S 1 KR 705/10

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
SG Lübeck (SHS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 1 KR 705/10
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Das Telefonieren gehört zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens.
Das Urteil des BSG vom 22.05.1984 8 RK 33/83 ist insoweit überholt.
Ein Telefon für Schwerhörige mit Hörerverstärker gehört zu den allgemeinen Gebrauchsgegenständen des
täglichen Lebens.
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Der Streitwert wird auf 149 Euro festgesetzt. Die Berufung wird nicht zugelassen. &8195;

Tatbestand:

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Erstattung der aufgewendeten Kosten für ein Hilfsmittel.

Die am 1954 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet seit vielen Jahren unter einer hochgradigen Schwerhörigkeit beiderseits. Sie ist mit Hörgeräten beiderseits versorgt. Am 4. April 2009 beantragte die Versicherte sowohl bei dem Kläger als auch bei dem Beklagten die Übernahme der Kosten für ein Hörgerätetelefon. Nach einem Kostenvoranschlag der Firma Hörgeräte sollte dieses Telefon der Firma 149 Euro kosten.

Mit Bescheid vom 14. April 2009 lehnte die Beklagte gegenüber der Versicherten die Kostenübernahme mit der Begründung ab, Telefone seien Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und begründeten keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung.

Dagegen erhob die Versicherte am 17. April 2009 Widerspruch mit der Begründung, sie könne ein Hörgerätetelefon als einziges Kommunikationsmittel nutzen und ein normales Telefon sei nicht ausreichend. Die Beklagte holte eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) ein (28. April 2009), der bestätigte, dass es sich um einen allgemeinen täglichen Gebrauchsgegenstand handele.

Der Kläger wiederum teilte der Versicherten mit Schreiben vom 28. April 2009 mit, die Ablehnung der Beklagten sei mit der neueren Rechtsprechung nicht mehr vereinbar. In den Entscheidungen des Sozialgerichts Dresden und Stade sei das Telefonieren als Grundbedürfnis im Bereich der Kommunikation anerkannt worden, so dass die Krankenkasse zum Ausgleich einer Behinderung Hilfsmittel bereitstellen müssten.

Mit Bescheid vom 25. Mai 2009 bewilligte der Kläger der Versicherten eine einmalige Beihilfe für den Erwerb eines Hörgerätetelefons in Höhe von 149 Euro. Mit Schreiben vom selben Tag begehrte der Kläger die Erstattung dieser Kosten gemäß § 102 SGB X bei der Beklagten. Mit Schreiben vom 17. Juni 2009 lehnte die Beklagte dem Kläger gegenüber die Übernahme der Kosten ab und verwies ihrerseits auf ein Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 30. April 2008. Nachdem der Kläger letztmalig am 28. Januar 2010 die Kostenerstattung gegenüber der Beklagten unter Fristsetzung und Hinweis auf deren Leistungspflicht nach § 33 Sozialgesetzbuch 5. Buch – SGB 5 - erfolglos geltend gemacht hatte, ist dieser Anspruch unter dem 29. Juni 2010 bei dem Sozialgericht Lübeck anhängig gemacht worden.

Der Kläger macht geltend, nach einer ärztlichen Bescheinigung sei die Versicherte auf die Nutzung des speziellen Hörgerätetelefons angewiesen. Telefonieren sei durchgängig als allgemeines Grundbedürfnis im Bereich der Kommunikation/Information anerkannt worden. Zwar habe das BSG in seinem Urteil vom 22. Mai 1984 – 8 RK 33/83 die Versorgung mit einem Verstärkertelefon für Schwerhörige mit der Begründung abgelehnt, dass die Benutzung des Telefons nicht den allgemeinen Lebensbetätigungen zuzurechnen sei. Gegenüber dem Zeitpunkt dieser Entscheidung hätten sich die Verhältnisse jedoch wesentlich geändert. Inzwischen verfügten 97 % aller Haushalte über einen Festnetzanschluss und 78 % über einen Mobiltelefonanschluss (Statistisches Bundesamt 2005). Faktisch telefoniere somit jeder Haushalt, so dass Telefonieren nunmehr zu den kommunikativen Grundbedürfnissen zähle. Sämtliche Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V seien somit gegeben. Der Erstattungsanspruch richte sich aufgrund des institutionellen Nachranges der Sozialhilfe nach § 104 Abs. 1 SGB X. Auch die Voraussetzungen des Erstattungsanspruches lägen vor.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von 149 Euro zu erstatten und diesen gemäß § 108 Abs 2 SGB X zu verzinsen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wendet ein, dass Telefonieren bzw. der Besitz eines Telefons zähle heute zwar zum normalen Lebensstandard und sei ein Ausdruck des inzwischen erlangten allgemeinen Wohlstandniveaus, doch gehöre es nicht zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, den Besitz eines Telefons oder dessen Benutzung für Behinderte zu ermöglichen. Nach den Ausführungen des BSG gehöre Telefonieren nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens. Im Übrigen sei das Telefon als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen und sei im Personenkreis der älteren Telefonnutzer häufig in der Nutzung. Wegen des weiteren Schriftwechsels zwischen den Beteiligten wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Diese haben sich am 28. Februar und 15. März 2011 ausdrücklich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid einverstanden erklärt.

Zum Entscheidungszeitpunkt haben die Gerichts- und die Verwaltungsakten vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet. Denn der Kläger hat keinen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X, weil die bei der Beklagten Versicherte keinen Anspruch auf die Versorgung mit einem Telefon für Schwerhörige nach § 33 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) hat.

Nach § 102 Abs 2 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein Leistungsträger aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Eine Vorläufigkeit der Beihilfe für das Hörgerätetelefon ist aus dem Bescheid des Klägers vom 25. Mai 2009 allerdings nicht ersichtlich. Darüber hinaus scheitert der Erstattungsanspruch daran, dass die Beklagte nicht zur Erstattung verpflichtet ist, denn ein Anspruch der Versicherten auf die Versorgung mit einem Hörgerätetelefon besteht nicht.

Gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 5. Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen sind oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Gemäß § 34 Abs. 4 SGB V kann das Bundesministerium für Gesundheit durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates Heil- und Hilfsmittel von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis bestimmen, deren Kosten die Krankenkasse nicht übernimmt. Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor.

Beim Hilfsmittel wird nur die Hilfe geschuldet, die unmittelbar auf die Behinderung selbst gerichtet ist, nicht die Hilfe, die bei ihren Folgen auf beruflichem, gesellschaftlichem und privatem Gebiet ansetzen (Wagner in Krauskopf, gesetzliche Krankenversicherung, § 33 Rn 4). Das Hilfsmittel muss also zum Ausgleich eines Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein. Die Förderung der Selbstbestimmung des behinderten Menschen und seiner gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft durch Versorgung mit Hilfsmitteln fällt danach nur dann in die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie die Auswirkungen der Behinderungen nicht nur einem bestimmten Lebensbereich (Beruf/Gesellschaft/Freizeit), sondern im gesamten täglichen Leben ("allgemein") beseitigt oder mildert und damit ein "Grundbedürfnis des täglichen Lebens" betrifft (BSG, SozR3-2500 § 33 Nr. 45 ).

Ein Hilfsmittel ist dann erforderlich, wenn sein Einsatz zur Lebensbetätigung im Rahmen der allgemeinen Grundbedürfnisse benötigt wird (BSG, Urteil vom 16. April 1998, Aktenzeichen B 3 KR 9/97 R in SozR 3 – 2500 § 33 Nr. 27). Als allgemeine Grundbedürfnisse des täglichen Lebens grundsätzlich anerkannt sind die Ernährung, elementare Körperpflege, selbständiges Wohnen, Erschließung eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums sowie hinreichende Kommunikation (vergleiche Höfler in Kassler Kommentar, § 33 SGB V Rn 12 m.w.N.), welche die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben umfasst (BSG, Urteil vom 7. März 1990, Aktenzeichen 3 RK 15/89 in BSGE 66, 245, 246) ... Dazu gehört nicht nur die direkte Kommunikation mit anderen Menschen, sondern auch die Informationsbeschaffung und die Kommunikation mittels eines Telefons (vergleiche zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums auch BSG, Urteil vom 24. Mai 2006, B 3 KR 16/05 R m.w.N.).

So stellt ein Schreibtelefon für Gehörlose zur Vermeidung von Vereinsamung in notwendigem Umfang ein Hilfsmittel dar (BSG, SozR 3 – 2500 § 33 Nr. 5), ebenso wie eine Klingelleuchte ( BSG, SozR 2200 § 182 b Nr. 33 ).

Dabei wird die Abgrenzung, für welche behinderungsbedingten Folgen als zu den elementaren Grundbedürfnissen zählend die gesetzliche Krankenversicherung aufzukommen hat, angesichts voranschreitender technischer Möglichkeiten und auch gewandelter gesellschaftlicher Vorstellungen über einen elementar notwendigen räumlichen und sozialen Bewegungsdrang immer schwierig bleiben ( Peters-Lange, Anmerkung zum Urteil des BSG v. 19.4.2007 B 3 KR 9/06 R in SGb 2007, 114 ff ).

Ob eine bestimmte Betätigung als kommunikatives Grundbedürfnis anzusehen ist, hat der 8. Senat des Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 22. Mai 1984 Aktenzeichen 8 RK 33/83 an der tatsächlichen Verbreitung des jeweiligen Kommunikationsweges bemessen. Er hat ausgeführt, dass die Versorgung mit einem Schwerhörigentelefon nur dann erforderlich wäre, wenn die Benutzung des Telefons den allgemeinen Lebensbetätigungen zuzurechnen wäre. Dies hat der 8. Senat seinerzeit verneint. Seitdem haben sich die Verhältnisse jedoch grundlegend – nicht zuletzt durch die Einführung des Mobiltelefons – geändert.

Mittlerweile gehört nach der ständigen Rechtsprechung zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens neben dem Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen auch das Hören (vergleiche BSG, Urteil vom 29. April 2010, Aktenzeichen B 3 KR 5/09 R in SozR4- 2500 § 33 Nr. 30), sodass ein schwerhöriger Versicherter gegen seine Krankenkasse einen Anspruch auf Versorgung mit einer Lichtsignalanlage (Klingelleuchte) als Hilfsmittel der GKV haben kann (BSG, am angegebenen Ort). Die Beklagte geht insoweit fehl, wenn sie einwendet, das Telefonieren gehöre nicht zu den allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens.

Dennoch besteht kein Anspruch auf die Versorgung mit einem Schwerhörigentelefon. Denn es handelt sich bei diesem um einen allgemeinen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Ein solcher ist anzunehmen, wenn ein Gegenstand von der Konzeption her nicht vorwiegend für Kranke und Behinderte konzipiert wurde. Nicht ausschlaggebend dabei ist, ob der Gegenstand aus Vermarktungsgründen als medizinisches Hilfsmittel beworben wird. Was regelmäßig auch von Gesunden benutzt wird, fällt nicht in die Leistungspflicht der Krankenkassen, wobei es auf einen bestimmten prozentual messbaren Verbreitungsgrad in der Bevölkerung oder einen Mindestpreis nicht ankommt (BSG, SozR3-2500, § 33 Nr. 33 zum Luftreinhaltungsgerät II). Das von der Versicherten begehrte Telefon zeichnet sich, ebenso wie vergleichbare Geräte dadurch aus, dass die Lautstärke im Hörerlautsprecher verstärkt werden kann. Derartige Telefone werden in großer Zahl als Seniorentelefone angeboten und sind mithin nicht ausdrücklich nur für Behinderte und Kranke geeignet.

Daneben ist für die Einordnung des Produkts als Hilfsmittel zu berücksichtigen, ob dieses im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt sind, auch wenn daraus nicht bereits ein Anspruch entsteht oder umgekehrt wegen Nichtaufnahme ausgeschlossen ist. Ein Telefon mit Lautstärkeanpassung ist im Hilfsmittelverzeichnis nicht aufgeführt. Zwar hat die Versicherte einen Kostenvoranschlag der Firma vorgelegt, das die Produktgruppennummer 16.99,09.0900 enthält, diese Bezeichnung dürfte jedoch nicht zutreffend sein. Zwar sind im Hilfsmittelverzeichnis unter 16.99 "Kommunikationshilfen ohne speziellen Anwendungsort" aufgeführt, die weitere Bezeichnung 09.0900 betrifft jedoch "Signalanlagen für Gehörlose" und hierbei konkret "Signalsender". Um ein derartiges Hilfsmittel handelt es sich vorliegend jedoch nicht.

Es bleibt also festzuhalten, dass zwar das Telefonieren als allgemeines Grundbedürfnis anerkannt ist, die Übernahme der Kosten für ein Telefon mit Lautstärkeanpassung ist jedoch deshalb nicht möglich, weil es sich bei derartigen Telefonen um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt, die gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz ausgeschlossen sind.

Besteht aber kein Anspruch der Versicherten auf die Übernahme der Kosten des Hilfsmittels, so geht auch der Erstattungsanspruch des Klägers in die Leere. Die Klage war deshalb abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes richtet sich nach § 52 Abs. 1 GKG, wobei Zinsen als Nebenforderungen bei der Festsetzung nicht berücksichtigt werden können (§ 43 Abs. 1 GKG).

Die Kammer hat keine Anhaltspunkte dafür zu sehen vermocht, die nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG unzulässige Berufung nach § 144 ABs 2 SGG zuzulassen.

Der Vorsitzende der 1. Kammer gez. Direktor des Sozialgerichts
Rechtskraft
Aus
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