S 26 AS 4054/11

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
26
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 26 AS 4054/11
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei einer erheblich sehbehinderten langzeitarbeitslosen Bürokauffrau sind Teilhabeleistungen im Sinne von § 16 SGB II i.V.m. § 97 SGB III in der jeweils bis zum 31.3.2012 gültigen Fassung erforderlich.
Im Rahmen der Ermessensentscheidung über eine Qualifizierungsmaßnahme
zur medizinischen Tastuntersucherin, einer auf Sehbehinderte zugeschnittene
Weiterbildung mit anerkanntem Abschluss vor der Ärztekammer, sind Kostenaspekte nachrangig gegenüber der mit Verfassungsrang ausgestatteten
gesetzlichen Verpflichtung zur Eingliederung behinderter Menschen in das Arbeitsleben.
1. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 22.2.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5.8.2011 verurteilt, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Von den außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte die Hälfte.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bewilligung einer Qualifizierungsmaßnahme zur medizinischen Tastuntersucherin.

Die am 00.00.1976 geborene Klägerin ist mit einem Grad der Behinderung von 100 von Geburt an sehbehindert. Sie hat Kinder im Alter von 11,12 und 13 Jahren.

Die Klägerin besuchte als Schülerin eine Blindenschule. Danach absolvierte sie eine behindertengerechten Ausbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation. Diesen Berufsabschluss erwarb sie am 31.8.1998. In dieser Tätigkeit ist sie vollschichtig einsetzbar.

Vom 8.5.1999 bis 25.2.2004 befand sich die Klägerin in Mutterschutz oder Elternzeit.

Seit 26.2.2004 ist die Klägerin im Wesentlichen arbeitslos und bezieht seit dem 1.1.2005 Leistungen nach dem SGB II.

Seit dem 26.8.2009 bezieht sie eine Teilrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Dabei handelt es sich um eine ins bundesdeutsche Recht überführte DDR-Invalidenrente.

Im Jahre 2010 führte die Klägerin ein Rehabilitations-Verfahren bei der Deutschen Rentenversicherung Nord. Diese lehnte mit Bescheid vom 21.5.2010 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 22.10.2010 mit der Begründung zurück, dass die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in ihrem Ausbildungsberuf nicht gefährdet sei.

Eine entsprechende Anfrage der Klägerin an die Rehabilitations-Abteilung der Agentur für Arbeit Zwickau beantwortete diese mit Schreiben vom 24.11.2010 abschlägig. Der für die Klägerin zuständige Reha-Träger sei die Deutsche Rentenversicherung Nord. Die Zuständigkeit der Deutschen Rentenversicherung Nord sei auch darin erkennbar, dass die Rentenversicherung den Antrag nicht an die Arbeitsagentur wegen Unzuständigkeit weiter geleitet habe. Des Weiteren verwies sie auf den Service des Integrationsfachdienstes Sachsen, der von der Klägerin kostenfrei genutzt werden könne.

Im November 2011 kam es zu mehreren mündlichen und schriftlichen Kontakten des Beklagten mit der Klägerin.

Diese Kontakte mündeten in ein Schreiben des Beklagten vom 22.2.2011. Darin teilte er mit, dass er die Anfrage nach einer Qualifizierung zur medizinischen Tastuntersucherin geprüft habe und mitteilen müsse, dass eine Förderung nach § 77 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 SGB III nicht möglich sei. Die Klägerin verfüge über einen bundesrechtlich anerkannten Berufsabschluss als Telefonistin und Kauffrau für Bürokommunikation und sei in diesen Berufen auch vermittelbar. Derzeit seien in diesem Bereich 200 offene Stellen gemeldet.

Mit ausführlichem Schreiben vom 14.3.2011, auf das wegen der näheren Einzelheiten Bezug genommen wird, beantragte die Klägerin die Erstellung eines widerspruchsfähigen Bescheides. Der Rentenversicherungsträger habe auf die Zuständigkeit des Jobcenters für die Weiterqualifizierung zur medizinischen Tastuntersucherin hingewiesen. Daraufhin habe sie den Antrag im Oktober 2010 mündlich gestellt und schriftlich aufnehmen lassen. Seit 1998 sei ihr seitens des Beklagten bzw. der Arbeitsagentur kein einziges Jobangebot unterbreitet worden. Wegen ihrer Langzeitarbeitslosigkeit und aufgrund ihrer Sehbehinderung bestehe kaum Aussicht auf eine Vermittlung in ihren erlernten Beruf. Dagegen würde die Qualifikationsmaßnahme zur medizinischen Tastuntersucherin ihre beruflichen Chancen verbessern, da sie wegen ihrer Kinder nur im Tagespendelbereich vermittelbar sei. Auf diesem Gebiet würden Mitarbeiter gesucht. Ihr Schreiben sei zugleich als Widerspruch zu betrachten.

In seinem Antwortschreiben vom 25.3.2011 verwies der Beklagte auf das Schreiben vom 22.2.2011. Hiergegen sei Widerspruch innerhalb eines Jahres möglich. Ein gesonderter widerspruchsfähiger Bescheid werde nicht erstellt.

In einer internen Stellungnahme der Widerspruchsstelle des Beklagten vom 31.5.2011 wurde unter anderem festgehalten: " eine Vermittlung der Widerspruchsführerin konnte offensichtlich trotz der gemeldeten offenen Stellen bisher nicht erfolgen; aus VERBIS sind auch keine Vermittlungsangebote ersichtlich. Inwiefern die Weiterbildung zur medizinischen Tastuntersucherin nicht erforderlich sein soll zur beruflichen Eingliederung, ist daher nicht nachvollziehbar "

Mit Widerspruchsbescheid vom 5.8.2011 lehnte der Beklagte die Förderung einer Qualifizierung zur medizinischen Tastuntersucherin ab. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Für Eingliederungsleistungen an erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte seien §§ 97 bis 99 SGB III usw. entsprechend einschlägig. Die Klägerin beziehe eine Rente bei der Deutschen Rentenversicherung Nord. Bei der begehrten Maßnahme zur medizinischen Tastuntersucherin handele es sich um eine Reha-Maßnahme, deren Förderung zur Teilhabe am Arbeitsleben möglich sei. Zuständiger Reha-Träger sei die Deutsche Rentenversicherung Nord. Das dort geführte Reha-Verfahren sei bisher noch nicht beendet.

Am 29.8.2011 hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht Chemnitz erhoben. Die Klägerin hat zwei Einstellungszusagen von Ärzten vorgelegt, auf die sie Bezug nimmt. Sie wiederholt und vertieft ihren Vortrag, dass sie in ihrem erlernten Beruf keine Vermittlungsaussichten sehe. Ihre Eigenbemühungen seien bisher erfolglos geblieben. Nach Absolvierung der Qualifizierung bestünden gute Aussichten auf eine Einstellung als medizinische Tastuntersucherin.

Mit Beschluss vom 20.1.2012 hat die Kammer die Deutsche Rentenversicherung Nord zum Verfahren beigeladen. Die Beigeladene verweist auf die ergangenen Bescheide.

Der Beklagte steht auf dem Standpunkt, dass ausreichend offene Stellen für die Klägerin vorhanden seien. Er übersandte am 23.3.2012 eine Liste mit freien Stellen für den Beruf Kauffrau Bürokommunikation und Telefonistin. Der Liste beigefügt war ein Mitarbeitervermerk vom 29.2.2012. Darin heißt es unter anderem, dass Stellenangebote im Tagespendelbereich nicht passgenau vorlägen. Die heute vorhandenen Stellen seien für die Klägerin nicht zumutbar.

Am 24.5.2013 hat die mündliche Verhandlung vor der 26. Kammer des Sozialgerichts Chemnitz stattgefunden. Auf die hierüber gefertigte Niederschrift wird wegen der näheren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand Bezug genommen. Die mündliche Verhandlung wurde vertagt, um dem Beklagten Gelegenheit zur näheren Prüfung der Bewilligungsfähigkeit der Maßnahme zu geben, sofern die Klägerin einen für den 3. bis 6.6.2013 vorgesehenen Eignungstest erfolgreich absolviert. Im Erfolgsfalle könne sie vom 12.9.2013 bis zum 29.7.2014 an einer Qualifikationsmaßnahme zur medizinischen Tastuntersucherin in N. teilnehmen. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin unter anderem erklärt, dass ihr kurz vor der mündlichen Verhandlung ein Vermittlungsvorschlag zugegangen sei. Es habe sich um eine stundenweise Bürotätigkeit gehandelt. Die täglichen Fahrtkosten hätten den zu erwartenden Verdienst nahezu aufgezehrt. Ihre jahrelangen Eigenbemühungen um einen Arbeitsplatz seien erfolglos gewesen.

In der mündlichen Verhandlung haben die erschienenen Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung erklärt.

Den Eignungstest absolvierte die Klägerin erfolgreich und teilte dies mit Schreiben vom 13.6.2013 mit.

Die Klägerin beantragt, den Bescheid des Beklagten vom 22.2.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.8.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die beantragte Weiterbildung zur medizinischen Tastuntersucherin als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben zu bewilligen.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag. Mit Schreiben vom 25.7.2012 teilte der Beklagte mit, dass die Förderung der beantragten Bildungsmaßnahme nicht möglich sei. Hierzu führt er aus: Gemäß §§ 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II i.V.m. § 112 Abs. 1 SGB III könnten für behinderte Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu verbessern, herzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern, soweit Art oder Schwere der Behinderung dies erforderten. Bei der Klägerin müsse weder die Erwerbsfähigkeit erhalten, verbessert oder hergestellt werden. Als Kauffrau für Bürokommunikation und Telefonistin sei sie erwerbsfähig und könne diese Tätigkeit ausüben. Der Umstand, dass Arbeitgeber die Klägerin in diesen Berufen nicht beschäftigen wollten sei anderen Umständen geschuldet. In erster Linie gehe es der Klägerin um die Verbesserung ihrer "Marktfähigkeit". Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass die zehnmonatige Maßnahme mit Internatsunterbringung 50.000,00 EUR koste. Fahrtkosten sowie etwaige Kinderbetreuungskosten seien dabei noch nicht inbegriffen.

Seiner Stellungnahme fügte der Beklagte eine Kostenübersicht über die angestrebte Maßnahme bei, auf die wegen der näheren Einzelheiten Bezug genommen wird.

Die Klägerin hat mit Schreiben vom 6.8.2013, auf das wegen der näheren Einzelheiten Bezug genommen wird, an ihrer Klage festgehalten.

Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung der Kammer waren.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die zulässige Klage ist im tenorierten Umfang begründet, im Übrigen war sie abzuweisen.

Die Klägerin hat zumindest einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags auf Bewilligung der beantragten Teilhabeleistung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Sie hat indes keinen Anspruch auf Bewilligung der Maßnahme selbst, da der seltene Fall einer Ermessensreduzierung auf Null hier – trotz einiger gewichtiger Gesichtspunkte, die für die Klägerin sprechen – nicht vorliegt.

Maßgebende Anspruchsgrundlage für die begehrte Leistung ist vor allen anderen zunächst § 16 Abs. 1 SGB II, § 44 b Abs. 1 Satz 2 SGB II in Verbindung mit § 97 SGB III in der bis zum 31.3.2012 geltenden Fassung. Die durch das Gesetz zur Verbesserung der Eingliederungschancen am Arbeitsmarkt vom 20.12.2011 (BGBl. I S. 2854) am 1.4.2012 eingeführten – aber im Wesentlichen inhaltsgleichen – Neuregelungen (§ 16 SGB II i.V.m. § 112 SGB III) sind auf "Altfälle" nicht anwendbar (vgl. § 66 Abs. 1 SGB II).

Nach § 16 Abs. 1 Satz 3 SGB II a.F. gelten für Eingliederungsleistungen an erwerbsfähige behinderte Leistungsberechtigte nach diesem Buch unter anderem die §§ 97 bis 99 SGB III a.F. Nach § 97 Abs. 1 SGB III können behinderten Menschen Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben erbracht werden, die wegen Art oder Schwere der Behinderung erforderlich sind, um ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten, zu bessern, herzustellen oder wiederherzustellen und ihre Teilhabe am Arbeitsleben zu sichern.

Der Beklagte ist für die Bewilligung der beantragten Maßnahme auch dann zuständig, wenn er von einer primären Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers als Rehabilitationsträger ausgeht. Denn er ist jedenfalls nach § 14 Abs. 1 und 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – SGB X – zuständig geworden, da er den Antrag der Klägerin auf die begehrte Maßnahme nicht an den Rentenversicherungsträger weiter geleitet, sondern am 22.2.2011 über diesen entschieden hat.

Hat der erstangegangene Rehabilitationsträger einen Antrag auf Teilhabeleistungen nicht weiter geleitet, hat er diesen nach allen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen für Teilhabeleistungen unter Beachtung der besonderen persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Leistungsgesetze zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.2009 – B 5 R 5/07 R). Der Beklagte war hier der erstangegangene Rehabilitationsträger. Er hat den Neuantrag der Klägerin angenommen und beschieden. Dass die Klägerin zu einem früheren Zeitpunkt ein Verfahren beim Rentenversicherungsträger geführt hatte, hat für die Frage der Zuständigkeit für diesen Neuantrag keine Auswirkungen mehr. Das Verfahren beim – an sich zuständigen – Rentenversicherungsträger war durch den bestandskräftigen Widerspruchsbescheid abgeschlossen. Der Umstand, dass die Klägerin gegen die dort schon rechtswidrige Versagung von Teilhabeleistungen keine Klage erhoben hat, ist für die Frage der Zuständigkeit bezüglich des Neuantrags ohne Belang. Wenn der Beklagte, zu Recht, von der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers ausging, hätte er den Antrag nach dorthin weiterreichen müssen. Indem er dies unterließ, begründete jedenfalls dieses Versäumnis die Zuständigkeit des Beklagten, über das Begehren der Klägerin in der Sache zu entscheiden.

Hier liegen entgegen der Auffassung des Beklagten die tatbestandlichen Voraussetzungen der genannten Anspruchsgrundlage vor. Zur beruflichen Eingliederung der behinderten Klägerin sind Teilhabeleistungen erforderlich. Die Klägerin ist trotz ihres Berufsabschlusses seit Jahren arbeitslos. In ihrem erlernten Beruf hat sie nie richtig gearbeitet. Vermittlungsvorschläge wurden der Klägerin über Jahre hinweg nicht unterbreitet. Erst kurz vor der mündlichen Verhandlung ging der Klägerin ein solcher zu, der aber auch nur einen stundenweisen Einsatz vorsah. Bezeichnend ist, dass die Information zu diesem Vermittlungsvorschlag von der Klägerin und nicht etwa vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung kam. Insofern ist festzuhalten, dass die Integration der Klägerin in ihrem erlernten Beruf als gescheitert betrachtet werden muss. Die bislang gescheiterte Eingliederung der Klägerin in den Arbeitsmarkt liegt wesentlich in der Behinderung der Klägerin begründet. Wegen ihrer Behinderung sowie ihrer familiären Verhältnisse ist sie auch nur im Tagespendelbereich vermittelbar, was die Eingliederung weiter erschwert. Diese Einschätzung wird nicht zuletzt durch die vom Beklagten im Klageverfahren vorgelegte Liste über für die Klägerin angeblich in Frage kommenden freien Stellen bestätigt. Denn dieser Liste ist ein Mitarbeitervermerk beigefügt, wonach die aufgeführten Stellen für die Klägerin gerade nicht zumutbar seien.

Die Integration in ihrem erlernten Beruf erscheint insbesondere auch nach der Art und Schwere ihrer Sehschwäche ohne unterstützende Teilhabeleistungen nicht mehr möglich. Ein Grund hierfür mag sein, dass – über die generelle Scheu von vielen Arbeitgebern hinaus, Schwerbehinderte einzustellen – für die Tätigkeit von erheblich sehbehinderten Mitarbeitern die Anschaffung spezieller Arbeitsgeräte erforderlich ist. Obgleich für die Anschaffung solcher Spezialgeräte ebenfalls Förderleistungen zur Verfügung stehen, dürfte dies speziell in Bezug auf erheblich Sehbehinderte ein weiteres Einstellungshindernis darstellen. Sehbehinderte sind zudem oft stärker als andere Behinderte in ihrer individuellen Mobilität eingeschränkt. Die Anforderungen an die Mobilität von Stellenbewerbern haben sich in den letzten Jahren quer durch die meisten Berufsbilder erhöht. Der Beruf der Klägerin macht hier keine Ausnahme. Insgesamt ist die Kammer daher, wie zuvor schon die zunächst mit der Angelegenheit betraute Bearbeiterin in der Widerspruchsstelle, der Auffassung, dass hier das Kriterium der Erforderlichkeit von Teilhabeleistungen erfüllt ist.

Bezüglich der konkret in Frage kommenden Maßnahme steht dem Beklagte indes ein Ermessen zu. Eine Ermessensentscheidung im Sinne von § 39 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I – hatte der Beklagte in den angegriffenen Verwaltungsentscheidungen nicht getroffen. Aus seiner (rechtswidrigen) Sicht war dies konsequent, verneinte er ja entweder das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen oder überhaupt seine Zuständigkeit für die hier in Rede stehende Teilhabeleistung.

Erst jetzt zum Abschluss des Klageverfahrens lässt eine Bemerkung am Ende des Beklagten-Schreibens vom 25.7.2013 erstmals eine Ermessenserwägung erkennen, in dem auf die erheblichen Kosten der ins Auge gefassten Maßnahme hingewiesen wird. Ob diese Ermessenserwägung trägt, kann nicht abschließend geklärt werden, denn ein Nachschieben von Ermessenserwägungen bei vorherigem Ermessensausfall ist im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zulässig (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG-Kommentar, 10. Auflage 2012, RdNr.36 zu § 54). Der Ermessensausfall im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren führt daher zur Aufhebung der Entscheidungen und Zurückverweisung zur Neuentscheidung verbunden mit der Verpflichtung, über die beantragte oder ggf. eine andere geeignete Teilhabeleistung nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null, der es der Kammer ermöglicht hätte, den Beklagten zur Gewährung der Maßnahme zu verurteilen, liegt hier noch nicht vor.

Allerdings wird der Beklagte zu beachten haben, hierauf wurde bereits in der mündlichen Verhandlung ausweislich der hierüber gefertigten Niederschrift hingewiesen, dass die Qualifizierung zur medizinischen Tastuntersucherin als eine besonders geeignete Maßnahme erscheint, die Klägerin künftig dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dass hierfür vermeintlich hohe Kosten anfallen, ändert daran nichts. Die Integration Behinderter mit schwerwiegenden Beeinträchtigungen ist nicht zum Nulltarif zu haben. Im Einzelfall fallen, wie etwa bei einer Arbeitsassistenz für körperlich stark eingeschränkte Menschen, zwar oft hohe Kosten an. Im Gesamtverhältnis zu den verschiedensten Sozialleistungen wie etwa den Gesamtkosten für das Arbeitslosengeld II oder im Einzelfall für eine mehrjährige Umschulung relativieren sich solche Kosten indes wieder. Zudem ist die Verpflichtung zur Integration Behinderter eine Aufgabe mit Verfassungsrang (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 – i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz – GG; Art. 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union), was sich in den unzähligen Vorschriften zur Unterstützung und Förderung Behinderter im Sozialgesetzbuch niederschlägt. Diese sind im Lichte dieser verfassungsmäßigen Verpflichtung auszulegen. Das Gewicht dieser Verpflichtung haben der Beklagte wie die Beigeladene bislang verkannt.

Die hier auf den ersten Blick anfallenden hohen Kosten erklären sich auch daraus, dass für die Ausbildung wegen der spezifischen Behinderung der Teilnehmer ein hoher Aufwand an Personal und Ausbildungsmitteln für einen kleinen Teilnehmerkreis betrieben werden muss. Dies treibt die Kosten für die wenigen Teilnehmer naturgemäß in die Höhe. Insofern können die Teilnahme- und Unterbringungskosten allein die Versagung der Maßnahme im Rahmen einer Ermessensentscheidung nicht rechtfertigen. Es spricht daher vieles dafür, dass im Rahmen der Ermessensentscheidung kaum eine andere Entscheidung als eine Bewilligungsentscheidung rechtlich zulässig ist. Zu der Einschätzung allerdings, dass es sich um die einzige denkbare geeignete Teilhabeleistung für die Klägerin handelt und somit der Fall einer Ermessensreduzierung auf Null vorliegt, konnte sich die Kammer letztlich nicht durchringen.

Bei seiner Neuentscheidung wird der Beklagte auch Teilhabeleistungen in seine Entscheidung einzubeziehen haben, die ihre Rechtsgrundlage nicht im SGB II oder SGB III haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGB II. Da die Klägerin auf Bewilligung der Maßnahme geklagt hatte, liegt insoweit ein Unterliegen vor, so dass ihr nur ein Kostenerstattungsanspruch zu einhalb zuzuerkennen war.
Rechtskraft
Aus
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