L 32 AS 2074/13 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 104 AS 11895/13 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 2074/13 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juli 2013 geändert. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung auferlegt, der Antragstellerin für die Zeit vom 5. Juli 2013 bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens bis zum 30. September 2013 Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich 382,00 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin deren außergerichtliche Kosten zu sieben Zehnteln zu erstatten. Der Antragstellerin wird auch für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung oder Beiträge aus dem Vermögen unter Beiordnung von Rechtsanwalt A L bewilligt.

Gründe:

I

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes von der Antragsgegnerin die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II.

Die 1965 geborene Antragstellerin bezog von der Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. November 2012 bis 31. März 2013 Arbeitslosengeld II (Bescheid vom 19.12.2012), nachdem sie der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 4. Dezember 2012 mitgeteilt hatte, sich von ihrem bisherigen Lebensgefährten getrennt zu haben und in der Wohnung bei diesem im Wohnzimmer auf der Couch schlafe. Ab Januar 2013 gewährte die Beklagte monatliche Leistung in Höhe von 560,66 EUR (382 EUR Regelbedarf + 178,66 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung). Aus dem Untermietvertrag vom 1. November 2012 ergibt sich für die Antragstellerin eine Gesamtmiete von 151,16 EUR zzgl 27,50 EUR Heizung.

Am 6. März 2013 beantragte die Antragstellerin die Weiterbewilligung der Leistung. Änderungen hätten sich nicht ergeben, Einkommen werde nicht bezogen. Mit Schreiben vom 12. März 2013 forderte die Antragsgegnerin die Antragstellerin auf, für den früheren Lebensgefährten die Anlagen WEP, EK und VM ausgefüllt und unterschrieben, sowie Kopien des Personalausweises, der Krankenkassenkarte und des Sozialversicherungsausweises sowie die Kontoauszüge der letzten drei Monate vorzulegen. Die Antragstellerin teilte der Antragsgegnerin mit, dass ihr ehemaliger Lebensgefährte nicht gewillt sei, ihr oder der Antragsgegnerin seine Daten zu offenbaren. Sie sei auf der Suche nach einer Wohnung. Leider sei es sehr schwierig, da sie in der Schufa stehe.

Die Antragsgegnerin erließ den "Versagungs-Entziehungsbescheid" vom 20. März 2013, mit welchem Leistungen ab 1. April 2013 ganz versagt würden, weil die angeforderten Unterlagen trotz Belehrung über die Rechtsfolgen nicht vorgelegt worden seien. Die Antragstellerin habe dadurch ihre Mitwirkungspflichten verletzt. Die Antragsgegnerin habe von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht. Gegen den Bescheid legte die Antragstellerin mit Schreiben vom 11. April 2013 am 12. April 2013 Widerspruch ein, über den noch nicht abschließend entschieden ist.

Die Antragstellerin hat am 10. Mai 2013 das Sozialgericht Berlin um einstweiligen Rechtsschutz ersucht. Ihre Finanzmittel seien erschöpft. Sie sei nicht in der Lage, ihr wirtschaftliches Existenzminimum zu sichern. Der Versagungsbescheid sei in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig. Neben formellen Fehlern habe eine Mitwirkungspflicht der Antragsgegnerin zur Verschaffung der von der Antragsgegnerin gewünschten Unterlagen nicht bestanden.

Die Antragstellerin hat beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin ab dem Tag der gerichtlichen Entscheidung längstens bis zu einer Entscheidung der Hauptsache Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den gesetzlichen Maßgaben im Sinne der §§ 19 ff. SGB II – hilfsweise in Höhe von 85 % - zu bewilligen und auszuzahlen.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Ein Leistungsanspruch sei nicht ersichtlich. Der Vortrag der Trennung bzw zum Nichtvorliegen einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft sei nicht glaubhaft. Die Antragstellerin sei seit ihrem Einzug bei deren damaligen Lebensgefährten von diesem finanziell unterstützt worden. Als Grund der Trennung seien fehlendes Einkommens der Antragstellerin und die fehlende Krankenversicherung angegeben worden. Der Untermietvertrag berechtige zur Mitbenutzung der gesamten Wohnung; es gebe keine konkrete Raumaufteilung nach Personen. Vor dem Hintergrund der gesetzlichen Vermutung des § 7 Abs 3a Nr 1 SGB II gehe die Antragsgegnerin vom Vorliegen einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft aus. Anderes sei nicht glaubhaft gemacht. Daher ließe sich eine Hilfebedürftigkeit nicht feststellen.

Das Sozialgericht Berlin hat mit Beschluss vom 5. Juli 2013 den Antrag dahin gehend ausgelegt, dass die Antragstellerin Zahlung in bisheriger Höhe, also 560,66 EUR, begehre und dem so verstandenen Anliegen der Antragstellerin für den Zeitraum vom 5. Juli bis 30. September 2013 vollumfänglich stattgegeben. Eine vollständige Aufklärung der materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von ALG II nach den §§ 7 ff. SGB II sei der Kammer zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Aufgrund des schriftsätzlichen Vorbringens der Antragstellerin sowie aufgrund des Inhalts der Leistungsakte erscheine der Kammer das Vorliegen der Voraussetzungen für den Bezug von ALG II aber jedenfalls möglich. Sei dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so sei nach der Rechtsprechung des BVerfG anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, die die grundrechtlichen Belange berücksichtige. Nach summarischer Prüfung aufgrund der Aktenlage sowie des Vorbringens der Beteiligten sei es für die Kammer nicht erkennbar, dass die Antragstellerin in dem Zeitraum vom 5. Juli 2013 bis zum 30. September 2013 über finanzielle Mittel verfüge, die ein menschenwürdiges Dasein gewährleisteten.

Es gebe gute Gründe für das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen des von der Antragstellerin geltend gemachten Anspruchs. So sei schon zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für die Vermutungsregelung des § 7 Abs. 3 a Nr. 1 SGB II vorliegen würden. Ein Zusammenleben in diesem Sinne setze einen gemeinsamen Haushalt voraus. Vorausgesetzt werde zumindest das Vorliegen einer Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Hieran bestünden jedoch Zweifel, weil sich in der Leistungsakte zwei Erklärungen der Antragstellerin befinden würden, wonach sich diese bereits im November 2012 von ihrem Lebensgefährten getrennt habe. Dies wird auch in einer weiteren Erklärung von diesem bestätigt. Bei dieser Sachlage müsse es zunächst weiteren Ermittlungen des Beklagten vorbehalten bleiben zu prüfen, ob zwischen der Antragstellerin und ihrem früheren Lebensgefährten tatsächlich eine Einstehensgemeinschaft vorliege. Allein die gute Möglichkeit, dass dem hier nicht so sei, die Antragstellerin damit auch keinerlei finanzielle Unterstützung durch den Partner erfahre und damit keinerlei finanzielle Mittel zur Aufrechterhaltung ihres Existenzminimums erhalte, rechtfertige im Rahmen dieser Interessenabwägung den Erlass der erstrebten einstweiligen Anordnung. Dem geltend gemachten Anspruch stehe der Versagungsbescheid vom 20. März 2013 nicht entgegen, denn der Widerspruch der Antragstellerin vom 11. April 2013 gegen den Versagungsbescheid vom 20. März 2013 entfalte gemäß § 86 a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung.

Die Antragsgegnerin wendet sich gegen diesen Beschluss mit ihrer Beschwerde vom 5. August 2013. Der Beschluss sei materiell-rechtlich fehlerhaft und die Anordnung stelle eine ungerechtfertigte Beschwer der Antragsgegnerin dar. Die Antragstellerin mache keine Angaben, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreite, obwohl sie von ihrem Partner schon seit November 2012 getrennt sein wolle. Die Erklärungen der beiden stellten ausschließlich Schutzbehauptungen dar. Ein Nachweis für die Nutzung der Wohnräume, der die Vereinbarung im Untermietvertrag entkräfte, fehle. Auch bei der Angabe von Bemühungen um eine neue Wohnung handele es sich um eine Schutzbehauptung, weil nur für einen Tag Unterlagen vorgelegt worden seien und der Schufa-Eintrag durch Zusicherung der Mietzahlungen durch einen öffentlichen Träger ausgeglichen werden könne.

Die Antragsgegnerin beantragt in der Sache,

1. den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juli 2013 aufzuheben, 2. den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen, 3. die Vollstreckung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 5. Juli 2013 einstweilen auszusetzen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte Bezug genommen, die dem Senat bei seiner Entscheidung vorgelegen haben.

II

Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat im Sinne einer Reduzierung des Umfangs der vorläufigen Leistung Erfolg. Die Antragstellerin konnte im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Zahlung von Grundsicherungsleistungen in Höhe des Regelbedarfs, jedoch nicht auch der Deckung ihres Unterkunftsbedarfs verlangen.

Weil die Antragstellerin eine Änderung des bestehenden Zustandes verlangt hat, ist die Entscheidung auf der Grundlage von § 86b Abs 2 Satz 2 SGG zu treffen. Danach kann das Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Nach zutreffender ständiger Rechtsprechung erscheint die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig, wenn die Rechtsverfolgung erhebliche Erfolgsaussicht hat (Anordnungsanspruch) und bei Abwägung der Interessen der Beteiligten die Interessen des Antragstellers an der vorläufigen Regelung diejenigen der anderen Beteiligten überwiegen und für ihre Realisierung ohne die Regelung erhebliche Gefahren drohen, also ein besonderer Eilbedarf für eine Entscheidung besteht und die besondere Eile rechtfertigt (Anordnungsgrund). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes verlangt grundsätzlich die Möglichkeit eines Eilverfahrens, wenn ohne sie dem Betroffenen eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, RdNr 23 mwN). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, RdNr 26 mwN). Eine solche verlangt, die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn die begehrte Anordnung nicht erginge, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren aber obsiegen würde, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die Anordnung erlassen würde, der Rechtsschutzsuchende im Hauptsacheverfahren indes keinen Erfolg hätte. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern (BVerfG ebd).

Aus einer derartigen Folgenabwägung ergibt sich im Falle der Antragstellerin die Notwendigkeit der vom Sozialgericht verfügten Anordnung hinsichtlich des Regelbedarfs. Eine vollständige Aufklärung der materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach den §§ 7 ff. SGB II ist im Rahmen des Eilverfahrens nicht möglich. Insbesondere ist offen, inwieweit wegen eines Bestehens einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft mit dem bisherigen Lebensgefährten und dessen Einkommens- und Vermögenssituation Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin im Sinne von §§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr. 3 und 9 Abs 2 SGB II besteht. Aufgrund des schriftsätzlichen Vorbringens der Antragstellerin sowie des Inhalts der Leistungsakte erscheint das Vorliegen der Voraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosengeld II aber durchaus als möglich, auch wenn die Argumente der Antragsgegnerin für das Bestehen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft durchaus nachvollziehbar erscheinen. Hier sind weitere Beweiserhebungen erforderlich, die im Eilverfahren nicht im erforderlichen Umfang vorgenommen werden können und deren Ergebnis nicht vorweggenommen werden darf. Dabei ist zunächst die von der Antragsgegnerin im Zweifel durch die Antragsgegnerin zu beweisende Voraussetzung für die Vermutungsregelung des § 7 Abs 3a SGB II, dass eine Haushaltsgemeinschaft vorliegen muss, im Rahmen der Amtsermittlung aufzuklären. Sodann sind die näheren Umstände aufzuklären, die für eine Einstehens- und

Verantwortungsgemeinschaft sprechen können oder eben dagegen, zu ermitteln, um den Eintritt der Rechtsfolge der gesetzlichen Vermutung beurteilen zu können. Dies kann im Eilverfahren, zumal für den hier streitigen Zeitraum, nicht zeitnah geleistet werden. Unterstellt, die Beweiserhebung ergäbe keine eheähnliche Lebensgemeinschaft, wären die weiteren Voraussetzungen nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II für den Leistungsanspruch, also insbesondere auch Hilfebedürftigkeit und Erwerbsfähigkeit, erfüllt.

Die Folgenabwägung führt hier zu der vom Sozialgericht getroffenen Anordnung hinsichtlich der Gewährung des Regelbedarfs, weil dem Grundrecht der Antragstellerin auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums bei deren aktueller Mittellosigkeit nur fiskalische Interessen der Antragsgegnerin gegenüberstehen. Ohne die Anordnung würde die Realisierung des Grundrechts vereitelt.

Dem steht der Versagungsbescheid vom 20. März 2013 nicht entgegen. Aufgrund der aufschiebenden Wirkung des dagegen eingelegten Widerspruchs bindet er die Beteiligten und Gerichte nicht.

Die Höhe der vorläufigen Leistung ergibt sich aus dem zur Existenzsicherung gesetzlich vorgesehenen Regelbedarf von derzeit 382,00 EUR. Die Unterkunft der Antragstellerin erscheint derzeit gesichert, so dass im Rahmen des Eilverfahrens insoweit nichts zu veranlassen war. Jedenfalls hat die anwaltlich vertretene Antragstellerin keinerlei Umstände vorgetragen, die eine aktuelle Gefährdung ihrer Unterkunft begründen würden. Erst recht sind insoweit ein besonderer Eilbedarf und eine Grundrechtsgefährdung nicht glaubhaft gemacht. Die Befristung der Anordnung erscheint angemessen und ist nicht angefochten.

Der Antrag der Antragsgegnerin auf Aussetzung der Vollstreckung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin nach § 199 Abs 2 Satz 1 SGG ist durch diesen Beschluss erledigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den ganz überwiegenden Erfolg der Rechtsverfolgung durch die Antragstellerin. Prozesskostenhilfe war wegen der Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung und der prozessualen Bedürftigkeit der Antragstellerin auch für das Beschwerdeverfahren zu gewähren.

Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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