L 6 VG 493/13 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 8 VG 141/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 493/13 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Eine auf einer Eingriffgrundlage erfolgte vorläufige Zwangsräumung stellt keinen rechtswidrigen tätlichen Angriff dar, sie erweist sich vielmehr als rechtmässig.
Die Beschwerde der Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Januar 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1974 geborene Beschwerdeführerin beantragte am 03.08.2012 mit formlosem Antrag Leistungen. Sie führte zur Begründung aus, infolge mehrerer vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriffe gegen ihre Person leide sie an gesundheitlichen Schädigen im Geltungsbereich des OEG. Sie erstatte seit Dezember 2011 Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft St. Den Tätern sei bekannt, dass sie zu 50 % schwerbehindert sei und sie mobbten sie weiterhin. Sie verweise in diesem "Zusammenhang auf "Materialen - Grafeneck 1940 - Wohin bringt ihr uns?‘ NS-Euthanasie im deutschen Südwesten der LpB, Seite 15". Unter Hinweis auf die Deportationen und Ermordungen in Grafeneck führte sie aus, offenbar hätten diese Strukturen 70 Jahre überdauert. Dies werde Deutschland früher oder später erneut an den Abgrund bringen. Daraufhin forderte der Beschwerdegegner sie auf, das mit Merkblatt beigelegte Antragsformular auszufüllen (Schreiben vom 08.08.2012).

In der Folgezeit stellte die Beschwerdeführerin mehrfach Anträge beim Sozialgericht Stuttgart auf einstweiligen Rechtsschutz. So begehrte sie mit Antrag vom 09.08.2012 die Gewährung von Versorgungskrankengeld, Heilbehandlung und Rehabilitationsmaßnahmen, mit Antrag vom 03.09.2012 die Gewährung einer kieferorthopädisch-kieferchirurgischen Zahnbehandlung und mit Antrag vom 20.09.2012 die Gewährung einer Beschädigtengrundrente. Diese Anträge lehnte das Sozialgericht mit Beschlüssen vom 28.08.2012 (S 13 VG 4391/12 ER), 17.09.2012 (S 13 VG 4834/12 ER) und 19.10.2012 (S 13 VG 5182/12 ER) jeweils mit der Begründung ab, ohne vorherige Antragstellung fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz.

In ihrem am 27.12.2012 unterzeichneten Formularantrag auf die Gewährung von Beschädigtenversorgung gab die Beschwerdeführerin an, sie führe ihre Gesundheitsstörungen "seelische Krankheit, Skoliose und Dysgnathie" auf die am 08.10.2012 in Stuttgart durchgeführte Zwangsräumung zurück. Im weiteren Verlauf gelangten das Versäumnisurteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 10.07.2012 (Verurteilung der Beschwerdeführerin zur Räumung ihrer Wohnung) und das Schreiben der Gerichtsvollzieherin Bürgermeister vom 13.09.2012 (Mitteilung der beabsichtigten Zwangsräumung am 08.10.2012) zu den Akten.

Am 03.01.2013 hat die Beschwerdeführerin erneut einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht mit den Anträgen aus den ersten drei Verfahren beantragt. Sie hat ferner ausgeführt, sie sei aufgrund der Beschlüsse des Amtsgerichts Stuttgart vom 10.10.2012, 05.11.2012, 14.12.2012 und 28.12.2012 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Furtbachkrankenhaus in St. untergebracht worden.

Mit Beschluss vom 29.01.2013 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe bereits einen Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der Techniker Krankenkasse sei ihre Krankenbehandlung gesichert. Wegen ihrer stationären Unterbringung in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Furtbachkrankenhaus in St. erscheine die von ihr begehrte Rehabilitationsmaßnahme nicht nötig. Ferner sei nicht ersichtlich, weshalb einstweiliger Rechtsschutz zur Sicherung ihres aktuellen Lebensunterhalts notwendig wäre. Auch fehle es an einem Anordnungsanspruch. Es erscheine nahezu ausgeschlossen, dass es sich bei der geltend gemachten Dysgnathie um eine Schädigungsfolge handeln könne. Denn eine Dysgnathie sei eine Fehlentwicklung der Zähne, der Kiefer- und/oder des Kausystems. Ebenso verhalte es sich mit der geltend gemachten Gesundheitsstörung der Skoliose, bei der es sich um eine Seitverbiegung der Wirbelsäule bei gleichzeitiger Rotation handele. Im Hinblick auf die seelische Störung habe die Beschwerdeführerin ausgeführt, dass sie bereits vor den geltend gemachten schädigenden Ereignissen anerkannte Schwerbehinderte gewesen sei.

Die Beschwerdeführerin hat mit dem am 04.02.2013 aus dem Furtbachkrankenhaus St. versandten Telefax gegen den Beschluss des Sozialgerichts Beschwerde erhoben. Sie hat ausgeführt, durch die Unterbringung seien Folgeschäden entstanden. Ihr Vermögen reiche für die Behebung der Folgeschäden nicht aus. Sie habe Schmerzen und Taubheitsgefühle im rechten Arm und beantragte deswegen Physiotherapie. Sie hat das Schreiben der Techniker Krankenkasse vom 20.12.2012 (Bestätigung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung) und das Protokoll über die nichtöffentliche Sitzung des Landgerichts St. vom 24.01.2013 (Unterbringungssache) vorgelegt. Die Klägerin hat am 13.02.2013 mitgeteilt, sie sei nun in der Sozialpsychiatrischen Poliklinik MMH in H. erreichbar, und hat diesbezüglich eine Meldebescheinigung vom 22.02.2013 (Abmeldung am 04.02.2013) vorgelegt.

Die Beschwerdeführerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. Januar 2013 aufzuheben und ihr im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Versorgungskrankengeld, Heilbehandlung, insbesondere eine Rehabilitationsmaßnahme sowie kieferorthopädische und -chirurgische Zahnbehandlung, und Beschädigtengrundrente zu gewähren.

Der Beschwerdegegner beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, dass es am erforderlichem Rechtsschutzbedürfnis fehle. Ein Anordnungsgrund sei nicht glaubhaft gemacht.

Mit Bescheid vom 13.02.2013 hat der Beschwerdegegner den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung abgelehnt. Die Prüfung des Antrages habe ergeben, dass die für die Gewährung von Beschädigtenversorgung erforderliche Anspruchsvoraussetzung, nämlich, dass die Beschwerdeführerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei, nicht erfüllt sei. Eine derartige Angriffshandlung sei nach Auswertung der beigezogenen Aktenunterlagen nicht erwiesen. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff setze bestimmungsgemäß eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung voraus. Bei der Zwangsräumung einer Wohnung könne hiervon nicht ausgegangen werden.

Am 22.02.2013 hat Rechtsanwältin H. mitgeteilt, die Betreuung der Beschwerdeführerin sei aufgehoben worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.

II.

Die nach § 172 Abs. 1 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig.

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg ist für die Beschwerde auch örtlich zuständig, da die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung noch im Furtbachkrankenhaus St. untergebracht war. Ferner geht der Senat von einer Prozessfähigkeit der Beschwerdeführerin aus. Zwar könnte die Beschwerdeführerin aufgrund der Mitteilung der Rechtsanwältin H., die Betreuung der Beschwerdeführerin sei aufgehoben worden, im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung noch unter Betreuung gestanden haben. Der Senat hat aber keine sicheren Erkenntnisse darüber, dass das Eilverfahren zum Betreuungskreis der Betreuerin gehört hat und bejahendenfalls von dieser an sich gezogen worden ist, so dass von einer Prozessunfähigkeit der Beschwerdeführerin nicht ausgegangen werden kann (vgl. Littmann, Hk-SGG, 3. Auflage, § 71 SGG, Rz. 6).

Die Beschwerde ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann, soweit ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG nicht vorliegt - was hier nicht der Fall ist, weil weder die aufschiebende Wirkung noch die Aufhebung oder Anordnung eines Sofortvollzugs im Streit ist - das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung).

Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist Voraussetzung, dass ein dem Antragsteller zustehendes Recht oder rechtlich geschütztes Interesse vorliegt (Anordnungsanspruch), das ohne Gewährung des vorläufigen Rechtsschutzes vereitelt oder wesentlich erschwert würde, so dass dem Antragsteller schwere, unzumutbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht in der Lage wäre (Anordnungsgrund). Ein Anordnungsanspruch setzt grundsätzlich voraus, dass der materiell-rechtliche Anspruch, für den vorläufiger Rechtsschutz begehrt wird, mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vorliegt (vgl. Binder, a. a. O. § 86b SGG Rz. 36).

Ebenso wie das Sozialgericht ist auch der Senat der Auffassung, dass die Beschwerdeführerin weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgericht im angefochtenen Beschluss, die er sich zu eigen macht.

In Bezug auf den fehlenden Anordnungsanspruch weist der Senat, soweit sich die Beschwerdeführerin auf die erfolgte Zwangsräumung stützt, ergänzend auf Folgendes hin:

Das Begehren der Beschwerdeführerin richtet sich nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Danach erhält, wer im Geltungsbereich des OEG infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG.

Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs ist aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Dritten zu beurteilen. Allgemein ist davon auszugehen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist (BSG, Urteil vom 29.04.2010 - B 9 VG 1/09 R - zitiert nach juris). An der Rechtswidrigkeit eines solchen Angriffs fehlt es, wenn sich der Angreifende auf Rechtfertigungsgründe stützen kann. Als ein solcher Rechtfertigungsgrund ist grundsätzlich das Handeln aufgrund von Amtsrechten und Dienstpflichten, so insbesondere bei Vollstreckungshandlungen von Polizeibeamten oder Gerichtsvollziehern, anerkannt (Kunz/Zellner/Gelnhausen/Weiner, OEG, 5. Auflage, § 1, Rz. 33; Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 1 OEG, Rz. 67). Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns von Beamten gilt ebenso wie bei der Prüfung, ob eine Handlung des von der Amtshandlung betroffenen Bürgers gemäß § 113 Strafgesetzbuch (StGB) als Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte strafbar ist, ein strafrechtlicher Rechtmäßigkeitsbegriff, bei dem es grundsätzlich nicht auf die Richtigkeit der Amtshandlung, sondern nur auf ihre formale Rechtmäßigkeit ankommt. Daher genügt das Vorliegen einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage, die sachliche und örtliche Zuständigkeit des handelnden Beamten zum Eingreifen, die gesetzlichen Förmlichkeiten, soweit solche vorgeschrieben sind, der vom zuständigen Vorgesetzten erteilte Auftrag und, soweit der Beamte nach eigenem Ermessen handelt, die Ordnungsmäßigkeit der Ermessensausübung (OLG Celle, Beschluss vom 08.07.2011 - 31 Ss 28/11 - zitiert nach juris).

Die am 08.10.2012 durchgeführte vorläufige Zwangsräumung stellt sich nach summarischer Prüfung des Senats danach als rechtmäßig dar. Sie beruhte auf dem Versäumnisurteil des Amtsgerichts Stuttgart vom 10.07.2012 und wurde im Schreiben der Gerichtsvollzieherin Bürgermeister vom 13.09.2012 angekündigt. In Ausführung des Versäumnisurteils des Amtsgerichts ist die Zwangsräumung auf einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage erfolgt. Zweifel hinsichtlich der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit der Vollstreckungsbeamten bestehen ebenso wenig wie solche an der Einhaltung vorgeschriebener Förmlichkeiten. Dass bei der Zwangsräumung ein körperlicher Angriff auf die Beschwerdeführerin erfolgt ist, hat sie nicht vorgetragen. Bejahendenfalls wäre ein solcher unmittelbarer Zwang vom Versäumnisurteil des Amtsgerichts gedeckt, so dass es an einer rechtswidrigen Tat fehlen würde. Nach alledem hat es sich bei der Zwangsräumung nicht um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt. Ein gegen die Beschwerdeführerin in feindseliger Willensrichtung gerichtetes Handeln ist nicht ersichtlich.

Nach alledem war die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nach § 177 SGG nicht anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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