S 12 SB 129/13

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 12 SB 129/13
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig. Mit Bescheid vom 00.00.0000 stellte der Kreis Aachen bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger aufgrund eines Diabetes mellitus, des Verlusts des linken Hodens und einer Funktionsstörung der Wirbelsäule einen GdB von 30 fest.

Am 00.00.0000 stellte der Kläger einen Änderungsantrag beim Beklagten. Hierbei gab er an, er leide unter einem Liposarkom Klassifizierung pT2b, G3. Dem Antrag beigefügt war ein Arztbericht des St.-B. -Hospitals F. vom 00.00.0000 sowie eine pathologisch-anatomische Begutachtung durch die Institut und Praxisgemeinschaft für Pathologie des Krankenhauses E. gem. GmbH vom 00.00.0000.

Diese Berichte wertete der Beklagte durch seinen ärztlichen Dienst aus und kam zu der Einschätzung aufgrund der Erkrankung des Weichteilgewebes sei ein Einzel-GdB von 50, aufgrund der Zuckerkrankheit ein Einzel-GdB von 30, aufgrund des Verlustes des linken Hodens ein Einzel-GdB von 10 und aufgrund einer Funktionsstörung der Wirbelsäule ein Einzel-GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Insgesamt sei der GdB mit 60 zu bewerten.

Mit Bescheid vom 00.00.0000 stellte der Beklagte daraufhin einen GdB von 60 fest. Hiergegen legte der Kläger am 00.00.0000 Widerspruch mit der Begründung ein, er halte den GdB für zu niedrig. Am gleichen Tag stellte der Kläger einen Änderungsantrag.

Mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000 wies die Bezirksregierung N. den Widerspruch als unbegründet zurück.

Am 00.00.0000 hat der Kläger Klage erhoben. Er hat ausgeführt, der aktuelle GdB von 60 sei zu niedrig. Es sei schon zuvor wegen seines Diabetes ein GdB von 30 festgestellt worden. Hinzugekommen sei nun eine Krebserkrankung, die ihrerseits schon einen GdB von 50 bedinge.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin und Rehabilitationsmedizin, Chefarzt der Rehaklinik an der Rosenquelle, Dr. K ...

Mit Schriftsatz vom 00.00.0000 hat der Kläger ausgeführt, er halte einen Internisten nicht für kompetent, die onkologischen Fakten einer seltenen Systemerkrankung zu beurteilen. Er kenne einen aktuellen Fall von Systemerkrankung, in dem der GdB allein für die Systemerkrankung mit 70 festgestellt worden sei. Er habe erhebliche Schmerzen und funktionale Beeinträchtigungen aufgrund der wiederholten Operationen am rechten Oberschenkel. Er halte die Beschreibungen des Gutachters hinsichtlich der OP-Narben und der Muskelminderung für grob unkorrekt. Es mangele an der Würdigung des OP-bedingt fehlenden Muskelfleisches. Auch habe der Gutachter zur Zuckererkrankung nur oberflächlich und seines Erachtens falsch Stellung bezogen. Soweit der Gutachter sich zu Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit äußere seien dies Spekulationen. Wenn der Gutachter keine Probleme der Beweglichkeit attestiere, so habe er nicht richtig hingesehen. Auch sei die Beschreibung, die Wirbelsäule bilde kein Hohlkreuz falsch. Er könne nur durch regelmäßigen Sport u.a. permanente Krämpfe vermeiden. Auch im Hinblick auf die Feststellungen zu den Krampfadern sei das Gutachten unzutreffend. Er habe auch vermehrte Wasseransammlungen im rechten Bein, Oberschenkel bis zum Knie. Grund hierfür dürfte die Bestrahlung mit 60 Gray sein. Er halte das gesamte Gutachten für oberflächlich und unkorrekt. Auch sei er mit der Art und Weise der Begutachtung nicht einverstanden. Diese sei nach Bundeswehrmanier einschließlich "Stillgestanden, Augen rechts, die Augen links" erfolgt.

Der Sachverständige hat daraufhin schriftlich erklärt, er bleibe bei seiner Einschätzung im Gutachten. Es liege zwar ein Muskelverlust vor, dieser wirke sich aber im Ablauf des täglichen Lebens nicht gravierend aus. Dies habe seine Untersuchung ergeben. Bei der Untersuchung beobachte er die Probanden auch in vermeintlich unbeobachteten Momenten. Die Bewegungsausmaße habe er im Gutachten beschrieben. Von "Stillgestanden, Augen rechts, die Augen links" könne keine Rede sein. Er fordere die Probanden aber auf, den Kopf nach rechts oder links zu drehen. Die Bewertung der Zuckerkrankheit sei anhand der aktuellen Versorgungsmedizinischen Grundsätze erfolgt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat der Kläger mitgeteilt, er sei seit Mai oder Juni 0000 in Behandlung wegen Problemen der Oberschenkelmuskulatur. Er nehme Lymphdrainagen in Anspruch. Nach den ersten sechs Behandlungen habe sich ein gutes Ergebnis eingestellt. Es sei zu Abschwellungen des Oberschenkels sowie zu einer Besserung der Krampfadern am Knie gekommen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 00.00.0000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000 zu verurteilen, bei ihm ab dem 00.00.0000 einen GdB von mehr als 60 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren und nimmt Bezug auf die Ausführungen seines ärztlichen Beraters und des Gutachters Dr. K ...

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Klage ist zulässig, insbesondere richtet sie sich gegen den richtigen Klagegegner.

Durch § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen – Eingliederungsgesetz - (Art. 1 Abschnitt I des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007, GV. NRW S. 482 – Straffungsgesetz –) hat der Landesgesetzgeber die den Versorgungsämtern nach §§ 69 und 145 SGB des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – (SGB IX) zugewiesenen Aufgaben in zulässiger Weise mit Wirkung vom 01.01.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen (vgl. dazu Landessozialgericht – LSG - Nordrhein-Westfalen Urteil vom 12.02.2008 - L 6 SB 101/06; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 05.03.2008 - L 10 SB 40/06; zur Anwendung des Behördenprinzips in Nordrhein-Westfalen bei sozialgerichtlichen Streitigkeiten, vgl. Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 24.03.2009, B 9 SO 29/07 R). Die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster zur Entscheidung über den Widerspruch ergibt sich aus § 2 Abs. 2 Satz 2 Eingliederungsgesetz in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 25.10.2011 (GV. NRW S. 542; vgl. dazu auch LSG NRW Beschluss vom 16.01.2012 – L 10 SB 197/11 = juris Rn. 16; LSG NRW Urteil vom 6.12.2009 - L 10 SB 39/09 = juris Rn. 23 ff.).

II.

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG nicht beschwert, da die angefochtenen Bescheide rechtmäßig sind. Dem Kläger steht derzeit kein höherer GdB als 60 zu.

Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.

Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 –B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung unter

(1.) einer Erkrankung des Weichteilgewebes (2.) Zuckerkrankheit (3.) Verlust des linken Hodens (4.) Funktionsstörung der Wirbelsäule (5.) Krampfadern

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens des Herrn Dr. K. fest.

Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einem erfahrenen medizinischen Gutachter unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Soweit der Kläger dem Gutachter vorwirft, er habe ihn bei der Untersuchung der körperlichen Untersuchung mit militärischen Befehlen "stillstehen lassen" und die Kommandos "Augen rechts" und "die Augen links" gegeben, so glaubt die Kammer dem Kläger diese Darstellung nicht. Aus dem Gutachten ist ersichtlich, dass der erfahrene Gutachter im Rahmen der körperlichen Untersuchung eine Ermittlung der Beweglichkeit der Wirbelsäule (Halswirbelsäule und Lenden-/Brustwirbelsäule) nach der sog. "Neutral-Null-Methode" vorgenommen hat. Dass der Kläger dies – vielleicht im Zusammenhang mit dem offensichtlich im Dienstzimmer befindlichen Wappen einer Reserveeinheit der Bundeswehr, welche der Gutachter angehört – als militärischen Drill assoziiert hat, mag sein. Es beruht aber klägerseitig auf einer völligen Verkennung der Ermittlungen nach der Neutral-Null-Methode (vgl. zur Neutral-Null-Methode etwa, Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S 3 ff.; Dörfler/Eisenmenger/Wandl/Lippert, Medizinische Gutachten, 2008, S. 72 ff.). Dass die vom Kläger geschilderten militärischen Kommandos in diesem Zusammenhang eine Rolle gespielt hätten, glaubt die Kammer dem Kläger nicht. Es stellt sich nach Auffassung der Kammer als bloßer Versuch dar, den Gutachter, mit dessen Feststellungen der Kläger offensichtlich nicht einverstanden ist, zu diskreditieren. Auch soweit der Kläger die medizinische Kompetenz des Gutachters anzweifelt, folgt ihm die Kammer nicht. Dr. K. ist als Internist und Rehabilitationsmediziner zum einen durchaus in der Lage die beim Kläger bestehende Zuckererkrankung sowie die Auswirkungen der Krebserkrankungen zu beschreiben und auch entsprechend den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen zu bewerten. Dies umso mehr als ihm hierfür onkologische und pathologische Unterlagen zur Verfügung standen, die eine genaue Diagnose geliefert haben. Der Kläger verkennt in diesem Zusammenhang offensichtlich, dass es bei der Bewertung des GdB nicht auf die Diagnosen ankommt, sondern auf die Auswirkungen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diese werden vom Gutachter beschrieben – auch wenn der Kläger sich mit diesen Feststellungen nicht einverstanden erklärt.

1. Beim Kläger ist am 00.00. bzw. 00.00.0000 ein intramuskuläres myxoides und schlecht differenziertes Liposarkom mit einem Maximaldurchmesser von 5 cm am proximalen medialen Oberschenkel entfernt worden. Es wurde ein minimaler Sicherheitsabstand von dorsal 2 cm, von ventral 0,9 cm, zur Hauptspindel 2 cm, zum proximalen Präparatausläufer 2,5 cm und zum kaudalen Präparatausläufer 12 cm eingehalten. Ausweislich der pathologischen Untersuchung wurde der Tumor allseits im Gesunden entfernt. Nach der Tumour-Node-Metastasis (TNM)-Klassifikation der Union International contre le Cancer (UICC) wurde der Tumor mit pT2b G 3 beschrieben. Gemäß Teil B Ziffer 17.13 Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist der GdB hierfür – bis zum Ablauf der Heilungsbewährung – mit 50 zu bewerten. Die Kammer verkennt nicht, dass der Kläger gegenüber dem Gutachter und dem Gericht Schmerzen im Bereich der Operationsnarbe sowie am Oberschenkel geklagt hat. So hat er ausweislich des Gutachtens angegeben, er habe dort, wo die Operation stattgefunden habe, ein "Fremdkörpergefühl" und der Oberschenkel bis hinunter zur Wade täte weh, wie die Vorstufe zu einem Krampf. Dies sei besonders unangenehm, wenn er Auto fahre, wozu er beruflich häufig gezwungen sei. Nach Feststellungen des Gutachters stellen sich die Narbenverhältnisse aber unauffällig auf. Auch eine Beeinträchtigung des Gehvermögens fiel dem Gutachter nicht auf. Er beschrieb, dass der Kläger sich mit raumgreifenden Schritten und seitengleicher Belastungsphase bewegte. Ein Hilfsmittel benutzte der Kläger bei, Gehen nicht. Eine besondere Beeinträchtigung der Gehfähigkeit war auch für die Kammer nicht augenscheinlich. Die Kammer verkennt nicht, dass beim Kläger mit dem Tumor auch gesundes Haut- und Muskelgewebe mit entfernt worden ist. Der Gutachter beschreibt auch eine geringe umschriebene Muskelminderung im Bereich der Operationsnarbe. Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausgeführt, die Muskelminderung sei erheblich und die Schmerzen seien ebenfalls vorhanden, was zu einem höheren GdB führen müsse. Er führte aus, dass er wegen des Beins und der Schmerzen seit einiger Zeit in Behandlung sei, es würden Lymphdrainagen gemacht. Dies führe zu einer Besserung der Symptomatik. Nach Einschätzung der Kammer ist der GdB unter Berücksichtigung der objektivierbaren Beschwerden des Klägers mit 50 zutreffend bewertet. Die mit der Entfernung des Tumors verbundene Entnahme gesunden Muskelgewebes ist bei der Bewertung des GdB bereits hinreichend berücksichtigt. Erhebliche darüber hinausgehende Beeinträchtigungen sind nicht objektiviert. Insbesondere Auswirkungen im Gangbild ließen sich nicht feststellen. Soweit der Kläger Schmerzen und Verkrampfungen angibt, konnte diese der Gutachter nicht objektivieren. Die vom Kläger geschilderte besondere Schwierigkeit im beruflichen Alltag führen nicht im Sinne eines "besonderen beruflichen Betroffenseins" zur Annahme eines höheren GdB, Teil A Ziffer 2 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze.

2. Der GdB für die Zuckerkrankheit ist gemäß Teil B Ziffer 15.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in der Fassung der Zweiten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (2. VersMedVÄndV) vom 14.07.2010 (BGBl. I, 928) mit 30 zu bewerten.

Nach dieser Vorschrift gilt:

Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie regelhaft keine Hypoglykämie auslösen kann und die somit in der Lebensführung kaum beeinträchtigt sind, erleiden auch durch den Therapieaufwand keine Teilhabebeeinträchtigung, die die Feststellung eines GdS rechtfertigt. Der GdS beträgt 0. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann und die durch Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden durch den Therapieaufwand eine signifikante Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 20. Die an Diabetes erkrankten Menschen, deren Therapie eine Hypoglykämie auslösen kann, die mindestens einmal täglich eine dokumentierte Überprüfung des Blutzuckers selbst durchführen müssen und durch weitere Einschnitte in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden je nach Ausmaß des Therapieaufwands und der Güte der Stoffwechseleinstellung eine stärkere Teilhabebeeinträchtigung. Der GdS beträgt 30 bis 40. Die an Diabetes erkrankten Menschen, die eine Insulintherapie mit täglich mindestens vier Insulininjektionen durchführen, wobei die Insulindosis in Abhängigkeit vom aktuellen Blutzucker, der folgenden Mahlzeit und der körperlichen Belastung selbstständig variiert werden muss, und durch erhebliche Einschnitte gravierend in der Lebensführung beeinträchtigt sind, erleiden auf Grund dieses Therapieaufwands eine ausgeprägte Teilhabebeeinträchtigung. Die Blutzuckerselbstmessungen und Insulindosen (beziehungsweise Insulingaben über die Insulinpumpe) müssen dokumentiert sein. Der GdS beträgt 50. Außergewöhnlich schwer regulierbare Stoffwechsellagen können jeweils höhere GdS-Werte bedingen.

Soweit der Normtext auf den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) Bezug nimmt gilt er gemäß Teil A Ziffer 2 lit. a) für die Bemessung des GdB entsprechend (vgl. auch BSG Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R = juris Rn. 33 ff.)

Der Kläger leidet seit Längerem unter einem Diabetes mellitus. Dieser wurde zunächst mit einer intensivierten Insulintherapie behandelt. Diese hatte nach Darstellung des Klägers u.a. eine Gewichtszunahme zur Folge. Sein behandelnder Arzt habe die Therapie zwischenzeitlich umgestellt. Er spritze nunmehr morgens 1,2 mg Victoza® subkutan und nehme darüber hinaus morgens und abends Metformin 1000. Bei Victoza® handelt es sich um eine Injektionslösung, die den Wirkstoff Liraglutid enthält und wird zusammen mit Metformin oder einem Sulfonylharnstoff bei Patienten angewendet, deren Glukosespiegel mit der höchstmöglichen Dosis Metformin oder eines Sulfonylharnstoffs allein nicht zufriedenstellend kontrolliert werden kann. Bei der Verwendung von Victoza® in Verbindung mit Metformin ist eine häufige Nebenwirkung die Unterzuckerung (vgl. zu alledem Zusammenfassung der European Medicines Agency für die Öffentlichkeit zu Victoza®, abrufbar unter http://www.ema.europa.eu/docs/de DE/ document library/EPAR - Summaryforthepublic/human/001026/WC500050013.pdf; Arzneimittelinformationen Victoza®).

Es handelt sich bei der Therapieform des Klägers somit um eine solche, die Hypoglykämien auslösen kann. Tägliche eigene Blutzuckerkontrollen führt der Kläger nicht durch. Damit unterfällt der Kläger der oben genannten zweiten Gruppe, weswegen der GdB an sich mit 20 zutreffend bewertet wäre. Der Gutachter hat aber Hinweise auf eine beginnende, gering ausgeprägte Polyneuropathie festgestellt. Der Kläger gibt überdies an, er leide unter plötzlichem heftigen Harndrang, starken Schweißausbrüchen und schlechter, bzw. variierender Sehschärfe. Eine Objektivierung dieser geschilderten Symptome findet sich in den vorliegenden Arzt- und Befundberichten jedoch nicht. Insbesondere hat der Kläger nicht angegeben etwa in augenärztlicher Behandlung zu sein. Selbst wenn, was nicht bewiesen ist, der Kläger bedingt durch den Diabetes oder dessen Therapie unter den beschriebenen Symptomen litte, so wäre hier ein GdB von 30 nach obigen Ausführungen weiter angemessen. Ein höherer GdB kommt nach Auffassung der Kammer nicht in Betracht.

3. Der Verlust des linken Hodens ist – unter Berücksichtigung der vom Kläger ebenfalls beschriebenen beginnenden Impotentia coeundi – nach Teil B Ziffer 13.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem GdB von 10 in Ansatz zu bringen.

4. Der Kläger leidet unter einem rezidivierenden Wirbelsäulensyndrom bei statisch degenerativen Wirbelsäulenveränderungen. Dies steht für die Kammer aufgrund der in der Verwaltungsakte vorliegenden Arzt- und Befundberichte sowie den Feststellungen des Gutachters im Rahmen seiner Untersuchung fest. Die Streckung und Beugung des Kopfes wurde vom Gutachter nach der Neutral-Null-Methode mit 40/0/40, die Drehung mit 60°/0°/60° und die Seitenneigung mit 30°/0°/30° ermittelt. Diese Werte sind weitgehend altersentsprechend und normgerecht (vgl. dazu etwa Schünke, Topographie und Funktion des Bewegungssystems, 2000, S. 148 ff.). Für den Bereich der Lenden- und Brustwirbelsäule hat der Gutachter einen Finger-Boden-Abstand von 10 cm ermittelt. Das Schober-Maß wurde mit 10/16 cm gemessen (vgl. zu den Werten nach Schober Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Die Rotation des Rumpfes bei feststehendem Becken gelang beidseits beim Kläger mit 40°. Der Muskeltonus wird insgesamt als normal beschrieben. Der Langsitz auf der Liege war ohne erkennbare schmerzbedingte Ausweichbewegungen möglich. Hierbei flacht sich die Lordose der Lendenwirbelsäule nach den Feststellungen des Gutachters deutlich ab. Das Zeichen nach Lasègue ist beidseits negativ. Die Wirbelsäule weist eine Seitenausbiegung auf. Die jedoch nicht als deutlich zu klassifizieren ist. Insgesamt ist hier von leichten funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt auszugehen, welche nach Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen GdB von 10 bedingen.

5. Der Gutachter beschreibt beim Kläger, dass eine deutliche Krampfaderbildung nicht auffällt. Krampfadern liegen damit, wenngleich auch nach Einschätzung des Gutachters nicht deutlich, vor. Diese sind gemäß Teil B Ziffer 9.2.3 als unkomplizierte Krampfadern mit einem GdB von höchstens 10 in Ansatz zu bringen. Durch die vorgenommenen Lymphdrainagen kommt es nach Darstellung des Klägers auch insoweit zu einer Besserung.

Auf der Grundlage der genannten Einzel-GdB-Werte ist bei dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden.

§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).

Im vorliegenden Fall bestehen vor die mit der Entfernung des Weichteiltumors einhergehenden Beeinträchtigungen mit einem GdB von 50 im Vordergrund. Daneben ist erhöhend der GdB für den Diabetes zu berücksichtigen. Die übrigen Beeinträchtigungen, sofern sie entsprechend den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, nehmen in der Regel an der Bildung des Gesamt-GdB nicht teil Ausnahmen, die im vorliegenden Fall eine Berücksichtigung gleichwohl erforderlich machten, liegen nicht vor. Insgesamt ist der GdB des Klägers daher mit 60 zu bewerten. Die Feststellung eines höheren GdB kommt nach Auffassung der Kammer beim Kläger derzeit nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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