L 5 KR 58/11

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 8 KR 214/08
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 58/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Wenn eine Behörde ein Mitverschulden an einer rechtswidrigen Leistungsgewährung trifft, liegt ein sogenannter atypischer Fall vor, der bei der Aufhebung des Verwaltungsakts nach § 48 SGB X die Ausübung von Ermessen erfordert. Das gilt auch, wenn nicht die aufhebende Behörde, sondern eine andere Behörde dieses Verschulden trifft.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 18. Januar 2011 geändert. Der Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2008 wird betreffend die Zuschüsse zur Krankenversicherung/Pflegeversicherung und der Rückforderung über 5.302,50 EUR aufgehoben. Die Berufung wird im Übrigen zurückgewiesen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin für beide Instanzen zur Hälfte zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen. &8195;

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklage Pflichtbeiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung nachfordern sowie überzahlte Zuschüsse zu den Aufwendungen für die freiwillige Krankenversicherung und Pflegeversicherung zurückfordern durfte.

Die 1930 geborene Klägerin bezieht von der Beklagten eine Altersrente und aufgrund des Todes ihres Ehemanns 2007 darüber hinaus eine Witwenrente.

Mit Schreiben vom 19. November 2007 teilte die B E (B ) der Klägerin mit, dass bei dieser bis zum 31. März 2002 die Voraussetzungen für eine Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner wegen langjähriger freiwilliger Versicherung nicht erfüllt gewesen seien. Im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. März 2000 erfolge jedoch für die Zeit ab dem 1. April 2002 die Pflichtversicherung in der Krankenversicherung der Rentner. Im Rahmen dieser Versicherung seien von der Klägerin Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu zahlen, die der Rentenversicherungsträger direkt einbehalten müsse. Hierzu benötige dieser aber eine entsprechende Änderungsmitteilung der Krankenkasse. Durch ein Versäumnis der Kasse sei eine derartige Meldung nicht erfolgt. Die hierfür maßgeblichen Gründe seien nicht mehr nachvollziehbar. Aufgrund dieser fehlenden Änderungsmeldung seien Beiträge nicht abgeführt worden. Die erforderliche Meldung sei jetzt im November 2007 nachgeholt worden. Für das Jahr 2002 erfolge keine Beitragserhebung, da die Beiträge bereits verjährt seien. Es sei bedauerlich, dass es nun zu einer Nachforderung des Rentenversicherungsträgers kommen werde. Hierfür entschuldige sich die B ausdrücklich.

Die Änderung des Versicherungsverhältnisses wegen der von der B genannten Gründe erfolgte zunächst durch Bescheid der Beklagten vom 22. No¬vember 2007. In der Anlage 10 dieses Bescheides befindet sich ein Anhörungsschreiben, wonach der Zuschuss zur Krankenversicherung nach § 106 Abs. 1 SGB VI und der Zuschuss zur Pflegeversicherung nach § 106a SGB VI zu Unrecht gewährt worden sei, da die Klägerin bereits ab dem 1. April 2002 der Versicherungspflicht in der Kranken- und Pflegeversicherung unterläge. Es sei daher beabsichtigt, den Bescheid vom 6. Oktober 1998 ab Änderung der Verhältnisse, also mit Wirkung ab dem 1. April 2002, nach § 48 SGB X aufzuheben und die für die Zeit vom 1. April 2002 bis zum 31. Dezember 2007 überzahlten Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 5.302,50 EUR nach § 50 Abs. 1 SGB X zurückzufordern.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein.

Mit weiterem Bescheid vom 15. Januar 2008 wurde der Rückforderungsbetrag in Höhe von 5.302,50 EUR bestätigt. Darüber hinaus wurden die Eigenbeteiligungen zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 5.709,81 EUR nachgefordert. Dieser Betrag wurde aufgrund einer Nachzahlung von 955,80 EUR reduziert, sodass sich bezüglich der Eigenbeteiligungen ein Nachforderungsbetrag in Höhe von 4.754,01 EUR ergab. Die Gesamtforderung aus Zuschuss und Eigenbeteiligung betrug 10.056,51 EUR. Mit Schreiben vom 30. Januar 2008 teilte die Beklagte der Klägerin erläuternd mit, dass mit dem Eintritt der Versicherungspflicht nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB VI gleichzeitig der Anspruch auf Beitragszuschuss zur freiwilligen Krankenversicherung entfalle. Dies gelte für den bis 31. März 2004 gezahlten Zuschuss zur Pflegeversicherung im Rahmen des § 106a SGB VI entsprechend. Die Zahlung des Zuschusses sei ausgeschlossen, wenn der Rentner der Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 1 SGB XI unterliege. Wegen einer rückwirkenden Korrektur des Kranken- und Pflegeversicherungsverhältnisses ergäben sich folglich immer zwei voneinander getrennt zu betrachtende Forderungsbeträge. Die Summe der einzubehaltenden Eigenanteile an den Aufwendungen zur Kranken- und Pflegeversicherung aufgrund der bestehenden Versicherungspflicht belaufe sich im vorliegenden Fall auf 5.709,81 EUR für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis zum 31. Dezember 2007. Der Zeitraum begänne erst am 1. Januar 2003, obwohl die maßgebende Krankenversicherungspflicht bereits am 1. April 2002 eingetreten sei. Der Grund hierfür sei Verjährung, die jedoch nur in Bezug auf die einzubehaltenden Eigenanteile eingetreten sei. Die Summe der in der Zeit vom 1. April 2002 bis 31. Dezember 2007 zu Unrecht gezahlten Beitragszuschüsse zu den Aufwendungen für die freiwillige Krankenversicherung aufgrund der nicht mehr bestehenden freiwilligen Krankenversicherung belaufe sich auf 5.302,50 EUR. Insgesamt sei daher ein Nach- bzw. Rückforderungsanspruch in Höhe von 11.012,31 EUR entstanden, der sich um die vorgenommene Verrechnung mit der Nachzahlung aus der Witwenrente in Höhe von 955,80 EUR auf 10.056,51 EUR vermindert habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2008 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Einwand der Klägerin, dass sich für sie zum 1. April 2002 nichts geändert habe und sie daher den Wechsel von der freiwilligen Versicherung zur Versicherungspflicht nicht bemerkt habe, könne nicht als plausibel angesehen werden. Nach Aktenlage habe die Klägerin zu Beginn des Kalenderjahres 2002 freiwillige Beiträge zur Krankenversicherung und zur Pflegeversicherung in Höhe von monatlich ca. 250,00 EUR selbst an die B abgeführt. Ab dem 1. April 2002 seien keine freiwilligen Beiträge mehr von der Klägern zu leisten gewesen, anderweitige Beiträge seien ebenfalls nicht gezahlt worden. Selbst wenn die Klägerin keinen entsprechenden Bescheid von der B erhalten habe, hätte ihr zwangsläufig auffallen müssen, dass sie keine Beiträge mehr zur Kranken- und Pflegeversicherung geleistet habe. Mithin habe die Klägerin das Unterbleiben einer Beitragsabführung sowie die Überzahlung der Beitragszuschüsse billigend in Kauf genommen.

Hiergegen hat die Klägerin am 14. Mai 2008 Klage vor dem Sozialgericht Lübeck erhoben und geltend gemacht, ihr sei nicht aufgefallen, dass sie ab dem 1. April 2002 keine Beiträge mehr abgeführt habe. Es habe auch keine Hinweise seitens der Krankenkasse oder der Beklagten gegeben.

Die Klägerin hat beantragt,

die Bescheide der Beklagten vom 22. November 2007 und vom 15. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2008 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Voraussetzungen nach § 48 SGB X hier erfüllt seien. Gerade der Hinweis, dass die ab dem 1. April 2002 nicht mehr erfolgte Beitragszahlung für die freiwillige Versicherung der Klägerin habe zwangsläufig auffallen müssen, unterstreiche nochmals, dass auf jeden Fall eine qualifizierte Bösgläubigkeit im Sinne einer grob fahrlässigen Unkenntnis gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X vorliege. Darüber hinaus stehe fest, dass die Klägerin seit dem 1. April 2002 pflichtversichert gewesen sei und tatsächlich außerdem keine freiwilligen Versicherungsbeiträge mehr an ihre Krankenkasse gezahlt habe. Bei vernünftiger Betrachtungsweise dränge sich auch für einen Laien auf, dass für den Erhalt von Zuschüssen des Rentenversicherungsträgers für Beitragszahlungen zur freiwilligen Versicherung keine Grundlage mehr bestehe, wenn diese tatsächlich nicht mehr er-bracht würden. Die Klägerin könne sich dabei auch nicht darauf berufen, nicht gewusst zu haben, dass sie seit dem 1. April 2002 pflichtversichert gewesen sei. Zum einen sei wiederum darauf zu verweisen, dass sie keine Beiträge zur freiwilligen Versicherung mehr entrichtet habe, wie sie es zuvor über mehrere Jahre getan habe. Damit habe die Klägerin schon durch ihr eigenes Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass sich auch aus ihrer Sicht offenbar etwas am bisherigen Krankenversicherungsverhältnis verändert habe. Andernfalls hätte sie die freiwillige Beitragszahlung wieder aufnehmen bzw. fortführen müssen. Zum anderen sei nicht glaubhaft, dass die Klägerin in der Zeit vom 1. April 2002 bis zur Erteilung der Bescheide vom 22. No¬vember 2007 und 15. Januar 2008 keine Klarheit über ihr Krankenversicherungsverhältnis habe erhalten können, denn es sei unwahrscheinlich, dass sie in diesem Zeitraum nicht wenigstens einmal bei einem Arzt gewesen sei. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte ihr auffallen müssen, dass sie offensichtlich pflichtversichert und eben nicht freiwillig versichert gewesen sei. Zumindest habe die Klägerin erkennen können, dass Änderungen am Versicherungsverhältnis eingetreten seien, die angesichts des weiterlaufenden Bezugs des Zuschusses durch die Beklagte Anlass für eine Rückfrage bei der Krankenkasse bzw. beim Rentenversicherungsträger hätte geben müssen. Eine Mitteilung an die Beklagte über die Änderung im Versicherungsverhältnis sei jedoch nicht erfolgt, obwohl die Klägerin im Antrag auf Beitragszuschuss unterschrieben habe, dass sie jede Änderung mitzuteilen habe. Es sei nicht zu erkennen, dass der Sachverhalt vom Regelfall signifikant abweiche, sodass hier Raum auf Ermessen eröffnet gewesen sei.

Mit Urteil vom 18. Januar 2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Gemäß § 255 Abs. 2 SGB V seien rückständige Beiträge durch den Träger der Rentenversicherung aus der weiterhin zu zahlenden Rente einzubehalten, wenn bei der Zahlung der Rente die Einbehaltung von Beiträgen unterblieben sei. Mithin bestehe die Pflicht zur nachträglichen Einbehaltung von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen unabhängig von der Schuldfrage. Selbst wenn der Rentenversicherungsträger den Beitragseinbehalt zunächst schuldhaft unterlassen habe, berühre dies grundsätzlich nicht die Pflicht zur Nachforderung von Beiträgen. Bezüglich der Nachforderung der überzahlten Zuschüsse gehe das Sozialgericht im Einklang mit der Beklagten von dem Vorliegen einer der Voraussetzungen des § 48 SGB X aus und folge insofern der Begründung der angefochtenen Bescheide der Beklagten.

Gegen dieses den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 10. Mai 2011 zugestellte Urteil richtet sich ihre Berufung, die am 7. Juni 2011 bei dem Schleswig-Holsteini¬schen Landessozialgericht eingegangen ist. Die Klägerin ist der Auffassung, dass ein Versäumnis der Krankenkasse nicht dazu führen könne, von der Beklagten im Nachhinein belastet zu werden. Damit die rückständigen Beiträge durch die Beklagte einzubehalten wären, müssten diese zunächst einmal an die Krankenkasse abgeführt worden sein. Dies sei bislang nicht geschehen. Weiterhin macht die Klägerin geltend, dass das Sozialgericht den Rückforderungsanspruch hinsichtlich der von der Beklagten gezahlten Zuschüsse zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung zu Unrecht auf § 48 SGB X gestützt habe. Zum einen habe das Sozialgericht dies nicht näher begründet. Zum anderen könne der Klägerin kein vorwerfbares Verhalten zur Last gelegt werden. Keiner der Tatbestände des § 48 SGB X sei hier erfüllt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 18. Januar 2011 sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. November 2007 und 15. Januar 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. In den §§ 255 Abs. 2 SGB V, 60 SGB XI werde nicht verlangt, dass sie die Beiträge, die sie nach diesen Vorschriften einbehalten solle, schon vorab an die Krankenkasse/Pflegekasse ausgezahlt haben müsse.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten der Beklagten. Diese haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; sie ist jedoch nur zum Teil begründet.

Es handelt sich hier um zwei voneinander getrennt zu betrachtende Streitgegenstände: Zum einen geht es um die Nachforderung der Eigenbeteiligung zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 4.754,01 EUR, zum anderen um die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beitragszuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 5.302,50 EUR. Die materielle Richtigkeit der Forderungen der Beklagten ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig. Es geht allein darum, ob die besonderen Voraussetzungen für Nach- bzw. Rückforderungen vorliegen, insbesondere ob Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes entgegenstehen.

Soweit die von der Klägerin angefochtenen Bescheide der Beklagten die Eigenbeteiligung zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung nachfordern, sind sie nicht zu beanstanden. Deshalb ist das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts insoweit zu Recht ergangen.

Die am 1. April 2002 eingetretene Krankenversicherungspflicht hat zur Folge, dass von der Rente entsprechende Beiträge bzw. Beitragsanteile zur Kranken- und Pflegeversicherung nach § 255 Abs. 2 SGB V in Verbindung mit § 60 SGB XI einzubehalten sind. Die Pflicht zur nachträglichen Einbehaltung besteht unabhängig von der Schuldfrage hinsichtlich der in der Vergangenheit unterbliebenen Einbehaltung. Selbst wenn die Beklagte den Beitragseinbehalt zunächst schuldhaft unterlassen hätte, berührt dies ihre grundsätzliche Berechtigung zur Nachforderung der Beiträge nicht (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. September 1989, 12 RK 9/89). Die Nacherhebung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung unterliegt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (a. a. O.) auch nicht den Einschränkungen des SGB X für die Rücknahme oder Änderung von Rentenbescheiden, da es sich hierbei nicht um die Herabsetzung der früher – ohne Abzug entsprechender Beiträge – ausgezahlten Rente handelt. Vielmehr liegt hier eine nachträgliche Erhebung der Beiträge durch Einbehalt von der laufenden Rente vor. Die Rente selbst sowie ihre Rechnungselemente werden davon nicht berührt. Das hat zur Folge, dass hier die in den §§ 45, 48 SGB X enthaltenen Grundsätze zum Vertrauensschutz des Rentenempfängers keine Anwendung finden. Insoweit ist auch ein teilweiser Verzicht auf die Nachforderung entsprechender Beitragsanteile durch die Beklagte ausgeschlossen. Sie ist insoweit lediglich gehalten, die Nachforderung sozial verträglich durchzuführen und soziale Härten zu vermeiden. Die rückständigen Beitragsanteile sind daher dann nicht aus der laufenden Rente einzubehalten, wenn dies für die Klägerin zur Sozialhilfebedürftigkeit führen würde. Dies wäre jedoch von ihr nachzuweisen, was nicht geschehen ist. Die von der Beklagten rückwirkend einzubehaltenden Beitragsanteile wurden der Höhe nach zutreffend festgestellt. Dies wird auch von der Klägerin nicht in Frage gestellt. Insbesondere hat die Beklagte beachtet, dass für den Zeitraum vom 1. April 2002 bis zum 31. Dezember 2002 gemäß § 25 SGB IV Verjährung eingetreten ist. Der Einwand der Klägerin, die Beklagte dürfe die rückständigen Beiträge erst einbehalten, wenn sie diese zuvor an die Krankenkasse/Pflegekasse abgeführt habe, greift nicht durch. Eine entsprechende Verpflichtung lässt sich §§ 255 Abs. 2 SGB V, 60 SGB XI nicht entnehmen.

Hinsichtlich der Rückforderung zu Unrecht gezahlter Beitragszuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung sind die Bescheide der Beklagten rechtswidrig und daher ebenso wie das sie bestätigende Urteil des Sozialgerichts auf die Anfechtungsklage der Klägerin hin (§ 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –) aufzuheben.

Mit dem Eintritt der Versicherungspflicht der Klägerin entfällt nach § 106 Abs. 1 Satz 2 SGB VI gleichzeitig der Anspruch auf Beitragszuschuss zur freiwilligen Krankenversicherung. Dies gilt für den bis 31. März 2004 gezahlten Zuschuss zur Pflegeversicherung im Rahmen des § 106a SGB VI entsprechend. Die Zahlung des Zuschusses zur Pflegeversicherung ist ausgeschlossen, wenn der Rentner der Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung nach § 20 Abs. 1 SGB XI unterliegt. Deshalb besteht kein Zweifel daran, dass die Zuschüsse ab 1. April 2002 zu Unrecht an die Klägerin gezahlt wurden. Die Rückforderung dieser Zuschüsse ist nur nach Maßgabe der Grundsätze des SGB X für die Rücknahme oder Änderung von Bescheiden – hier nach dem allein in Betracht kommenden § 48 SGB X – möglich. Danach (Abs. 1) ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden soweit

1. die Änderung zu Gunsten des Betroffenen erfolgt, 2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist, 3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde oder 4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Hier liegen die Voraussetzungen der Nrn. 2 und 4 der Norm vor. Die jeweilige Voraussetzung ("Bösgläubigkeit") liegt im Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse vor, wenn der Betroffene umfassend und rechtzeitig über seine Pflichten, die Anspruchsvoraussetzungen, Wegfallgründe oder die Auswirkungen von Nichtleistungsvorschriften unterrichtet worden ist. Davon ist hier auszugehen, da die Klägerin in ihren Anträgen auf Beitragszuschuss vom 22. April 1993 bzw. 26. August 1993 bestätigt hat, dass sie von der gesetzlichen Verpflichtung zur unverzüglichen Mitteilung jeder Änderung in ihrem Krankenversicherungsverhältnis an die Beklagte Kenntnis genommen hat. Zudem ist die Klägerin im Bescheid über die Zuschussbewilligung sowie in den Rentenanpassungsmitteilungen deutlich und in verständlicher Form darauf hingewiesen worden, dass der Beitragszuschuss unter bestimmten Voraussetzungen entfällt und sie verpflichtet ist, solche für den Empfang des Zuschusses wesentlichen Umstände (wie beispielsweise den Eintritt von Versicherungspflicht in der Krankenversicherung) der Beklagten mitzuteilen. Diesen Pflichten ist die Klägerin nicht nachgekommen. Die Beklagte wurde erst durch eine Meldung der B im Zuge des Antragsverfahrens zur Witwenrente (Juli 2007) davon informiert, dass ab 1. April 2002 eine Pflichtversicherung vorliegt.

Der Senat teilt insoweit auch die Auffassung der Beklagten, dass die Klägerin ihrer Mitteilungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen ist (im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X) und dass sie die Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB X). Liegen mithin – wie hier – die tatbestandlichen Voraussetzungen einer oder mehrerer Alternativen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X vor, so "soll" der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden. In der Regel besteht damit eine Verpflichtung auch zur rückwirkenden Aufhebung, wenn nicht ein atypischer Fall gegeben ist, der die Ausübung von Ermessen erforderlich macht. Dabei ist die Entscheidung, ob ein atypischer Fall vorliegt, nicht Teil der Ermessensentscheidung, sondern dieser vorgelagert und damit von den Gerichten in vollem Umfang nachprüfbar. Wurde von der Behörde angenommen, dass kein atypischer Fall vorliegt und deshalb kein Ermessen ausgeübt, ist der Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufzuheben, wenn die gerichtliche Prüfung ergibt, dass ein atypischer Fall gegeben und das Ermessen nicht auf Null reduziert ist (ständige Rechtsprechung des BSG, siehe Nachweise bei Mertens in Hauck/Noftz, SGB X, K§ 48 Rdn. 68).

Von einem atypischen Fall ist regelmäßig dann auszugehen, wenn die Behörde ein Mitverschulden an der rechtswidrigen Leistungsgewährung trifft (vgl. Schütze in von Wulffen SGB X, § 48 Rdn. 21 m. w. N.). Diese Rechtslage hat die Beklagte offenbar erkannt, da sie im Widerspruchsbescheid ausgeführt hat, dass sich kein (Mit-)Ver-schulden bei ihr feststellen lasse. Dies trifft zwar zu, lässt aber unberücksichtigt, dass hier ein Verschulden der B vorliegt, indem diese die Änderung im Krankenversicherungsverhältnis der Klägerin der Beklagten nicht mitgeteilt hat. Die B hat dieses Verschulden, dessen Hintergründe sich nicht mehr aufklären lassen, selbst gegenüber der Klägerin im Schreiben vom 19. November 2007 eingeräumt. Dieses Verschulden der B begründet einen atypischen Fall, da sie in den Beitragseinzug als für die Kranken- und Pflegeversicherung zuständiger Sozialversicherungsträger mit eingebunden ist. Bei der Subsumtion unter den Tatbestand "atypischer Fall" müssen alle in der Sphäre der Beklagten liegenden Gründe berücksichtigt werden, die zu dem unrichtigen Verwaltungshandeln beigetragen haben. Grundsätzlich stellt auch ein (Mit-)Verschulden eines Sozialversicherungsträgers an der Gewährung einer rechtswidrigen Leistung eines anderen Sozialversicherungsträgers einen atypischen Fall dar, weil eine Behörde im Regelfall eben typischerweise pflichtgemäß und nicht schuldhaft handelt. Da die unterbliebene Mitteilung der B im Regelfall (also typischerweise) zeitnah erfolgt, liegt eine atypische Situation vor. Das im Regelfall funktionierende Zusammenwirken zweier Sozialversicherungsträger hat hier versagt. Das Verschulden der B wirkt sich mithin zu Lasten der Beklagten aus (vgl. den gleichen Rechtsgedanken beim sog. sozialrechtlichen Herstellungsanspruch, wonach der Beratungsfehler eines Sozialversicherungsträgers einem anderen Sozialversicherungsträger zugerechnet wird – ständige Rechtsprechung des BSG, z. B. Urteil vom 6. Mai 2010, B 13 R 44/09 R m. w. N.).

Der unterlassenen Mitteilung von Seiten der Klägerin und der stillschweigenden Entgegennahme einer Leistung, deren Rechtswidrigkeit die Klägerin ohne Weiteres hätte erkennen können, steht das Versäumnis der B gegenüber, ohne das es trotz des Verschuldens der Klägerin nicht zur rechtswidrigen Leistung gekommen wäre. Wie es zu dem Versäumnis kommen konnte und wie schwer dieses wiegt, konnte bei der B nicht mehr aufgeklärt werden. Es ist aber davon auszugehen, dass die Abläufe bei der B so organisiert sind, dass eine einfache Fahrlässigkeit eines Einzelnen nicht dazu führen kann, dass die Mitteilung unterbleibt. Bei einer besonderen Nachlässigkeit der Behörde im Sinne grober Fahrlässigkeit muss jedenfalls von einem atypischen Fall ausgegangen werden (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 1986, L 7 RAr 126/84).

Im Ergebnis liegt mithin ein atypischer Fall vor, der zur Ausübung des Ermessens zwingt. Ermessen hat die Beklagte, wie sie selbst einräumt, nicht ausgeübt. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist auch nicht anzunehmen. Hieran könnte man nur bei vorsätzlichem Handeln der Klägerin denken. Dies ist jedoch nicht nachzuweisen. Auch die Beklagte geht hiervon nicht aus. Der Ermessensfehlgebrauch der Beklagten im Sinne eines Nichtgebrauchs führt zur Rechtswidrigkeit der Bescheide, die dann auf die Anfechtungsklage hin aufzuheben sind.

Deshalb hat die Berufung der Klägerin, soweit sie die Rückforderung der Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von 5.302,50 EUR durch die Beklagte betrifft, Erfolg.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 und 4 SGG und berücksichtigt angemessen den Erfolg der Klage.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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