L 16 R 259/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 211/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 259/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 25. Januar 2012 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Streitig ist die Höhe des Rechts der Klägerin auf große Witwenrente (WR) für die Zeit ab 1. Juni 2010.

Der in K geborene, im Oktober 1958 in die frühere Deutsche Demokratische Republik (DDR) übergesiedelte und 2010 in F verstorbene Ehemann der Klägerin, E L (im Folgenden: Versicherter), hatte in Polen Beitragszeiten zur dortigen Sozialversicherung vom 1. August 1945 bis 30. September 1958 zurückgelegt. In der DDR und der Bundesrepublik Deutschland erwarb er weitere Pflichtbeitragszeiten vom 6. Oktober 1958 bis 30. September 1992. Aus der DDR-Sozialversicherung bezog der Versicherte seit 1. Oktober 1987 Invalidenrente, die von der Beklagten nach Umwertung und Anpassung ab 1. Januar 1992 bis 30. September 1992 als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit weitergewährt wurde. Ab 1. Oktober 1992 bezog der Versicherte Regelaltersrente. Am 18. November 1995 heirateten der Versicherte und die Klägerin; seit Dezember 1995 lebten die Eheleute gemeinsam in Deutschland.

Nach dem Tod des Versicherten beantragte die Klägerin im Mai 2010 WR, die ihr die Beklagte mit Bescheid vom 23. September 2010 für die Zeit ab 1. Juni 2010 zuerkannte (Zahlbetrag für Juni bis August = monatlich 440,60 EUR; ab 1. September 2010 = monatlich 264,36 EUR; ab 1. Juli 2011 = monatlich 266,10 EUR). Aus den polnischen Beitragszeiten des Versicherten stellte die Beklagte dabei keine persönlichen Entgeltpunkte (EP) in die Rentenberechnung ein; eine Anrechnung von Einkommen erfolgte nicht. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. Februar 2011 zurück. Aufgrund des erst im Jahr 1995 erfolgten Zuzuges der Klägerin könnten die auf der Grundlage des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (- DPSVA 1975 -; BGBl 1976 II, 396) bei dem Versicherten berücksichtigten polnischen Beitragszeiten bei der Berechnung der WR nicht angerechnet werden. Nach Feststellung einer vom polnischen Träger aus den dortigen Zeiten zu zahlenden Rente sei die WR ggfs neu zu berechnen.

Das Sozialgericht (SG) F hat die auf Gewährung einer höheren WR für die Zeit ab 1. Juni 2010 gerichtete Klage mit Urteil vom 25. Januar 2012 abgewiesen, nachdem die Beklagte die Rente für die Zeit ab 1. Dezember 2010 bzw 1. Juli 2011 neu festgestellt hatte (Bescheide vom 16. Mai 2011 und 25. August 2011; Zahlbetrag unverändert). Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Die Beklagte habe bei der Berechnung der WR beanstandungsfrei keine EP aus den polnischen Beitragszeiten des Versicherten ermittelt. Weder das Fremdrentengesetz (FRG) noch die Voraussetzungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 DPSVA 1975 seien erfüllt. Das DPSVA 1975 sei nur bei Berechtigten weiterhin anzuwenden gewesen, die - wie der Versicherte - vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnort in Deutschland genommen hätten (Verweis auf Art 27 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über Soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 - DPSVA 1990 -; BGBl 1991 II, 743). Die Klägerin sei aber erst 1995 eingereist und habe zu diesem Zeitpunkt auch noch keine Ansprüche oder Anwartschaften nach dem DPSVA 1975 erworben gehabt. Für die Feststellung einer Rente aus den polnischen Zeiten sei daher der polnische Träger zuständig. Die WR-Berechnung im Übrigen sei zutreffend.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

Aus ihrem Vorbringen ergibt sich der Antrag,

das Urteil des Sozialgerichts F vom 25. Januar 2012 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Februar 2011 und der Bescheide vom 16. Mai 2011 und 25. August 2011 zu verurteilen, ihr für die Zeit ab 1. Juni 2010 höhere Witwenrente unter Berücksichtigung der von dem Versicherten in der Zeit vom 1. August 1945 bis 30. September 1958 in Polen zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Mit Bescheiden vom 27. August 2012 und 25. Juni 2013 stellte die Beklagte die WR für die Zeit ab 1. Juli 2012 bzw 1. Juli 2013 neu fest (Zahlbeträge monatlich = 272,11 EUR bzw 280,75 EUR), und zwar "unter Außerachtlassung der im Verfahren gegen den Bescheid vom 08.02.2011 geltend gemachten Ansprüche. Sie wird neu festgestellt, wenn und soweit dieses Verfahren zu Ihren Gunsten beendet wird. Der Zahlungsausschluss nach § 44 Abs. 4 SGB X findet dabei keine Anwendung. Wegen dieser Ansprüche ist ein Widerspruch gegen den Rentenbescheid ausgeschlossen." Eine zwischenstaatliche Berechnung nahm die Beklagte nicht vor, da der polnische Träger Versicherungszeiten in Polen nicht bestätigen konnte.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Rentenakte der Beklagten und die Gerichtsakte haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung der Klägerin durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG). Der Senat war an dieser Verfahrensweise auch nicht dadurch gehindert, dass die Beklagte die WR mit den im Verlauf des Berufungsverfahrens erteilten Bescheiden vom 27. August 2012 bzw 25. Juni 2013 neu festgestellt hat. Denn diese Neufeststellung erfolgte nach ausdrücklicher Verlautbarung der Beklagten ohne Berücksichtigung der im vorliegenden Verfahren geltend gemachten Ansprüche auf höhere WR aufgrund des Teilwerts des Rechts auf WR aus den in der Zeit vom 1. August 1945 bis 30. September 1958 in Polen zurückgelegten Pflichtbeitragszeiten des Versicherten und verlautbarte demzufolge insoweit keine Verwaltungsentscheidung. Die genannten Bescheide sind daher auch nicht kraft Gesetzes Gegenstand des Verfahrens nach den §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG geworden, über die erstinstanzlich kraft Klage zu befinden gewesen wäre.

Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Sie hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Neufeststellung ihres Rechts auf WR für die Zeit ab 1. Juni 2010 unter Berücksichtigung der vom Versicherten in Polen in der Zeit vom 1. August 1945 bis 30. September 1958 erlangten Pflichtbeitragszeiten.

In Betracht käme eine Berücksichtigung dieser Beitragszeiten nur auf der Grundlage der auf dem Eingliederungsprinzip beruhenden Vorschriften des DPSVA 1975 (vgl Art. 4 Abs. 1 und 2 DPSVA 1975). Dieses Abkommen, das noch Grundlage der Rentenberechnung des Versicherten war, ist jedoch auf den Anspruch der Klägerin auf WR nicht anwendbar, und zwar schon deshalb nicht, weil die Klägerin, die den Versicherten erst 1995 geheiratet hatte, Ansprüche bzw. Anwartschaften nach dem DPSVA 1975 vor dem 1. Januar 1991 nicht erwerben konnte. Die Klägerin ist auch nicht schon vor dem 1. Januar 1991 nach Deutschland übergesiedelt und hat ihren Wohnort dort beibehalten, was im Falle des Erwerbs von Ansprüchen und Anwartschaften nach dem DPSVA 1975 Voraussetzung für eine weitere Anwendung dieses Abkommens wäre (vgl. Art. 27 Abs. 2 Satz DPSVA 1990). Das DPSVA 1975 ist nämlich nur unter den in Art. 27 Abs. 2 bis 4 DPSVA 1990 genannten Bedingungen weiterhin auch unter Geltung der mwV 1. Mai 2010 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (EGV 883/2004) anwendbar.

Art. 8 Abs. 1 Satz 1 der EGV 883/2004 (vom 29. April 2004, ABl (EU) Nr L 166 vom 30. April 2004, wirksam ab 1. Mai 2010; zuletzt geändert durch die EUV 465/2012 vom 22. Mai 2012, ABl (EU) Nr L 149 vom 8. Juni 2012) sieht grundsätzlich vor, dass diese Verordnung im Rahmen ihres Geltungsbereichs an die Stelle aller zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Abkommen über soziale Sicherheit tritt. Soweit dies der Fall ist, sind mithin die entsprechenden Vereinbarungen zwischen Deutschland und Polen - also auch das DPSVA 1975 und das DPSVA 1990 - nicht mehr anwendbar. Sie werden abgelöst durch die koordinierungsrechtlichen Vorschriften der EGV 883/2004, die im Grundsatz eine Verpflichtung zum Leistungsexport von Geldleistungen vorsehen. Hierzu bestimmt Art. 7 EGV 883/2004 unter der amtlichen Überschrift "Aufhebung der Wohnortklauseln", dass Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden dürfen, dass der Berechtigte in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat; dies gilt jedoch nur, "soweit in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist". Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 2 und 3 EGV 883/2004 gelten einzelne Bestimmungen von Abkommen über soziale Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten vor dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung geschlossen wurden, jedoch fort, sofern sie für die Berechtigten günstiger sind oder sich aus besonderen historischen Umständen ergeben und ihre Geltung zeitlich begrenzt ist. Um weiterhin Anwendung zu finden, müssen diese Bestimmungen in Anhang II aufgeführt sein. In Anhang II (eingefügt durch Art. 1 Nr 20 iVm Anhang Buchst B EGV 988/2009 vom 16. September 2009, ABl (EU) Nr L 284, 43) ist unter der Überschrift "Bestimmungen von Abkommen, die weiter in Kraft bleiben und gegebenenfalls auf Personen beschränkt sind, für die diese Bestimmungen gelten (Artikel 8 Absatz 1)" im Abschnitt Deutschland - Polen unter Buchst a das "Abkommen vom 9. Oktober 1975 über Renten- und Unfallversicherung, unter den in Artikel 27 Absätze 2 bis 4 des Abkommens über soziale Sicherheit vom 8. Dezember 1990 festgelegten Bedingungen (Beibehaltung des Rechtsstatus auf der Grundlage des Abkommens von 1975 der Personen, die vor dem 1. Januar 1991 ihren Wohnsitz auf dem Hoheitsgebiet Deutschlands oder Polens genommen hatten und weiterhin dort ansässig sind)" aufgeführt (vgl. zum Ganzen auch BSG, Urteil vom 10. Juli 2012 - B 13 R 17/11 R - juris). Wie bereits dargelegt, sind die Voraussetzungen des Art. 27 Abs. 2 bis 4 DPSVA in der Person der Klägerin aber nicht erfüllt.

Der WR-Rentenanspruch der Klägerin richtet sich daher nach den Maßgaben der EGV 883/2004. Da der Klägerin schon nach innerstaatlichem Recht ein WR-Anspruch zusteht, hat die Beklagte diese Rente beanstandungsfrei als "autonome" Leistung gemäß Art. 52 Abs. 1a EGV 883/2004 festgestellt. Diese Leistung ist jedenfalls zu gewähren (vgl. Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der EGV 883/2004, Abl (EU) Nr L 284/1 vom 30. Oktober 2009). Die Ermittlung eines theoretischen Leistungsbetrags, dh des Betrags, der sich nach den innerstaatlichen Berechnungsvorschriften ergeben würde, wenn alle mitgliedstaatlichen Zeiten in dem jeweiligen Staat zurückgelegt wären, nach Maßgabe von Art. 52 Abs. 1b EGV 883/2004 und im Anschluss daran des tatsächlichen Betrags einer anteiligen Leistung, dh des Betrags, der sich auf der Grundlage des theoretischen Betrags nach dem Verhältnis zwischen den nach den für die Beklagte geltenden Rechtsvorschriften vor Eintritt des Versicherungsfalls zurückgelegten Zeiten und den gesamten nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalls zurückgelegten Zeiten errechnet, kommt hingegen wegen des von dem polnischen Träger fruchtlos abgeschlossenen Kontenklärungsverfahrens nicht in Betracht. Eine Vergleichsberechnung nach Maßgabe von Art. 52 EGV 883/2004 scheidet daher aus.

Die innerstaatliche Rentenberechung der Beklagten ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Auf die zutreffende Begründung des SG in dem angefochtenen Urteil nimmt der Senat insoweit nach § 153 Abs. 2 SGG Bezug und sieht von weiteren Ausführungen ab.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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