L 4 SO 60/13 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 20 SO 172/12 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 60/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 5. September 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin, mit der beantragt wird,
den Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 5. September 2012 aufzuheben und den Antrag des Antragstellers abzulehnen
hat keinen Erfolg.

Die gemäß § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist nicht begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts ist nicht zu beanstanden.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Nach § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.

Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Er hat einen Anspruch auf Übernahme der Kosten für einen Gebärdendolmetscher zur Durchführung der inklusiven Beschulung in der Integrativen Schule KJ. in Höhe von durchschnittlich 400,00 EUR pro Tag.

Der Anordnungsanspruch beruht auf § 53 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII. Hiernach erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen wesentlichen Behinderung bedroht sind, Leistungen der Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie soweit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 53 Abs. 3 SGB XII).

Der Antragsteller gehört – das ist zwischen den Beteiligten unstreitig – aufgrund seiner Gehörlosigkeit zum berechtigten Personenkreis im Sinne von § 53 Abs. 1 SGB XII.

Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 SGB IX insbesondere Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere - wie hier - im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht.

Die begehrte Eingliederungshilfe, die Kostenübernahme für einen Gebärdendolmetscher zur Durchführung der inklusiven Beschulung in Höhe von durchschnittlich 400,00 EUR pro Tag, ist zur Erreichung des Teilhabeziels geeignet und erforderlich (vgl. BSG, Urteil vom 15. Juni 2008 – B 11b AS 19/07 R). Der besondere Förderbedarf des Antragstellers im Bereich Hören ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Im Zuge des Besuchs der Integrativen Schule KJ. im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht ist ein Integrationshelfer im Sinne eines Gebärdendolmetschers auch erforderlich. Der Antragsteller nimmt unter simultaner Übersetzung durch den Gebärdendolmetscher unmittelbar am (Regel-) Unterricht teil (Stellungnahme der Schule vom 15. April 2013, Bl. 147 der Gerichtsakte). Ein Verzicht auf einen Gebärdendolmetscher ist trotz des Besuchs eines Gebärdenkurses durch das Pädagogenteam der Schule nicht möglich; ausreichende Übersetzungsfähigkeiten hat nach der überzeugenden und unwidersprochenen Stellungnahme der Schule vom 29. August 2012 (Bl. 42 der Gerichtsakte) nur ein studierter Gebärdendolmetscher. Dieses Niveau hält die Schule für die eigenen Pädagogen für unerreichbar. Eine kostengünstigere Alternative der Eingliederungshilfe steht nicht zu Verfügung.

Der Besuch einer öffentlichen Förderschule ist keine für den Antragsteller zumutbare Alternative. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Bedarf des Antragstellers durch einen Wechsel auf eine öffentliche Förderschule gedeckt werden könnte (so nach Ansicht der Antragsgegnerin, u. a. S. 12 im Schriftsatz vom 9. Oktober 2012, Bl. 90 der Gerichtsakte, dem widersprechend der Antragsteller u. a. im Schriftsatz vom 15. April 2013, Bl. 140 f. der Gerichtsakte). Ein Verweis des Antragstellers auf die Möglichkeit des Besuchs einer anderen Schulform (hier auf eine öffentliche Förderschule) widerspricht dem Kerngedanken des § 51 Abs. 1 Satz 1 Hessisches Schulgesetz (HSchG), der eine regelmäßige Beschulung behinderter Menschen in der allgemeinen Schule als inklusive Beschulung vorsieht. Dieser Regelungszweck darf nicht mittelbar durch den Nachranggrundsatz des Sozialhilferechts unterlaufen werden, zumal die schulrechtliche Regelung letztlich auf das Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008 (BGBl II, S. 1419) zurückgeht, also in innerstaatliches einfaches Bundesrecht transformiertes Völkerrecht (Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention). Vielmehr hat das Sozialrecht die schulrechtliche Wertung hinzunehmen und bei der Leistungsgewährung zu beachten.

Entgegen der Auffassung des Beklagten handelt es sich bei der begehrten Maßnahme um eine die Schulbildung begleitende Maßnahmen im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII i. V. m. § 12 Eingliederungshilfe-VO und nicht etwa um den Kernbereich der pädagogischen Arbeit, für den allein der Schulträger zuständig wäre.

Erfasst sind von dem Wortlaut des § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII ("Hilfen") nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 15. November 2012, B 8 SO 10/11 R) nur Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Ermöglichung einer angemessenen Schulbildung geeignet und erforderlich sind, die Behinderungsfolgen zu beseitigen oder zu mildern (BSGE 110, 301 ff. Rn. 20). Dies bestätigt auch § 12 Eingliederungshilfe-VO, der seinerseits nur von "Hilfe zu einer angemessenen Schulausbildung" spricht. Die von dieser Hilfe nach § 12 Eingliederungshilfe-VO (auch) erfassten Regelbeispiele betreffen dementsprechend nur die Schulbildung begleitende Maßnahmen. Die Schulbildung selbst, also der Kernbereich der pädagogischen Arbeit, der sich nach der Gesetzessystematik nicht unter Auslegung der schulrechtlichen Bestimmungen, sondern der sozialhilferechtlichen Regelungen bestimmt, obliegt hingegen allein den Schulträgern. Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz (GG) überträgt dem Staat einen (außerhalb des Sozialhilferechts liegenden) eigenständigen Unterrichts- und Bildungsauftrag im Schulbereich (BSG, aaO, Rn. 21; BVerfGE 47, 46, 71 f; 98, 218, 241).

Dass der Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule den Regelungen über die Eingliederungshilfe entzogen ist, bestätigt § 54 Abs 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII dadurch, dass die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht unberührt bleiben sollen. Die schulrechtlichen Verpflichtungen bestehen also insoweit neben den sozialhilferechtlichen, ohne dass sie sich gegenseitig inhaltlich beeinflussen (BSG, Urteil vom 15. November 2012, B 8 SO 10/11 R). Zu dem Kernbereich der Schule gehören alle schulischen Maßnahmen, die dazu dienen, die staatlichen Lehrziele zu erreichen, in erster Linie also der (unentgeltliche) Unterricht, der die für den erfolgreichen Abschluss notwendigen Kenntnisse vermitteln soll (BSG, Urteil vom 15. November 2012, B 8 SO 10/11 R). Der Kernbereich der pädagogischen Arbeit muss insoweit dabei nicht generell bestimmt und von sonstigen (eingliederungshilferechtlichen) Maßnahmen abgegrenzt werden (vgl. BSG, Urteil vom 22. März 2012, B 8 SO 30710 R Rn. 22). Es reicht vielmehr, wenn feststeht, dass die begehrte Maßnahme nicht ausschließlich dem Kernbereich der pädagogischen Arbeit der Schule unterfällt und diese Aufgabe von der Schule nicht erfüllt wird. Denn von der Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers können auch Maßnahmen umfasst sein, die zum Aufgabenbereich der Schulverwaltung gehören (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom L 7 SO 4186/12 ER-B Rn. 15; Urteile vom 18. November 2010 - L 7 SO 6090/08 - und vom 23. Februar 2012 - L 7 SO 1246/10 und BSG, aaO, Rn. 21, 25).

Vorliegend ist der Kernbereich der pädagogischen Arbeit, also primär die Vermittlung der Lehrinhalte, nicht betroffen. Der Gebärdendolmetscher übersetzt den Unterrichtsinhalt simultan. Er ermöglicht dem Antragsteller somit die Wahrnehmung des Unterrichtsinhalts. Er ist in der Funktion somit eher mit einem Hörgerät bei einer geringergradig hörbehinderten Person vergleichbar, als einem Pädagogen. Die pädagogische Leistung als solche, die im Wesentlichen in einer differenzierten, für den Kläger geeigneten Unterrichtsgestaltung, d. h. der Unterrichtsinhalte und –materialien, Inhalt und Gestaltung von Leistungsnachweisen, Vermittlung der Lehrinhalte im engeren Sinne und der Inklusion in den Klassenverband besteht, wird von den Lehrern des Antragstellers selbst geleistet (vgl. Stellungnahme der Schule vom 15. April 2013, Bl. 147 der Gerichtsakte).

Die Leistungspflicht der Antragsgegnerin ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Schulleiter der Integrativen Schule KJ. nicht eine Entscheidung der Schulaufsichtsbehörde gem. § 54 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 HSchG mit dem Ziel der Beschulung des Antragstellers in einer Förderschule herbeigeführt hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Verhalten des Schulleiters im vorliegenden Fall ermessensfehlerhaft war. Insbesondere muss der Senat nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen des § 54 Abs. 4 HSchG gegeben waren. Jedenfalls hat sich der Antragsteller bzw. haben sich seine Erziehungsberechtigten rechtmäßig verhalten, in dem sie ihr in § 54 Abs. 1 HSchG eingeräumtes Wahlrecht hinsichtlich der Schulform ausgeübt haben. Auch insoweit hat das Sozialhilferecht die schulrechtliche Wahlmöglichkeit hinzunehmen (siehe oben). Im Übrigen würde die Leistungspflicht des Sozialhilfeträgers sogar dann bestehen, wenn sich der Schulleiter rechtswidrig verhalten hätte. Ggf. müsste der Sozialhilfeträger beim Schulträger Rückgriff nehmen (LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 7. November 2012 – L 7 SO 4186/12 ER-B Rn. 15).

Die vom Sozialgericht richtigerweise vorgenommene Beschränkung der Leistungsgewährung auf den Zeitraum bis zur Erteilung des Widerspruchsbescheid beruht auf der Vorläufigkeit des einstweiligen Anordnungsverfahrens, mit dem die Hauptsache (grundsätzlich) nicht vorweggenommen werden soll.

Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls glaubhaft gemacht. Der Antragsteller besucht bereits die Integrative Schule KJ ... Zur Fortführung der integrativen Beschulung ist der Gebärdendolmetscher auch (weiterhin) erforderlich (Stellungnahme der Schule vom 29. August 2012, Bl. 42 der Gerichtsakte).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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