211,50 DM bzw. 231,50 DM ein. Der Zahlbetrag der Rente und Zuschüsse betrug 2.047,13 DM, 2.049,78 DM bzw. 1.921,46 DM monatlich. Das Verrechnungsersuchen war im November 2001 erledigt.

Im Juli 2000 erhielt die Beklagte von der Krankenversicherung des Klägers Kenntnis, dass dieser seit 3. November 1998 nicht mehr krankenversichert sei wegen Zahlungsverzuges. Die Beklagte berechnete daraufhin die Rente neu und bestimmte einen Zahlbetrag der Rente von monatlich 1.899,18 DM (unter Abzug der Verrechnung von 211,50 DM) ab 1. September 2000; Bescheid vom 2. August 2000. Mit Bescheid vom 21. September 2000 hob die Beklagte die Gewährung von Beitragszuschüssen zur Kranken- und Pflegeversicherung ab 3. November 1998 auf und forderte eine Erstattung von 3.239,22 DM. Mit Bescheid vom 9. Oktober 2001 nahm die Beklagte das Verrechnungsersuchen des Landesarbeitsamtes Berlin vom 22. Mai 1997 auf, wozu sie zunächst erklärt hatte, der Kläger bezöge keine Leistungen von ihr ab 1. Juli 1997, und behielt von der Rente des Klägers ab Dezember 2001 weiterhin 231,50 DM ein; der Zahlbetrag der Rente betrug 1.921,46 DM monatlich. Ab 1. Januar 2002, 1. Juli 2002 betrug die monatliche Rentenzahlung 982,43 Euro, 1.009,94 Euro unter Abzug der Verrechnung von 118,36 Euro. Das Verrechnungsersuchen endete im Februar 2003. Für den Monat März 2003 vermerkte die Beklagte, dass kein pfändungsfreier Betrag aus dem Renteneinkommen des Klägers bei Berücksichtigung auch eines unterhaltspflichtigen Kindes bestehe.

Am 2. April 2002 fragte das Bezirksamt von B bei der Beklagten an, ob der Verbleib des Klägers bekannt sei. Für seine Tochter S seien Jugendhilfeleistungen gewährt worden. Die Beklagte teilte dem Bezirksamt mit, ein anderer bevorrechtigter Gläubiger erhalte aus der Rente des Klägers 118,36 Euro monatlich. Auf die weitere Nachfrage des Bezirksamtes vom 25. Mai 2002, ob eine weitere Pfändung von ihm wegen Unterhaltsrückstände für die Tochter S von 10.711,61 Euro Aussicht auf Erfolg haben könne, erwiderte die Beklagte, die bevorrechtigte Forderung sei im "Mai" (richtig: Februar) 2003 befriedigt. Drei weitere Pfändungs- und Überweisungsbeschlüsse über insgesamt 8.027,12 EUR anderer Gläubiger seien vorrangig zu bedienen.

Mit einem Schreiben der Beklagten vom 10. Januar 2005 hörte die Beklagte den Kläger an, weil der Rentenbescheid vom 15. Mai 1998 mit Wirkung vom 1. März 2002 zu ändern sei. Im Zeitraum vom 1. März 2002 bis 30. November 2003 seien die Hinzuverdienstgrenzen überschritten worden und Rentenbeträge von insgesamt 2.814,26 Euro zu erstatten. Der Kläger war mit einer Verrechnung von 100,00 Euro pro Monat auf die Forderung einverstanden. Durch Bescheid vom 03. Februar 2005 verfügte sie, dass der Bescheid vom 15. Mai 1998 über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung vom 01. März 2002 hinsichtlich des Auszahlungsbetrages aufgehoben werde, der überzahlte Betrag in Höhe von 2.814,26 Euro zu erstatten sei und zur Tilgung der Schuld ab 01. März 2005 monatlich ein Betrag von 100,00 Euro gegen die Rente aufgerechnet werde. Die Beklagte behielt fortlaufend 100,00 Euro monatlich ein. Im Juli 2007 betrug der monatliche Zahlbetrag 1.132,63 Euro unter Abzug eines Verrechnungsbetrages von noch 14,26 Euro. Ausweislich eines Aktenvermerks bereits vom 21. Juni 2007 fiel der Beklagten auf, dass 1998 der Rentenberechnung die doppelte Anzahl an Entgeltpunkten zugrunde gelegt worden und seit 1. März 1998 eine zu hohe Rente gezahlt worden war. Intern ermittelte sie für den Zeitraum vom 1. März 1998 bis 31. Juli 2007 eine Überzahlung von insgesamt 60.624,76 Euro, wovon 4.538,33 Euro an andere Leistungsträger durch Verrechnungen ausgezahlt worden waren. Die Beklagte gab dem Kläger mit Schreiben vom 12. Juli 2007 Gelegenheit zur Stellungnahme. Sie beabsichtige, den Bescheid vom 15. Mai 1998, mit dem dem Kläger ab 01. März 1998 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt worden war, teilweise zurückzunehmen und die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (ursprünglich) mit Wirkung vom 01. Oktober 2007 an zu mindern. Dem Bescheid vom 15. Mai 1998 seien sowohl die Entgeltpunkte aus der Vorrente als auch die gleiche Anzahl der Entgeltpunkte/Ost der ab 01. März 1998 gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zugrunde gelegt worden. Es seien jedoch nur Entgeltpunkte von 23,2351 zu berücksichtigen. Hieraus errechne sich eine monatlich Bruttorente von 610,39 Euro. Der Kläger meldete sich im August 2007 telefonisch und teilte mit, dass er mit der Kürzung seiner Rente nicht einverstanden sei. Mit Schreiben vom 08. Juli 2007 widersprach der Kläger der Minderung seiner Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf den monatlichen Betrag von 610,00 Euro und machte eine genaue Überprüfung dieser Rente geltend.

Mit einer Verlautbarung der Beklagten vom 10. September 2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, die Berechnungsgrundlage (seiner Rente) habe sich geändert, die Rente sei daher neu zu berechnen. "Für die Zeit ab 01.10.2007 werden laufend 1.026,47 Euro gezahlt." Für die Zeit ab 1. April 2007 bis 30. September 2007 stellte sie eine Überzahlung von 720,60 Euro fest, die zu erstatten sei.

Die Beklagte nahm mit Bescheid vom 17. September 2007 den Bescheid vom 15. Mai 1998 über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung für die Zeit vom 01. November 2007 hinsichtlich der Rentenhöhe zurück und verfügte zugleich, dass ab 01. November 2007 diese Rente in Höhe von monatlich 610,39 Euro brutto zu zahlen sei. Nach Abzug der Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung ergebe sich ein Zahlbetrag in Höhe von 546,30 Euro. Die bis zum 31. Oktober 2007 überzahlten Beträge wurden nicht zurückgefordert. Zur Begründung wiederholte sie ihre Ausführungen aus der Anhörung und meinte, die Rechtswidrigkeit des Bescheides (vom 15. Mai 1998) sei dem Kläger sofort erkennbar gewesen oder im Umkehrschluss die Fehlerhaftigkeit aus der Rentenberechnung der Vorrente. Ein Aufklärungsersuchen an den Rentenversicherungsträger sei durch ihn nicht erfolgt. Fehlerhaftigkeit sei von ihm billigend in Anspruch genommen worden. Vertrauensschutz genieße der Kläger nicht. Für die Vergangenheit sei der den Kläger rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakt jedoch nicht zurückzunehmen, da hierfür die Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Eine Rücknahme sei deswegen nur für die Zukunft in Betracht gekommen. Die Rente sei daher ab 01. November 2007 in materiell-rechtlich zustehender Höhe zu zahlen gewesen. Da das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns grundsätzlich die Beseitigung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes erfordere und dem Kläger unter den gegebenen Umständen ein schutzwürdiges Vertrauen nicht zugebilligt werden könne, habe in Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens von der teilweisen Rücknahme des Bescheides für die Zukunft nicht abgesehen werden können.

Mit Rentenbescheid vom 17. September 2007 stellte die Beklagte die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit neu fest und verfügte ab 01. November 2007 einen monatlichen Zahlbetrag in Höhe von 546,30 Euro unter Berücksichtigung von 23,2351 Entgeltpunkten.

Der Kläger legte am 08. Oktober 2007 gegen den Bescheid vom 17. September 2007 wegen der teilweisen Rücknahme des Bescheides vom 15. Mai 1998 Widerspruch ein. Der Bescheid sei bereits formell rechtswidrig. Es fehle an einer erforderlichen substantiierten Begründung, aus welchem rechtlichen Grund der Bescheid vom 15. Mai 1998 rechtswidrig gewesen sein solle. Es fehle die Ermächtigungsgrundlage, deren Voraussetzungen nach über neun Jahren nicht mehr vorlägen. Auch die tatsächlichen Angaben seien nicht nachvollziehbar. Er habe eine "Vorrente" seit dem 01. März 1998 bzw. bis zum 30. Juni 1997 wegen Erwerbsunfähigkeit entgegen der Darstellung im angefochtenen Bescheid nicht bezogen. Im Übrigen sei die Zweijahresfrist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) nicht gegeben. Er habe auf den Bestand des Bescheides vom 15. Mai 1998, insbesondere im Hinblick auf die Höhe der Rente, vertraut. Hierauf habe er seine vollständige Lebenssituation inklusive der Unterhaltszahlungen an seine Kinder eingerichtet.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04. Februar 2008 als unbegründet zurück und verwies zur Begründung auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid.

Der Kläger hat am 11. März 2008 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben. Er hat ergänzend zu seinen Ausführungen im Widerspruch vorgetragen, ihm sei ein grob fahrlässiges Handeln nicht vorzuwerfen. Er sei schwer krank und intellektuell nicht in der Lage, die Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides vom 15. Mai 1998 zu erkennen. Ihm sei nach seinen individuellen Fähigkeiten die Fehlerhaftigkeit nicht ersichtlich gewesen, dass der Bescheid vom 15. Mai 1998 mit dem vom 27. August 1996 etwas zu tun gehabt haben könnte. Er habe jahrelang unterschiedliche Sozialleistungen in unterschiedlicher Höhe bezogen. Er habe sich vielmehr vorgestellt, dass die Leistungshöhe sich nach der "vorläufigen" (richtig: befristeten) Bewilligung nun als endgültige Rente nach jahrelangen Einzahlungen in die Rentenkasse angemessen wäre.

Die Beklagte hat vorgetragen, um die Unrechtmäßigkeit des am 15. Mai 1998 erteilten Bescheides zu erkennen, habe es einer besonderen Fachkenntnis nicht bedurft. Hierzu seien auch keine komplizierten Rentenberechnungen im Ganzen nachzuvollziehen gewesen. Wie bei jedem Bescheidempfänger habe die Obliegenheit bestanden, an ihn adressierte Bescheide zu lesen, so dass für ihn auffällige Unrichtigkeiten (hier die doppelte Anzahl von Entgeltpunkten) in der Rechtsanwendung erkennbar gewesen seien. Der Kläger hätte zum damaligen Zeitpunkt nur die errechneten Entgeltpunkte mit denen aus dem Bescheid vom 27. August 1996, welche als Besitzschutz zu gewähren gewesen seien, vergleichen müssen. Eine Erhöhung der Bruttorente von 88,45 % oder 959,14 DM (2.043,52 DM minus 1.084,38 DM) hätte dem Kläger auffallen müssen. Soweit er darauf verweise, dass er Sozialleistungen in unterschiedlichsten Höhen erhalten habe und daher in der ab 01. März 1998 gezahlten Höhe der Rente nichts Außergewöhnliches habe erkennen können, zeige dies doch eben, dass er die gebührenden Richtigkeitsüberlegungen nicht angestellt habe.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger u. a. erklärt, für seine Tochter habe er 170,00 Euro Unterhalt bis zur Rentenkürzung gezahlt. Er zahle eine Bruttowarmmiete von 300,00 Euro. Bevor er krank geworden sei, habe er netto 2.000,00 bis 3.000,00 DM monatlich verdient. Das Arbeitslosengeld habe er in unterschiedlicher Höhe bekommen, mal 1.000,00 DM, mal 1.200,00 DM. Der Vertreter der Beklagten hat die Höhe des Verdienstes in 2.000,00 bis 2.500,00 DM berichtigt.

Das Sozialgericht Berlin hat durch Urteil vom 10. August 2009 die Klage abgewiesen. Der Kläger habe sich nicht auf Vertrauensschutz gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X berufen können. Er habe die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt. Der Rentenbescheid vom 15. Mai 1998 sei für den Kläger klar erkennbar fehlerhaft gewesen. Der Auszahlbetrag sei nahezu doppelt so hoch wie die von ihm von der Beklagten nur ein Dreivierteljahr zuvor ausgezahlte monatliche Rente. Die Zweijahresfrist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X sei gewahrt. Ein Ermessensfehler der Beklagten beim Erlass des Rücknahmebescheides sei nicht ersichtlich.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten am 09. September 2009 zugestellte Urteil hat er für den Kläger am 14. September 2009 Berufung eingelegt, zu der er vorträgt, der angefochtene Bescheid sei formell rechtswidrig und verletze dessen Rechte. Die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X lägen hier nicht vor. Danach müsse die Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen sei. Die Ausführungen im Bescheid vom 17. September 2007 machten deutlich, dass die Beklagte ihr Ermessen überhaupt nicht ausgeübt habe. Eine Ermessensausübung werde von ihr nur behauptet. Dies ersetze jedoch nicht die Ausübung des Ermessens.

Der Prozessbevollmächtigte beantragt für den verstorbenen Kläger,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. August 2009 sowie den Aufhebungs- und Rentenbescheid der Beklagten vom 17. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Februar 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts im Ergebnis für zutreffend.

Die ursprünglich für den 15. Mai 2013 vorgesehene mündliche Verhandlung ist wegen Nichterscheinens einer ehrenamtlichen Richterin zum Sitzungsbeginn mit Zustimmung der Beteiligten als Erörterungstermin durchgeführt worden. Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vorbringen der Beteiligten wegen des Verfahrens wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakten der Beklagten (6 Bände - VSNR ) Bezug genommen. Die Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, weil beide Beteiligten hierzu ihre Zustimmung erteilt haben, §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die nach §§ 143 ff, 151 SGG zulässige Berufung des Klägers hat keinen Erfolg. Die zulässige Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 SGG) gegen den Aufhebungs- und Rentenbescheid der Beklagten vom 17. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04. Februar 2008 ist unbegründet.

Aufgrund des Todes des Klägers ist das Berufungsverfahren gemäß § 202 SGG i.V.m. § 239 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) nicht unterbrochen worden. Der Kläger ist im Zeitpunkt seines Todes durch seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten worden (vgl. § 202 SGG i.V.m. § 246 Abs. 1 1. Halbsatz ZPO). Die von ihm unter dem 18. März 2008 erteilte Prozessvollmacht wirkt gemäß § 73 Abs. 6 Satz 6 SGG in der bis zum 31. Dezember 2011 geltenden Fassung bzw. gemäß § 73 Abs. 6 Satz 7 SGG i.V.m. § 86 1. Halbsatz ZPO über dessen Tod hinaus. Das Rubrum ist nicht wegen des Todes des Klägers etwa in "unbekannte Erben" zu berichtigen gewesen, weil die Erben nicht bekannt sind. In einem solchen Fall steht einer Entscheidung nicht entgegen, dass der Rechtsnachfolger dem Gericht nicht bekannt oder benannt ist (BGH LM § 325 ZPO Nr 10; BFH Urteil vom 13. Oktober 1981 - VII R 66-70/79); bis zum Eintritt des Rechtsnachfolgers bedarf es keiner Änderung der bisherigen Parteibezeichnung (des Rubrums), insbesondere nicht einer namentlichen Bezeichnung des Rechtsnachfolgers (BSG, Urteil vom 09. Februar 1984 – 11 RA 20/83). Dies muss auch für etwaige Sonderrechtsnachfolger nach § 56 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches, Allgemeiner Teil (SGB I), gelten.

Rechtsgrundlage der angefochtenen Bescheide über die Rücknahme der Bewilligung von der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Bescheid vom 15. Mai 1998 ist § 45 SGB X. Danach darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit den öffentlichen Interessen an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 1 bis 3 SGB X unter näher geregelten Voraussetzungen nicht berufen.

Die Bewilligung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. März 1998 ist zur Rentenhöhe rechtswidrig gewesen. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen der Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 44 des Sozialgesetzbuches Sechstes Buch (SGB VI a.F.) dem Grunde nach erworben. Hieran bestanden und bestehen keine Zweifel bei Erlass des Bewilligungsbescheides vom 15. Mai 1998, auch nicht zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Aufhebungs- und Rentenbescheides vom 17. September 2007. Denn nicht dem Grunde nach ist diese Rentenbewilligung von Anfang an rechtswidrig gewesen, sondern der Höhe nach. Ursprünglich war dem Kläger mit Rentenbescheid vom 27. August 1996 bereits schon einmal eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1996 bis 30. Juni 1997 bewilligt worden. Über den Folgemonat hinaus nicht, was aus dem Bescheid vom 23. April 1997 folgt. Der Rentengewährung ab 1. August 1996 lagen entsprechend der gesetzlichen Regelungen zur Rentenhöhe gemäß §§ 68 ff. SGB VI 23,2351 Entgeltpunkte zu Grunde, die aus den bei der Beklagten gespeicherten Beitragsdaten ausweislich der Anlagen 2 entnommen, in den Anlagen 3, 4 und 6 bewertet und schließlich zusammengerechnet worden sind. An der Feststellung dieser Entgeltwerte von 23,2351 Punkten bestehen keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit und sind vom Kläger auch nicht geltend gemacht worden. Die Rechtswidrigkeit der Rentenhöhe begründet sich im Bescheid vom 15. Mai 1998 darauf, dass nicht allein (wieder) die Entgeltpunkte 23,2351 der Rentengewährung ab 1. Mai 1998 zu Grunde gelegt wurden, sondern 46,4702 Entgeltpunkte. Hinzugerechnet wurden weitere 23,2351 Entgeltpunkte (Ost). Hierfür gab es keinen Rechtsgrund. Zwar sieht § 88 Abs. 1 Satz 2 SGB VI in der hier anzuwenden Fassung für Folgerenten eine Besitzschutzregelung vor. Die Regelung bestimmte: Hat ein Versicherter eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder eine Erziehungsrente bezogen und beginnt spätestens innerhalb von 24 Kalendermonaten nach Ende des Bezugs dieser Rente erneut eine Rente, werden ihm für diese Rente mindestens die bisherigen persönlichen Entgeltpunkte zugrunde gelegt. Es gab für die Beklagte aber keine Veranlassung zu Gunsten des Klägers einen Besitzschutz der Gestalt anzunehmen, dass ihm für die Gewährung der Rente wegen Erwerbsminderung nun doppelt so viele Entgeltpunkte anzurechnen waren. Dieser Rente hätten auch "nur" 23,2351 Entgeltpunkte zu Grunde gelegt werden müssen, wie bereits zuvor anlässlich der Rentengewährung ab 1. August 1996, denn dem Kläger ist Besitzschutz aus der Rentengewährung vom 1. August 1996 bis 30. Juni 1997 nach der vorstehenden Rechtsgrundlage zu gewähren gewesen. Zur Rentenbewilligung ab 1. Mai 1998 wurden niedrigere Entgeltpunkte als 23,2351 ermittelt (20,0510 zzgl. 0,0047 Entgeltpunkte/Ost).

Mit dem Bescheid vom 17. September 2007 durfte die Beklagte den rechtswidrig begünstigenden Bescheid vom 15. Mai 1998 für die Zeit ab 01. November 2007 zurücknehmen, weil sich der Kläger auf Vertrauen nicht berufen konnte. Dies ist u.a. der Fall, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat; § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X.

Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn eine Sorgfaltspflichtverletzung ungewöhnlich hohen Ausmaßes vorliegt, das heißt eine besonders grobe und auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung besteht, die das gewöhnliche Maß der Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein Verhalten, wenn schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt werden, wenn also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Voraussetzung dafür ist, dass sich die maßgebenden Tatsachen aus Umständen ergeben, die für das Einsichtsvermögen des Betroffenen ohne weiteres erkennbar sind. Ob danach grobe Fahrlässigkeit vorliegt, ist im Wesentlichen eine Frage der Würdigung des Einzelfalles (BSG, Urteile vom 08. Februar 2001 – B 11 AL 21/00 R, vom 11. Juni 1987 – 7 RAr 105/85, BSG, vom 19. Februar 1986 – 7 RAr 55/84, vom 14. Juni 1984 – 10 RKg 21/83, vom 01. August 1978 – 7 RAr 37/77, vom 31. August 1976, 7 RAr 112/74, vom 19. Juni 1975 – 8/7 RKg 11/73, alle zitiert nach juris).

Zu Recht hat das Sozialgericht ausgeführt, die Fehlerhaftigkeit des Bewilligungsbescheides vom 15. Mai 1998 sei für den Kläger klar erkennbar gewesen. Dem Kläger wurde nach acht Monaten eine um fast 900,00 DM höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. März 1998 ausgezahlt als er noch zuletzt im Juni 1997 bezogen hatte. Betrug die Rente damals noch 1.002,52 DM belief sie sich im März 1998 auf 1.873,91 DM. Der Fehler, der zur Rechtswidrigkeit führte, war auch anhand des Rentenbescheides leicht erkennbar. Der Senat ist überzeugt, dass der Kläger den Rentenbescheid vom 15. Mai 1998 zur Kenntnis genommen hat. Denn ebenso wie nach der Rentengewährung ab 1. August 1996 machte er nach der Rentengewährung ab 1. März 1998 Zuschüsse für seine freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung geltend. Wenn er erkannt haben will, dass er keine Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung als Rentenbezieher zahlen möchte, die im Rentenbescheid in Abzug gebracht worden waren, erschließt sich nicht, dass er den Rentenbescheid nicht zur Rentenhöhe im Vergleich zu der für den Zeitraum vom 1. August 1996 bis 30. Juni 2007 Kenntnis genommen haben will. Denn offensichtlich ist ihm der Abzug der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nicht verborgen geblieben. Es ist deswegen davon auszugehen, dass er bei gebotener Sorgfalt auch hätte erkennen können, dass die doppelte Anzahl von Entgeltpunkten der Rentengewährung ab 1. März 1998 zu Grunde lagen, die zu den deutlich höheren Rentenzahlungen führte. Das BSG hat zudem entschieden, dass der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sich aus dem Umstand ableiten kann, wenn der Fehler dem Leistungsempfänger "ins Auge springt". Dies könne der Fall sein, wenn die bewilligte Lohnersatzleistung (hier Arbeitslosengeld) offensichtlich außer Verhältnis steht zu dem zugrunde liegenden Arbeitsentgelt (Urteil vom 8. Februar 2002 – B 11 AL 21/00 R – juris). So liegt es hier mit Blick auf die eingangs wiedergegeben Rentenzahlbeträge Juni 1997 zu März 1998. Dass dem Kläger der Bescheid vom 27. August 1996 nicht zugegangen sei, wird schon damit widerlegt, dass der Kläger im Nachgang zu diesem Bescheid Zuschüsse zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung betragt hatte und im Antragsformular die Frage nach "anderen Renten" – offensichtlich zur der mit Bewilligungsbescheid vom 27. August 1996 – verneinen konnte. Darüber hinaus beantragte er die unbare Auszahlung der Rente auf das Konto seiner damaligen Ehefrau.

Die im erstinstanzlichen Verfahren weiter gemachten Einwendungen, dem Kläger sei nach seinen individuellen Fähigkeiten die Fehlerhaftigkeit nicht ersichtlich gewesen, dass der Bescheid vom 15. Mai 1998 mit dem vom 27. August 1996 etwas zu tun haben könnte, er habe jahrelang unterschiedliche Sozialleistungen in unterschiedlicher Höhe bezogen und sich vielmehr vorgestellt, dass die Leistungshöhe sich nach der "vorläufigen" (richtig: befristeten) Bewilligung nun als endgültige Rente nach jahrelangen Einzahlungen in die Rentenkasse angemessen wäre, überzeugen den Senat nicht, ihm nicht postum den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu machen. Der Inhalt der Verwaltungsakte offenbart eine hohe Verantwortungslosigkeit des Klägers im Rechtsverkehr, die vielmehr darauf schließen lässt, dass der Kläger auch dem Bescheid vom 15. Mai 1998 keine oder nicht die gebotene sorgfältige Beachtung geschenkt hat. Die Nachlässigkeit des Klägers wird dadurch dokumentiert, dass er zwar von der Beklagten einen Zuschuss zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung bezog, die Leistung aber vollständig oder auch nur teilweise nicht an die Krankenkasse weiter abführte. Ab 3. November 1998 endete sein Krankenversicherungsschutz wegen Zahlungsverzuges. Der Kläger hat zudem sein Einkommen während des Rentenbezuges bei der Beklagten nicht angezeigt und damit seine Verpflichtung aus dem Bescheid vom 15. Mai 1998 missachtet. Auf Seite 3 ff. des Rentenbescheides wird der Kläger auf diese Mitwirkungspflicht hingewiesen. Alle Hinzuverdienste hat die Beklagte von den Arbeitgebern ermitteln müssen. Dies zeigt auf, dass er auch diesbezüglich nicht die erforderliche Sorgfalt beachtet hat. Ob der Kläger darüber hinaus seinen Unterhaltsverpflichtungen seinen Kindern nicht oder nur nicht in ausreichendem Maße nachgekommen ist, immerhin bestand ein Unterhaltsrückstand gegenüber seiner Tochter von über 10.000,00 Euro und auch gegenüber seinem Sohn von 239,00 Euro im Jahre 1998, worauf er bereit war, wenigstens 100,00 EUR zu zahlen, kann dahin gestellt bleiben. Unter Berücksichtigung der dargestellten Umstände ist der Senat davon überzeugt, dass der Kläger den Rentenbescheid vom 15. Mai 1998 zur Rentenhöhe grobfahrlässig nicht mit der gebotenen Sorgfalt zur Kenntnis nahm.

Die streitgegenständlichen Bescheide sind auch nicht ermessensfehlerhaft.

§ 35 Abs. 1 SGB X schreibt für jeden schriftlichen oder schriftlich bestätigten Verwaltungsakt eine Begründung vor. In der Vorschrift heißt es, dass die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen sind, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (§ 35 Abs. 1 S. 1, 2 SGB X). Eine erweiterte Begründungspflicht gilt für Ermessensentscheidungen. Dabei müssen diejenigen Gesichtspunkte erkennbar sein, von der die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs. 1 S. 3 SGB X). Dies bedeutet, dass aus der Begründung zunächst ersichtlich sein muss, dass eine Ermessensentscheidung getroffen wurde. Die Behörde hat des Weiteren darzulegen, welche Kriterien ihrer Auffassung nach im Rahmen der Ermessensausübung von Bedeutung sind. Sie hat darüber hinaus darzulegen, inwieweit diese Kriterien erfüllt oder nicht erfüllt sind. Außerdem muss die Begründung erkennen lassen, wie die einzelnen Kriterien gewichtet wurden. Es muss schließlich nachvollziehbar sein, weshalb die Behörde von der Vielzahl der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, eine Rechtsfolge zu setzen, die getroffene Entscheidung ausgewählt hat (zum Ganzen: von Wulffen/Engelmann, SGB X, Kommentar, 4. Auflage, § 35 Rn. 6). Sinn und Zweck dieser Regelung besteht darin, den nach rechtsstaatlichen Grundsätzen bestehenden Anspruch des Bürgers auf Begründung einer Verwaltungsentscheidung zu verwirklichen, um die Richtigkeit überprüfen zu können. Außerdem verfolgt die Regelung den Zweck, die Nachprüfbarkeit der Entscheidung durch die Gerichte zu ermöglichen. Die Verwaltung soll durch die Begründungspflicht zu sorgfältiger Arbeit und zu einer Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Beteiligten veranlasst werden (von Wulffen/Engelmann, aaO, § 35, Rn. 2).

Das BSG hat zum Ermessen im Rahmen der Anwendung von § 45 Abs. 2 SGB X ausgeführt (Urteil vom 26. September 1990 – 9b/7 RAr 30/89 – juris), ob tatsächlich Ermessen ausgeübt werden kann, ist im Wesentlichen das Ergebnis der Würdigung aller Umstände des Einzelfalles. Wenn im Anschluss an die durch § 45 Abs. 2 SGB X gebotene Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Rücknahme und des Interesses des Begünstigten am Bestand des Verwaltungsaktes aus den tatsächlichen Feststellungen keine Gesichtspunkte verbleiben, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten, kann einer Verwaltung nicht das aufgegeben sein, was auch kein Gericht leisten könnte, nämlich eine Ermessensabwägung ohne dafür geeignete Sachverhaltselemente. Das Verwaltungsermessen ist dann auf Null reduziert. Der Kläger hat vortragen lassen, es liege ein Ermessensausfall vor. Welche Ermessenserwägungen die Beklagte hätte vornehmen sollen, sind schriftsätzlich bis zum Ende des Widerspruchsverfahrens nicht ausreichend vorgetragen worden, um die Erwägung, die die Beklagte vorgenommen hat zumindest als ermessensfehlerhaft zu werten.

Für einen bösgläubig bereicherten Versicherten hat das BSG weiter entschieden (Urteil vom 25. Januar 1994 - 4 RA 16/92 – juris), dass dem Träger ermessensrelevante Tatsachen, die noch nicht aktenkundig sind, spätestens im Widerspruchsverfahren darzulegen hat (Fortführung von BSG, Urteil vom 26. September 1990 - 9b/7 RAr 30/89 - juris). Mit dem Widerspruch hat der Kläger einwenden lassen, der Bescheid vom 17. September 2007 sei bereits formell rechtswidrig. Es fehle an einer erforderlichen substantiierten Begründung, aus welchem rechtlichen Grund der Bescheid vom 15. Mai 1998 rechtswidrig gewesen sein solle. Es fehle die Ermächtigungsgrundlage, deren Voraussetzungen nach über neun Jahren nicht mehr vorlägen. Auch die tatsächlichen Angaben seien nicht nachvollziehbar. Er habe eine "Vorrente" seit dem 01. März 1998 bzw. bis zum 30. Juni 1997 wegen Erwerbsunfähigkeit entgegen der Darstellung im angefochtenen Bescheid nicht bezogen. Im Übrigen sei die Zweijahresfrist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 1 SGB X nicht gegeben. Er habe auf den Bestand des Bescheides vom 15. Mai 1998, insbesondere im Hinblick auf die Höhe der Rente, vertraut. Ausführungen dazu, welche Ermessenserwägungen anzustellen wären, werden nicht gemacht. Soweit der Kläger zudem kundtat, er habe seine vollständige Lebenssituation inklusive der Unterhaltszahlungen an seine Kinder eingerichtet, so mag dies zu Ersterem zutreffen, zu Letzterem nicht (s. o. S. 13 des Urteils). Der Umstand, dass die Rente ab 1. November 2007 nur noch 546,30 Euro (Zahlbetrag) betrug, mag zwar unterhalb der Leistungen zur Existenzsicherung nach dem SGB XII gelegen haben. Ergänzende Sozialleistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz hätte der Kläger im Zweifel aber auch zu beanspruchen gehabt, wenn die Rentenbewilligung ab 1. März 1998 rechtmäßig und seine Existenz damit nicht gesichert gewesen wäre. Im Übrigen ist dem Kläger der Vertrauensschutz zu versagen gewesen (s. o.). Die Beklagte hat eine Rücknahme ihrer Entscheidung vom 15. Mai 1998 für die Vergangenheit nicht vorgenommen, sondern mit dem Bescheid vom 17. September 2007 die Rente des Kläger für die Zukunft ab 1. November 2007 auf die zutreffende Höhe festgesetzt. An anderer Stelle hat das BSG die Ermessenserwägung " , Anhaltspunkte dafür, daß sie (die Beklagte) ihr Ermessen fehlerhaft ausübe, (seien) nicht ersichtlich für ausreichend erachtet, (BSG, Urteil vom 26. März 1987 – 11a RA 2/86 – juris). Insoweit stellt sich die Erwägung der Beklagten im Rücknahmebescheid vom 17. September 2007 "Da das Erfordernis der Gesetzmäßigkeit jeden Verwaltungshandelns grundsätzlich die Beseitigung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes erfordere und dem Kläger unter den gegebenen Umständen ein schutzwürdiges Vertrauen nicht zugebilligt werden könne, habe in Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens von der teilweisen Rücknahme des Bescheides für die Zukunft nicht abgesehen werden können." nicht als ermessensfehlerhaft, und schon gar nicht als Ermessensausfall dar.

Soweit das Verschulden für die Rechtswidrigkeit eindeutig bei der Beklagten liegt und dies als Ermessenserwägung zu berücksichtigen gewesen sein könnte, hat das BSG allerdings zum Vertrauensschutz auch entschieden (Urteil vom 21. Juni 2006 – B 7 AL 6/00 R – juris), der Anwendungsbereich des § 45 SGB X würde zu stark eingeengt, ließe man den Umstand der alleinigen Verantwortlichkeit für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts genügen, um das öffentliche Interesse an der Einstellung der rechtswidrig bewilligten Dauerleistung als weniger gewichtig zu bewerten. Mit Ausnahme des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X, wonach Vertrauensschutz generell versagt wird, fällt die Ursache für den Erlass eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig in den Verantwortungsbereich der Verwaltung (vgl. BSG SozR 3-3100 § 85 Nr. 1). Würde jeder im Bereich der Verwaltung auftretende Fehler zu einem schutzwürdigen Vertrauen des durch den Verwaltungsakt Begünstigten führen, so bedürfte es der Norm des § 45 SGB X letztlich nicht. Es bliebe bei der Bindungswirkung des § 77 SGG. Eine derartige Konstruktion liefe aber der Zielsetzung des § 45 SGB X, einen rechtswidrigen Zustand auch wieder beseitigen zu können, zuwider. Ausnahmen hat es zugelassen, wenn die Verwaltung noch weitere Fehler gemacht hat. Dies sei der Fall, wenn eine Vertiefung oder Perpetuierung des ursprünglich gemachten Fehlers durch zusätzliches Verwaltungshandeln (etwa durch die Erteilung zusätzlicher falscher Auskünfte, weiterer Bescheide oder die Anforderung weiterer Unterlagen, ohne Hinweis auf die Rechtswidrigkeit der Bewilligung) gemacht wird. Würde vom Kläger der Umstand gerügt worden sein, die Beklagte habe allein die Überzahlung zu verantworten, zu hätte mit den vorstehenden Erwägungen des BSG auch nicht ein Ermessensfehler der Entscheidung der Beklagten angenommen werden können. Zwar sind die Verwaltungsakten jahrelang in der Bearbeitung. Die Beklagte hat aber über die Jahre keinen neuen Bescheid zur Rente wegen Erwerbsminderung gesetzt, in dem sie eine rentenrechtliche Neubewertung der Entgeltpunkte hat vornehmen müssen. Daher träfen die Erwägungen des BSG auch hier zu, dass jeder im Bereich der Verwaltung auftretende Fehler nicht zu einer den Versicherten begünstigenden Ermessensbetätigung der Gestalt führen kann, dass es bei einem rechtswidrigen Zustand einer Leistungsgewährung verbleiben muss.

Die Beklagte hat mit ihren Entscheidungen vom 15. September 2007 die 10-Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X, nicht wie das Sozialgericht gemeint hat 2-Jahresfrist, gewahrt.

Die Beklagte hat die Vorschriften zum Verwaltungsverfahren beachtet und insbesondere die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung durchgeführt.

Dem Rücknahme- und Rentenbescheid vom 17. September 2007 steht schließlich nicht entgegen, dass die Beklagte noch mit Bescheid vom 10. September 2007 den Zahlbetrag der Rente "für die Zeit ab 1.10.2007 werden laufend 1.028,47 EUR" gezahlt, bestimmte. Aus der Anlage dieses Bescheides – und um einen solchen handelt es sich auch (§ 31 SGB X) – wird für die Zeit vom 1. April bis 30. Juni 2007 der Einbehalt von 100,00 Euro und für Juli 14,26 Euro ersichtlich. Er stellt keinen eigenständigen neuen Bewilligungsbescheid zur Rente wegen Erwerbsminderung dar, denn mit ihm werden die letzten Monate der Verrechnung wegen des Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen verfügt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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